Wie das Leben so spielt, hatte Bolle dieser Tage rein umständehalber mit Schnullerflaschen zu tun – das erste mal seit einigen Jahrzehnten. Damals war die Welt noch „überschaubar“ – um es einmal in Hülsenfrüchtchens Terminologie zu fassen. Milch (oder was auch immer) in die Flasche, trinken – fertig. An sonderliche Probleme jedenfalls kann Bolle sich beim besten Willen nicht erinnern.
Heute dagegen – eine ellenlange Gebrauchsanleitung in nicht weniger als 30 Sprachen. Damit das alles auf den ohnehin schon mörderisch dimensionierten Beipackzettel paßt, hat der Hersteller eine Schriftgröße gewählt, an der Bolle sich seinerzeit glatt die Augen verdorben hätte. Im Wesentlichen heißt es dort, so eine Nuckelflasche sei ein durchaus gefährliches Ding. Man müsse höllisch aufpassen, daß Baby stets nur unter Aufsicht eines Erwachsenen mit der Flasche in Berührung komme. Das Glas könne splittern, auch könne sich Baby unter Umständen strangulieren oder aufgrund mangelnder Hygiene gar einen unbotmäßig frühen Tod erleiden. Folglich müsse man … et cetera bla, bla.
Nun – es dauerte nicht lange, bis Bolle sich der Terminus ›Schnullologie‹ hatte aufdrängen wollen. Einmal in der Welt, wurden Bolle stante pede die unabweisbaren Weiterungen bewußt. Wenn Baby sich so wild und gefährlich durch die ersten Wochen und Monate seines jungen Lebens kämpfen muß – stets „gefühlt“ bedroht von splitterndem Glas und üblen Keimen –, dann muß man sich nicht wundern, wenn aus Baby später eine rechte Bangbüchs wird – stets gewillt, sich helfen, retten, schützen zu lassen. Baby kann dann alles werden – nur kein Souverän. Unter „demokratietheoretischen“ (so das jüngste Modewort) Gesichtspunkten scheint Bolle das alles mehr als bedenklich.
Aber kann man die Schnullologie dermaßen hochhängen? Bolle meint, man kann. Durchaus. Nicht zuletzt bei Aldous Huxley heißt es ja: „Schöne neue Welt, die solche Bürger trägt!“ Eine solche Welt kann alles sein, nur – mangels souveränen Souveränen –, keine Demokratie.
Im übrigen gilt seit heute mal wieder die Sommerzeit. Was hatte man sich damals (1980) nicht alles davon versprochen? Energieersparnis ohne Ende – im Namen der Wissenschaft, of course. Heute, anderthalb Generationen später, weiß man, daß man eher nichts weiß – beziehungsweise noch immer nichts. Schnullologie, eben. Immerhin ist eines klar: Eine Dose ist eine Dose ist eine Dose (Bolle featuring Gertrude Stein). Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.
Manchmal, meint Bolle, kann es wirklich nicht schaden, auf die alten Meister zurückzugreifen. Etwa auf Kong Fu Tse – den ehrwürdigen Meister Kong. Meister Kong hatte seine Zeitgenossen mit seiner Antwort auf die Frage, was denn das Wichtigste sei, um den Staat in Ordnung zu bringen, seinerzeit schon – gelinde gesagt – irritiert.
Statt also – wie so manche Weltverbesserer der Gegenwart – zu sagen, wir bräuchten mehr Wachstum (oder mehr Klimaschutz oder mehr Kriegstüchtigkeit oder weniger Spaltung der Gesellschaft – oder mehr oder weniger was auch immer), schien ihm etwas so abstraktes wie klare Begriffe das wichtigste. Und davon auch nicht etwa „mehr“ – sondern überhaupt.
Wie? Das soll’s gewesen sein? Klare Begriffe – und alles wird gut? Natürlich nicht. Allein das hat Kong Fu Tse auch gar nicht gesagt. Ganz im Gegenteil. Gesagt hat er, daß ohne klare Begriffe alles immer schlimmer wird. Schaut man sich um auf der Welt, könnte man glatt geneigt sein, dem zuzustimmen.
