So 08-09-24 Finden verboten – streng verboten

Lob der Linie.

Reden wir über Normen. Und fassen wir uns kurz und beschränken uns zunächst auf soziale Normen. Unter Normen versteht man anerkannte und als verbindlich geltende Verhaltensregeln, die sich in einer Gesellschaft herausgebildet haben.

Dabei beruhen soziale Normen im Wesentlichen auf Werten (im Sinne von ›Allgemeines Für-richtig-halten‹). Die Werte wiederum sind, grob gesagt, Ausfluß der Sozialisation, die einer (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) erfahren hat. Spötter meinen ja, Sozialisation sei, wenn man so wird wie die Leute um einen herum – wobei wir nicht vergessen wollen, daß oft der Scherz das Loch ist, durch das die Wahrheit pfeift. Kurzum: Man hält sich in der Regel an soziale Normen, weil man sie verinnerlicht hat. Man handelt, um es mit Max Weber zu sagen, traditional, also aus eingelebter Gewohnheit bzw., in Bolles Sprache, aus der Mappa mundi vitiosa heraus (vgl. dazu etwa So 25-08-24 Denkmal zur Wahl). So pinkelt man, um nur ein Beispiel herauszugreifen, als zivilisierter Mitteleuropäer üblicherweise nicht einfach an den nächsten Baum – auch dann nicht, wenn man ganz dringend mal muß.

Auch kann es nicht schaden, sich klarzumachen, daß soziale Normen recht regional sind. Sie reichen gerade mal so weit wie die relevante Gruppe, deren Zusammenhalt sie dienen. So ist es etwa in Bayern völlig „normal“ (im Sinne von normgerecht), gleich zum zweiten Frühstück ein Bierchen zu trinken. Auf dem Wochenmarkt hier im Dörfchen mußte Bolle sich exaktemente deswegen aber schon mal anpampen lassen – allerdings nur von einem Zugereisten, versteht sich. Natürlich hat sich Bolle ganz köstlich amüsiert.

Welche Norm ist nun die „richtige“? Nun, es liegt im Wesen des allgemeinen Für-richtig-haltens, daß es hier kein „richtig“ gibt – und auch nicht geben kann. Wenn die Leute in Bayern ein Bierchen zum Frühstück trinken und das allgemein in Ordnung finden, dann ist das ebensowenig zu beanstanden, wie wenn das in der Herkunftsregion unseres Zugereisten eben nicht so ist.

Dumm wird es nur, wenn die Zugereisten meinen, daß das, was sie allgemein für richtig halten, bitteschön auch für alle anderen zu gelten habe. Mehr noch: wenn die Zugereisten meinen, daß diejenigen, die nicht ihren Vorstellungen entsprechen, deswegen (!) schlechte Menschen seien, und folglich (!) abgekanzelt gehören. Die Briten übrigens haben hierfür eine sehr schöne Wendung: When in Rome, do as the Romans do – Wenn Du in Rom bist, benimm dich, wie ein Römer sich benimmt.

Nun wird man einen einzelnen Zugereisten verschmerzen können. Richtig dumm wird es allerdings, wenn sich im Zuge überschäumender Globalisierung die Völkerscharen schneller durchmischen als die sozialen Normen auch nur ansatzweise hinterherkommen können. Dabei geht der Trend dahin, alles zu verbieten, was nicht das Zeug zu einer weltumspannenden sozialen Norm hat – was allerdings nicht zuletzt unserer Grundannahme widersprechen würde. Aber was kümmert das ein Glühwürmchen mit heißem Herzen und hinkendem Hirn. Schaut Euch um auf der Welt. Genau das ist es, was zur Zeit passiert. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Sa 13-02-21 Immer feste druff!

Immer feste druff.

Daß wir zwei Tage in Folge auf Friedrich von Schiller zurückgreifen, ist eher Zufall. Unser heutiges Zitat soll illustrieren, daß Vorfälle wie der folgende durchaus nicht neu sind – wenn auch die Häufigkeit besorgniserregend zunimmt. Was ist passiert? Yoshiro Mori, der Chef des Organisationskomitees der Olympischen Sommerspiele, die demnächst mit einem Jahr Verspätung in Tokyo stattfinden sollen, wurde gefeuert. Natürlich nicht wirklich gefeuert, of course. Japaner sind höflich – und so hat man sich auf einen „Rücktritt“ verständigt. Hintergrund: Ein einziger Satz. Yoshiro Mori hatte am Rande angemerkt, daß Sitzungen mit hoher Frauenbeteiligung sich oft unangenehm in die Länge zögen. Warum? Weil Frauen nun mal einen zeitaufwendigeren Kommunikationsstil pflegten. Man könnte auch sagen: Ein Mann, ein Wort. Eine Frau, ein Wörterbuch. Skandal! Voll die sexistische Entgleisung!

Kann man das so sehen? Natürlich. Muß man das so sehen? Natürlich nicht. Bolle meint: Entweder war das eine schlichte Meinungsäußerung. Dann ist sie durch Art. 5 I GG (bzw. das japanische Äquivalent dazu) gedeckt – falls wir die Angelegenheit überhaupt so hoch hängen wollen. Oder es war eine Tatsachenbehauptung. In diesem Falle wäre es einer Überprüfung zugänglich. Wozu gibt es Sitzungsprotokolle? Falls man sich geirrt haben sollte, nimmt man die Behauptung eben mit einem Ausdruck des Bedauerns zurück – und gut isset.