Aus Bolles Sicht war der Durchmarsch des Gender-Gaga einer der ersten und dabei „nachhaltigsten“ Verstöße wider den Geist. Und – Bolle lieebt Selbstbezüglichkeiten – da geht es auch schon los. Definiere Nachhaltigkeit: ›Nachhaltig‹ ist etwas, das auf Dauer funktioniert. Komplizierter ist es an dieser Stelle eigentlich nicht. Auch dann nicht, wenn der Begriff mittlerweile dermaßen inflationär verwendet wird, daß einem regelrecht schwummrig werden kann. Übergeblieben ist ein leeres Loch, in das ein jeder (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) einfüllen kann, was immer ihm beliebt. Mit Klarheit im weitesten Sinne hat das nichts mehr zu tun. Im Gegenteil: Die Sprache – und damit das Denken und damit das Handeln – wird, falls Kong Fu Tse Recht haben sollte, einfach nur komplizierter. Die Klarheit bleibt dabei glatt auf der Strecke.
Bolle kann sich noch gut an den Moment erinnern, als ihm das heute übliche Wort ›Entwicklungszusammenarbeit‹ das erste mal zu Ohren kam. Was das? Es handelt sich hierbei, im besten konfuzianischen Sinne, um Entwicklungs-Hilfe. Zusammenarbeit gibt es nur unter Gleichen. Auch hat das nichts mit „Augenhöhe“ zu tun – noch so ein modischer Dussel-Denk-Begriff.
Und warum das Ganze? Die übliche Begründung lautet meist, man dürfe nicht auf den Gefühlen der Unterprivilegierten beziehungsweise der Schwächeren beziehungsweise der Minderheiten beziehungsweise der was auch immer herumtrampeln. Ein hehres Ziel – das sieht Bolle ein. Aber hat es auch was mit Klarheit zu tun? Natürlich nicht.
Wir wollen hier und heute nicht allzuweit ausholen. Nur so viel: Als Bolle noch Tertianer war, gab es direkt neben dem Pausenhof einen Kiosk – und an dem Kiosk gab es Mohrenköpfe. In der großen Pause konnte man sich, ohne zu hetzen, zu dem Kiosk begeben, für 50 Pfennige eine Tüte mit fünf Mohrenköpfen erstehen und selbige bei einem Rundgang um das Schulgebäude genüßlich verzehren. Pausenbrot nach Pennälerart. Daß Bolles Pausenbrot irgend etwas – und sei es auch nur im allerweitesten Sinne – mit der Diskriminierung von Mohren zu tun haben könnte, wäre Bolle nie in den Sinn gekommen. Allen anderen ebensowenig. Die hießen einfach so. Klare Sache, klarer Begriff.
Bolle plädiert an dieser Stelle ja für das gewohnheitsrechtlich gut bewährte Rechtsinstitut ›Alte Rechte‹. Wenn etwas seit Jahrhunderten so oder so genannt wurde, dann ist es durchaus und zumindest eine Frage wert, warum ein und dieselbe Sache plötzlich unter neuem Begriff firmieren soll. Um die Gefühle der Mohren nicht zu verletzen? Bolle findet das alles sehr, sehr windig. Könnte man von den Mohren nicht ein gewisses Maß an Eigenleistung erwarten? Namentlich also deutlich mehr Souveränität im Umgang mit Mohrenköpfen? Schließlich hat Bolle ja auch rein gar nichts dagegen, wenn ihn ein Chinese als Langnase bezeichnet, ein Schwarzer als Weißbrot oder etwa ein Türke als Kartoffel. Na und? Volkswitz, eben. Wenn aber das Volk klarer tickt als seine selbstempfundenen Eliten, dann sind der konfuzianischen Konfusion Tor und Tür geöffnet. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.
Der Problemlösungszirkel (PLZ) oder De arte solvendi.
Sie haben es tatsächlich getan. Of course, möchte man ergänzen. Sie haben – obwohl doch längst schon abgewählt – in den letzten Zügen ihrer Agonie dem Volke noch mal eben eine Phantastilliarde Sonderschulden aufs Auge gedrückt. Schulden, an denen die sprichwörtlichen kommenden Generationen noch ein ganzes Weilchen werden zu knabbern haben.
Damit das alles aber gleich viel freundlicher klingt, warten die gedungenen Sprachdesigner mit dem Begriff „Sondervermögen“ auf – einer Wortschöpfung, die eigentlich nur Sinn macht, wenn man ein entsprechendes kognitives Sondervermögen – dumm geboren, nichts dazugelernt, Rest vergessen – auf Seiten der Rezipienten unterstellt. Namentlich beim Journalismus 2.0 macht sich Bolle da nicht allzuviel Sorgen.
Macht das alles wenigstens Sinn? Aber Ja doch. Schließlich stehe demnächst mal wieder der Russe vor der Tür. Heute gehört ihm Rußland – und morgen die halbe Welt. Im übrigen müsse dringend das Klima gerettet werden und vor allem der Niedergang „unserer“ Demokratie. Sancta simplicitas!
Aber versuchen wir, uns Schritt für Schritt mit der dahinterstehenden Logik vertraut zu machen: Ist-Analyse: Wir haben zu wenig Geld. Ziel: Wir brauchen viel, gaanz viel Geld. Plan / Check der Mittel: Laßt uns ein tüchtiges Husarenstück auflegen. Das war wohl der Plan. Ein Check der Mittel erübrigt sich an dieser Stelle – schließlich ist die Akquisition der Phantastilliarden ja originärer Gegenstand des Problemlösungszirkels.
Das wirft natürlich mit Wucht die ›Ja, und nun‹-Frage auf. Phantastilliarden zu akquirieren ist die eine Sache. Was damit anfangen eine ganz andere. Da aber schweigt der Fürsten Törichtkeit. Die Details, so heißt es gut und gerne, seien natürlich noch zu klären, of course.
Geld allein macht nicht glücklich, wie der Volksmund weiß. Auch bringt Geld allein noch lange nichts zustande, wie Bolle zu ergänzen weiß. Ohne Geld ist es schwierig, irgend etwas zu bewirken, irgendein Ergebnis zu erzielen. Daraus folgt rein aussagenlogisch, daß, sofern einer was bewirkt hat, ein Mindesmaß an Mitteln im Spiel gewesen sein muß – vergleiche dazu ›Check der Mittel‹ in unserem Bildchen.
Daraus folgt aber nicht – und wirklich rein gar nicht – daß der Einsatz von Mitteln zu einem Ergebnis führen muß oder auch nur wird. In Bolles Kreisen notiert man derlei in etwa wie folgt:
Hier steht G für Geld beziehungsweise aktivierbare Ressourcen im weitesten Sinne, E steht für ein angestrebtes Ergebnis, „→“ für eine Implikation (wenn, dann) und das Häkchen schließlich steht für eine Verneinung. Mehr muß man dazu gar nicht wissen. Im Grunde also ist es mit Geld wie mit Beton: Es kommt drauf an, was man draus macht. Um aber was draus machen zu können, wäre es vielleicht keine dumme Idee, mit sich selber über die folgenden drei Punkte ins Reine zu kommen.
Erstens: Wie konnte es überhaupt zu den gegenwärtigen Zuständen kommen? Mit „zuwenig Geld“ würde sich Bolle nur ungern zufriedengeben wollen. Ob sich unter diesen Umständen mit „mehr Geld“ entscheidend was wird reißen lassen, bleibt daher eher fraglich.
Zweitens wäre es wohl hohe Zeit, endlich mal das Modewort „Investition“ begrifflich wieder auf den Teppich zu holen. Bei einer Investition handelt es sich herkömmlicher- und richtigerweise um eine Sachkapitalerhöhung (Anlagen, Maschinen, Werkzeuge, sowie wirtschaftlich wirksame Infrastruktur) mit der Absicht, die Arbeit leichter und vor allem schneller zu machen und so mehr Güter in kürzerer Zeit herstellen zu können. Zur Zeit aber ist es so, daß jede Verschleuderung von Geldmitteln als „Investition“ deklariert wird: Schleifchen drum. Merkt ja keiner. Wenn man lange genug – also zum Beispiel über Jahrzehnte – so verfährt, beantwortet sich unser erster Punkt praktisch von selbst: Wie konnte es so weit kommen? Die Antwort: Genau so! Beim Humankapital – doch das nur am Rande – gestalten sich die Verhältnisse noch sehr viel krasser: Klassenräume voller sekundärer Analphabeten, die lediglich tüchtig mit Tablets geflutet werden müßten – und alles werde sich zum Guten wenden. Weia!
Drittens schließlich sollte man sich darüber Rechenschaft ablegen, wo man überhaupt hinwill als Volkswirtschaft – oder gar als Land. Warum? Weil, wenn Du nicht weißt, wo Du hinwillst, mußt Du dich nicht wundern, wo Du ankommst. Darum. Das aber bedeutet zu gestalten – statt nur Probleme zu verwalten. Zu wissen, wo man hinwill, bedeutet übrigens zugleich, zu wissen, wo überall man eben nicht hinwill beziehungsweise zumindest nicht hin kann – weil es schlechterdings unmöglich beziehungsweise unsäglich dümmlich ist, auf jeder x-beliebigen Hochzeit weltweit tanzen zu wollen.