Aber so? Aufschrei der Straße – wobei sich die Straße 2.0 praktischerweise in den sozialen Medien befindet, man also nicht mal vor die Tür gehen muß, um sich gründlich zu empören. Demos 2.0 nennt Bolle das. Darauf folgt blitzeschnelle die massenmediale Verstärkung des Aufschreies. Skandal, Skandal! Dazu kommt regelmäßig immer gleich die Verhängung der Höchststrafe. Zwar hat niemand gefordert, daß Yoshiro Mori Harakiri (bzw. Seppuku) begehen soll – wir leben schließlich in vergleichsweise zivilisierten Zeiten. Aber die umstandslose Entfernung aus Amt und Würden ist heute eben die Höchststrafe 2.0.

Demokratische Legitimation des Demos 2.0? Fehlanzeige. Rechtsstaatliche Verhältnismäßigkeitsprüfung? Fehlanzeige. Abwägung Problemlösung (die Spiele wollen organisiert sein) vs. Pflege der Befindlichkeiten (Mimimi)? Fehlanzeige. Schon Aristoteles (384–322 v. Chr.) war übrigens klar, daß man es mit der Demokratie – sehr zum Schaden des Gemeinwesens, übrigens – durchaus auch übertreiben kann, und hat dabei ausdrücklich zwischen Politeia und Demokratie als zwei polaren Ausprägungen der Herrschaft der Vielen unterschieden. Aber das ist ja erst zweieinhalb tausend Jahre her – und wäre im übrigen auch schon wieder ein anderes Kapitel.

Mi 30-10-19 Wie kann das sein?

63% der Deutschen glauben, man müsse sehr aufpassen, wenn man seine Meinung öffentlich äußert.

Das ist der Aufmacher der ZEIT No 45 von heute. Das beste kommt dabei in der Kellerzeile: „Wie kann das sein?“ Bolle vermutet, daß die 37 restlichen Prozent entweder (1) gar keine Meinung haben – übrigens eine recht aparte Form von „Meinungsfreiheit“ –, (2) von Haus aus eher introvertierter Natur sind und ohnehin nie was sagen würden oder (3) sich in Chomsky’s „Korridor der erlaubten Meinungen“ sicher und geborgen fühlen (vgl. dazu auch »Fr 25-10-19 Besorgte Demokraten«). Genau so, liebe ZEIT, kann das sein. Im „Streitinterview“, einem neueren ZEIT-Format, gibt es auf Seite 12 folgendes zum Thema zu vernehmen:

„Sie haben eine Partei gegründet, die heute einen rechtsextremen Weg geht“

Die Aussage stammt von Katharina Fegebank, Wissenschaftssenatorin in Hamburg und Grüne, und richtet sich an ihren „Streitpartner“ Bernd Lucke, Gründer der AfD und gegenwärtig um den Wiedereintritt in die universitäre Umlaufbahn bemüht. Dabei wurden die ersten beiden Vorlesungsversuche von marodierenden Studenten niedergebrüllt und mußten abgebrochen werden. Bolle fragt sich: Was hat das alles mit „Meinungsfreiheit“ zu tun? Ein ordentlicher Professor an einer Hochschule sollte nicht meinen. Er sollte idealerweise wissen und dieses Wissen an seine Studenten weitergeben. Das ist der Job. Von daher ging es also weniger darum, was er weiß – und auch nicht darum, was er meint. Was dann? Es geht hier offenbar um das, was er seinerzeit, 2013, mit der Gründung der AfD getan hat. Früher nannte man so etwas „Lebensführungsschuld“. Verschärfend kommt hinzu, daß die gegenwärtige AfD mit der seinerzeit von Bernd Lucke gegründeten AfD außer dem Namen nicht mehr viel gemein hat. Das gleiche Muster kennen wir von der „SED / PDS / Die Linke“-Metamorphose. Immerhin hat es Die Linke mittlerweile geschafft, sich bei vielen – nicht allen – einen Platz innerhalb des zulässigen Meinungskorridores zu erobern. Eine ähnliche Metamorphose hatten seinerzeit übrigens auch die Grünen durchlaufen müssen – was der Sache eine gewisse Pikanterie verleiht. Kurzum: Solange wir es nicht fertigbringen, Wissen, Meinen, schlichtes Nicht-Wissen, Glauben und selbst schieres Tun auseinanderzuhalten, sieht es für die Sozialprognose dieser Gesellschaft nicht allzu günstig aus. Solange wir „Kampfbegriffe“ im Bestreben um mediale Aufmerksam so lange inflationieren, bis auch der sensibelste Zeitgenosse abgestumpft ist, solange wir jede Ablehnung (kognitiv) gleich zum „Hass“ (affektiv) hochjazzen und solange wir meinen, Fakt oder Fake stets sauber voneinander scheiden zu können – als läge die Wahrheit nicht allzu oft im Auge des Betrachters –  gilt selbiges. Aber das ist ein anderes Kapitel.