Bei allen dreien dieser Punkte aber hapert es derzeit aufs Heftigste. Mit weiteren Phantastilliarden wird sich das nicht lösen lassen. Als Kind schon war Bolle vertraut mit der höchst anschaulichen Wendung „Da ist der Wurm drin“. Was tun? Wurmkur oder Segel streichen? Beim gegenwärtig verfügbaren Polit-Personal – ganz überwiegend ohne jeden Hauch von Ritterehre – würde Bolle ganz unoptimistisch eher auf Segel streichen tippen. Für eine Wurmkur müßte es zunächst einmal so richtig rappeln im Karton. Aber wer weiß, wer weiß …?
The time has come, the Walrus said, To talk of many things: Of shoes – and ships – and sealing wax – Of cabbages – and kings – And why the sea is boiling hot – And whether pigs have wings.
So hat es Lewis Caroll in seinem ›Through the Looking-Glass‹ 1871 schon gefaßt. Eine Übersetzung wollen wir uns hier sparen, weil die Weisheit im Nonsense liegt. Wer es dennoch wissen will, möge unter Mo 04-01-21 Letzte Fragen – total so! nachschlagen. Das alles aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.
Zugegeben: Totgesagte leben länger. Gleichwohl kann sich Bolle des Eindruckes nicht erwehren, daß die Zustände in Deutschland und Europa doch ein wenig an die letzten Zuckungen der ehemaligen DDR erinnern. Da wird gerüttelt und geschüttelt, gelogen und geschroben, gebastelt und gehaspelt, daß sich die sprichwörtlichen Balken biegen. In einer lyrischen Version klänge das, einem alten Seemannslied folgend, in etwa so:
🎶 Das sind die Triebe der Psychosen Auf die Dauer, dummer Fratz Gibt’s dafür halt kein‘ Ersatz. Am Rand, da blühen die Hypnosen Und für jede, und für jede, und für jede gibt es Platz. 🎶
Wie sowas enden kann, wissen wir ja. Vor allem kann es sehr, sehr schnell gehen. Mit ein wenig glücklicher Fügung sprichwörtlich über Nacht. Erinnern wir uns nur an den seinerzeit völlig unvorbereiteten Günter Schabowski – Gott hab ihn selig – auf der Pressekonferenz im damaligen Ost-Berlin am 9. November 1989: „Nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ Und schwupps, da war die Mauer weg.
Was die jüngere Entwicklung angeht: So richtig deutlich – und eigentlich auch für schlichtere Gemüter erkenntlich – wurde die Arroganz der Macht spätestens mit der Corönchen-Hysterie in den Jahren 2020 bis 2022 (vgl. dazu etwa Sa 04-02-23 1000 Tage Dämlichkeit …). Allein, es finden sich nach wie vor Leute, die stramm und fest behaupten, Corönchen habe „Millionen Tote“ gefordert. Bolle sieht das so: Auf diesem Planeten tummeln sich zur Zeit etwa 8 Milliarden Menschen. Bei einer großzügig angenommenen weltweiten Lebenserwartung von 80 Jahren bedeutet das, daß jährlich, also Jahr für Jahr, 100 Millionen Tote zu beklagen sind. Ein Skandal, of course. Aber so geht nun mal Arithmetik. Was davon auf das Corönchen-Konto gehen mag, was schlichter Schnupfen mit Todesfolge gewesen sein mag und was sonstige Mortalitätsgegebenheiten, läßt sich seriöserweise rein gar nicht abschätzen. Für einen soliden Panikmodus im Volke reicht es allerdings allemal.
Das Dumme ist nur: Mit einem übermäßig bangbüchsigen Volk läßt sich kein Staat machen – und schon gar keine Demokratie (vergleiche dazu etwa Mi 21-12-22 Das einundzwanzigste Türchen …). Dort hatten wir gesagt, daß ohne ein gewisses Maß an Urteilsfähigkeit, ohne hinreichende Souveränität (im Sinne von einer gewissen Resistenz gegen Gruppendruck sowie einem gesunden Mißtrauen gegenüber aufgeblasenen Autoritäten) und ohne eine grundsätzliche Freiheit von Bangbüchsigkeit von einem ›Souverän‹ wohl kaum die Rede sein kann.
Und kaum war mit Corönchen kein Staat mehr und vor allem auch keine Sensation mehr zu machen, ging es 2022 nahtlos mit der Ukraine weiter. Mittlerweile haben sich die selbstgefühlten „Eliten“ hier in einen „Whatever-it-takes“-Modus reingesteigert – was nichts anderes meinen kann als die kontemporäre Variante von Goebbels Totalem Krieg. Roger Köppel, der große Journalist der kleinen schweizer Zeitung, nennt das durchaus zutreffend eine regelrechte „Feindbild-Psychose“.
Indes hat Bolle den Eindruck, daß diejenigen, die sich selber gerne als „Elite“ titulieren lassen, durchaus was gelernt haben: Laß den Leuten zunächst tüchtig die Muffe sausen und rede ihnen dann ein, die Rettung in Form der Regierung sei nah – und schon werden sie euch zumindest mehrheitlich willig folgen.
Das kann natürlich, falls der Prozeß sich ungebremst fortsetzt, leicht ins Absurde lappen beziehungsweise gar kippen. Mittlerweile sind wir, in Deutschland und Europa, soweit, nicht nur den Russen, sondern gleichzeitig auch den Yanks (und möglichst auch noch den Chinesen) meinen die Stirn bieten zu müssen: Alles Schlampen – außer Mutti. In Bolles Grundschulzeit gab es dafür die stehende Wendung: Haste wohl Kaba gesoffen? (Für alle, die sich nicht erinnern können: Die Werbung für Kaba, ein kakaohaltiges Getränk, hatte seinerzeit eine ähnliche Stoßrichtung wie heutzutage mancher Energy-Drink).
Im Grunde – so Bolles Vermutung – haben wir es hier im weiteren Sinne mit einer Form von Pfadabhängigkeit zu tun: Das, was einer für die weitere Vorgehensweise für richtig hält, hängt schwer von der bisherigen Vorgehensweise ab – und zwar völlig unabhängig davon, ob die bisherige Vorgehensweise in einem wie auch immer verstandenen Sinne „richtig“ war oder nicht. Und damit wären wir bei Goethes Knopfloch-Theorem:
Wer das erste Knopfloch verfehlt, kommt mit dem Zuknöpfen nicht zurande.
Aber träumen wird man ja wohl dürfen. Das Volk verschrecken ebenfalls. Die Einsicht, daß man mit dem Zuknöpfen in der Tat und ganz, ganz wirklich nicht zurande kommt, darf man sich dann bis ganz zum Schluß aufsparen. Themen wie Klima und so weiter gehen in der allgemeinen Krisen-Kakophonie übrigens glatt unter. An was alles soll man denn noch denken müssen? Sowas sprengt glatt Hülsenfrüchtchens Horizont. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.
Roger Köppel, der große Journalist einer kleinen schweizerischen Wochenzeitung, kommentiert in seiner ›Weltwoche Daily‹ beziehungsweise aus seinem ›Institut für fortgeschrittene Gegenwartskunde‹ das Weltgeschehen mit bemerkenswerter Beständigkeit jeden Morgen, fünf Tage die Woche, in aller Herrgottsfrühe und im Doppelpäck (es gibt eine schweizerische und, jeweils gleich im Anschluß, eine internationale Ausgabe). Motto: „unabhängig, kritisch, gutgelaunt“.
Bei gegebenem Anlaß kann er allerdings auch schon mal sehr deutliche Worte finden. So heißt es in seinem Beitrag vom letzten Freitag gleich zu Beginn: „Die Erwachsenen sind zurück. Donald Trump betritt die Bühne. Und auf einmal ist alles ganz anders als das, was man Ihnen in den letzten drei Jahren einzureden versuchte.“
Es ist wohl noch zu früh abzuschätzen, wohin das alles führen mag. Manche aber wittern jetzt schon Frühlingsluft. Bolle meint, man muß schon ziemlich stumpf sein, um den Mehltau nicht zu merken, der sich in den letzten Jahren über Deutschland, Europa und weite Teile der Welt gelegt hat. Spötter paraphrasieren das ja gerne wie folgt:
Eine Lösung der Probleme? Leider rein rechtlich nicht möglich.
Dann ändert halt das Recht, Ihr Deppen! Geht nicht? Natürlich nicht. Darauf hat man ja, wie’s scheint, viele Jahre lang mit einigem Fleiß hingewirkt – vielleicht nicht mit voller Absicht, aber vom Ergebnis her schon. Irgendein Recht, gerne und vor allem auch EU-Recht oder gar Völkerrecht – jeweils in einer mehr oder weniger aparten und dem eigenen Beharrungs-Interesse dienlichen Auslegung –, macht es schlechterdings unmöglich, irgend etwas anzupacken oder gar zu ändern.
Und so will es Bolle scheinen, daß den Mehltau abzustreifen ein veritabler Job für Superhelden sein dürfte – eine Mischung aus Herkules‘ Aufräumarbeiten im Augiasstall und Alexanders Gordischem Knoten. Mit rein sozialisationsbedingt doch eher recht abgehalfterten, in der politischen Wolle gefärbten Partei-Apparatschiks wird da wenig auszurichten sein. Bolle wäre wohl der letzte, der die Yanks vorbehaltslos klasse findet. Eines aber muß man ihnen lassen: Als Volk sind sie spektakulär pragmatisch. Sie probieren was aus – und wenn’s nicht funktioniert, probieren sie halt was anderes. Wenn‘s sein muß, wählen sie auch Trump. Und tun dabei so, als wär nichts gewesen. Namentlich gegen Mehltau ist das wohl nicht das schlechteste Rezept.
Nächsten Sonntag übrigens sind Wahlen. Bolle meint: Wählt weise – zumindest aber wohlbedacht. Und laßt Euch bloß nicht kirre machen. Bolle hat natürlich gut reden. Soweit wir wissen, war er als Kind schon ausgesprochen gruppendruck-resistent. Man kann ihm hundertmal sagen, dieser oder jener (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) sei pöse, pöse, pöse oder, je nachdem, voll lieb und ganz doll fürsorglich. Die Worte hört er wohl – allein ihm fehlt der Glaube. Auch ist steter Tropfen das letzte, was ihm imponiert. Und so perlt derlei an ihm ab wie klare Kloßbrühe am Lotus. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.
Alle reden von Integration. Alle? Natürlich nicht. Bolle etwa hat da so seine Zweifel.
Der erste Punkt – wie so oft: Definiere ›Integration‹. John W. Berry, ein kanadischer Sozialpsychologe, hatte dazu 1970 schon sein Konzept des ›Acculturative Stress‹ vorgestellt. Dabei hat er mögliche Ausprägungen in einer 4-Felder-Tafel mit den Dimensionen ›Ist es wünschenswert, daß die Zugereisten ihre kulturelle Identität bewahren?‹ und ›Ist es wünschenswert, daß die Einheimischen Kontakt zu den Zugereisten herstellen bzw. halten?‹ dichotomisiert.
Dabei hat er den Fall Ja/Ja – also ›Die Zugezogenen sollen ihre kulturelle Identität bewahren‹ und ›Die Einheimischen sollen Kontakt zu ihnen herstellen bzw. halten‹ als ›Integration‹ bezeichnet. Und nur das.
Kontakt zu halten, während die Zugereisten ihre kulturelle Identität aufgeben, hat er ›Assimilation‹ genannt. Wir kennen das von den Borg aus StarTrek: „Sie werden assimiliert. Widerstand ist zwecklos.“ Auch das ist eine Form der Akkulturation, of course.
Daneben gibt es noch die ›Separation‹ mit der Botschaft: „Du darfst so bleiben wie Du bist – allerdings wollen wir nichts mit Dir zu tun haben“ und, last but not least, die ›Marginalisation‹: „Paß Dich gefälligst an. Zu tun haben mit Dir wollen wir trotzdem nichts.“
Und? Wie sieht’s in der real existierenden Wirklichkeit aus?
Nachdem Deutschland – gemeint ist natürlich die vom Volk inaugurierte Polit-Prominenz – jahrzehntelang mit sich gehadert hatte, ob D denn nun ein „Einwanderungsland“ sei oder nicht, hat sich, so zumindest will es Bolle scheinen, die Jellinek’sche normative Kraft des Faktischen (vgl. dazu Mo 09-12-24 Das 9. Türchen: Wenn die Waffen sprechen, schweigen die Gesetze) Bahn gebrochen – wie immer, wenn man handelt (oder gewähren läßt), ohne einen Plan im engeren Sinne zu haben.
In den 1960er Jahren wurden die damals für das Wirtschaftswunder in der Tat dringend benötigten Hilfskräfte – von Facharbeitern zu sprechen, wäre wohl durchaus übertrieben – noch verschämt oder vielleicht auch naiv als „Gastarbeiter“ bezeichnet. Gäste zum Arbeiten einzuladen fand Bolle damals schon zumindest sprachlich schief. Wie sich sehr schnell zeigen sollte, war es durchaus auch inhaltlich schief.
So richtig gerappelt im Karton hat es dann aber erst in jüngerer Zeit, nämlich 2015, als es hieß, was und wie auch immer, wir würden das schon schaffen. Deutschland sei schließlich … bla, bla, bla. Besonnenere – und wohl auch durchaus klügere – Ganz-Fast-Zeitgenossen wie etwa Peter Scholl-Latour (1924–2014), die meinten, wer halb Kalkutta aufnehme, werde nicht etwa Kalkutta retten, sondern selber zu Kalkutta werden, wurden dabei verlacht, verspottet und verhöhnt – zumindest aber blieben sie ungehört.
Während sich die gewählten Vertreter des Deutschen Volkes – sonst immer bei jeder popeligen Kleinigkeit auf das Ansehen des „Hohen Hauses“ bedacht – dieser Tage in aller Welt-Öffentlichkeit der Lächerlichkeit preisgeben, brillieren Teile der Polit-Prominenz mit vielsagenden Buchtiteln wie etwa ›Mein Bach‹ oder ›Freizeit‹ – oder so ähnlich. Ist Deutschland also am sprichwörtlichen Arsch? Fast könnte es einem so scheinen. Allein: Bolle mit seinem agnostischen Optimismus will nicht mal an das Verderben glauben. Schließlich habe sich Deutschland schon öfters mal aus der sprichwörtlichen Scheiße rausgeritten. Daß sich die Deutschen jedesmal vorher überhaupt erst reingeritten hatten, ist natürlich Teil der Wahrheit – und soll hier nicht geleugnet werden.
Im übrigen läßt sich Berrys Modell recht gut mit Harris‘ ›Ich bin o.k. – Du bist o.k.‹ (1976) verknubbeln – vergleiche dazu den kleingedruckten Text in den vier Feldern. Dabei zeigt sich, wenn man es zu Ende modelliert, sehr leicht und recht mühelos, was von alledem funktionieren könnte – und was never ever. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.
Zuerst hatte Bolle sich ja gefragt, ob wir – nach 24 virtuellen Adventskalender-Türchen – noch einmal mit einem weihnachtlichen Motiv daherkommen sollen. Schließlich – so hatten wir es selbst verkündet – endet die Weihnachtszeit definitiv am 6. Januar mit dem Epiphaniasfest bei den Protestanten bzw. den Heiligen Drei Königen bei den Katholiken (vgl. dazu Mi 04-12-24 Das 4. Türchen: Keine Zeit für Weihnachtszeit?). Allein: man lernt nie aus. Bis vor gar nicht allzu langer Zeit nämlich – genau genommen bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) – währte die Weihnachtszeit noch fast einen Monat länger, und zwar bis Mariä Lichtmeß am 2. Februar. So lange durften demnach auch Christbäume die heimischen Wohnzimmer erhellen. Nach Bolles Rechnung hätten wir es demnach mit vollen drei Monaten Weihnachtszeit zu tun (31. Oktober bis 2. Februar). Womögliche Winterdepressionen ließen sich somit allein auf den Monat Februar begrenzen. Am 1. März nämlich ist bei Bolle – und zwar völlig unabhängig von der Wetterlage – definitionsgemäß Früühlingsanfang. In einigen Gegenden, wo die Sonne der Kultur etwas niedriger steht, ist von Mariä Lichtmeß übrigens immerhin der Mumeltiertag übergeblieben (vgl. dazu etwa den einschlägigen Film (USA 1993 / mit Bill Murray als Phil Connors und Andie MacDowell als Rita / Regie: Harold Ramis).
Aber brauchen wir überhaupt eine Begründung? Natürlich nicht. Unser Bildchen zeigt Gerald Grosz, einen ehemaligen österreichischen Spitzenpolitiker, wie er mit unverstellter, geradezu kindlicher Freude unterm Weihnachtsbaum die jüngsten Ereignisse bei unserem südlichen Nachbarn kommentiert: „Die Ampel ist in die Luft geflogen.“ – „Der fortgesetzte Demokratiebruch, die fortgesetzte Ausgrenzung der österreichischen Wählerinnen und Wähler hat ein Ende gefunden.“
Bolle meint: Manchmal – und gar nicht mal so selten – haben die Ösis schlechterdings die Nase vorn. Oder einfach Glück. Tu felix Austria, eben – oh glückliches Österreich.
Hierzulande dagegen gestalten sich die Dinge sehr viel beharrlicher. Zwar ist auch hier die Ampel in die Luft geflogen – nachdem die Fliehkräfte einfach zuu stark wurden (was immerhin 3½ Jahre gedauert hat). Allein: der fortgesetzten Ausgrenzung der undemokratischen Wähler (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) könnte das durchaus sogar noch Vorschub leisten.
Werfen wir einen Blick auf die Zahlen – und fassen wir uns dabei kurz. Laut Polit-Barometer ergibt sich für Deutschland derzeit das folgende Bild:
Sonntagsfrage.
Wenn wir davon ausgehen, daß das alles halbwegs stimmt, und wenn wir davon ausgehen, daß es die drei 4%-Parteien tatsächlich nicht in den Bundestag schaffen werden, dann ergäbe sich nach Bereinigung der Daten folgendes:
So sieht’s demnach aus.
Die Graphik zeigt – in alphabetischer Reihenfolge im Uhrzeigersinn – die sich daraus ergebende prozentuale Stimmenverteilung: AfD 26 Prozent, CDU/CSU 38 Prozent, Grüne 19 Prozent und schließlich noch SPD mit 18 Prozent. Eine echte Flurbereinigung, also. Die Kleineren wären weg vom Fenster, die Größeren verleiben sich deren Anteile ein.
Damit ergeben sich zwei grundsätzliche Deutungsmuster: Einerseits würde das – wie sollen wir sagen? – eher bürgerliche Lager, also CDU/CSU nebst AfD, über eine fast Zwei-Drittel-Mehrheit verfügen (siehe Markierung). Andererseits – auch so kann man das sehen – hätten die sogenannten „christlichen“ Parteien (die wohl nur noch aus Gewohnheit so heißen, und um bestimmte Zielgruppen besser ansprechen zu können) die freie Wahl zwischen einer Koalition mit den sich selbst als eher progressiv empfindenden Kräften oder den ganz mächtig Progressiven. In beiden Fällen würde sich, je nachdem, eine recht deutliche Mehrheit von 56 beziehungsweise 57 Prozent ergeben. Bolle hört es heute schon am Wahlabend tönen: Wir danken den aufrechten Demokraten für den klaren Regierungsauftrag – und versprechen unseren Wählerinnen und Wählern ein entschiedenes Weiter-So.
Eine regelrechte Implosion des wackeren „Weiter-So“ der „demokratischen Parteien“ nach österreichischem Vorbild jedenfalls wird es in Deutschland bis auf Weiteres vermutlich nicht geben. Der Deutsche an sich (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) ist bekanntlich kein Revolutionär. Aber kieken wa ma. Vielleicht steckt der sprichwörtliche Teufel ja doch noch im Detail – und der kluge Prophet wartet ohnehin die Ereignisse ab. Im übrigen haben wir uns erlaubt, zwecks seelischer Erbauung Grosz‘ weihnachtliche Tanzeinlage in den Anhang zu packen. Bolle findet es einfach zuu niedlich. Das alles aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.
Zu unserem Türchen gestern gab es eine Rückmeldung: „Wieso? Das sieht man doch, ob sich der Schneemann bewegt hat oder der Teppich.“ Da wir hier, wie gestern erläutert, eine wohlverstandene relativistische Perspektive einnehmen wollen, scheint uns ein kleiner Nachtrag angebracht.
Natürlich sieht man das. Aber warum sieht man es? Weil wir – ohne uns dessen bewußt zu sein – das Blatt Papier beziehungsweise den Bildschirmausschnitt als Bezugspunkt verwenden. Einen solchen Bezugspunkt haben wir aber nicht – nicht in der Physik und erst recht nicht im wirklichen bzw. sozialen bzw. politischen Leben. Dieses völlige Fehlen eines Bezugspunktes hat übrigens die Physiker ziemlich lange Zeit ziemlich rappelig gemacht und zu so mancher Idee inspiriert, die sich letztlich als nicht soo brauchbar erwiesen hat. So etwas ist aber auch jeglicher Alltagserfahrung allzu ferne. Wir sind nun mal seit sechs Millionen Jahren – also seit der Menschwerdung im weiteren Sinne – daran gewöhnt, daß es feste Bezugspunkte gibt. Entsprechend schwer fällt es uns, sich die einfach wegzudenken – auch wenn sie wirklich mal nicht da sein sollten.
Um uns das alles besser vorstellen zu können, hilft ein kleiner Trick: Nehmen wir an, das Blatt Papier oder der Bildschirmausschnitt, auf dem sich Schneemann und Teppich befinden, sei unendlich groß – zumindest aber unüberschaubar groß. Dann gibt es wirklich keine Möglichkeit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Oder aber wir fügen, tout au contraire, einen Meilenstein in die Graphik ein – eine Wegmarke, an der wir uns orientieren können. Unter der Annahme, daß sich Schneemann und Teppich im Freien befinden – wer stellt sich schon einen Schneemann ins Wohnzimmer? – könnte das irgendein markanter Punkt in der Landschaft sein, zum Beispiel ein Baum oder Busch oder ähnliches (siehe Bildchen). Relativ zu dieser Wegmarke können wir nun eindeutig entscheiden, wer oder was sich bewegt hat – Schneemann oder Teppich?
Jetzt – aber erst jetzt – denken wir uns die Wegmarke wieder weg. Im Grunde wenden wir also die Vorgehensweise von Professor Bömmel aus der Feuerzangenbowle an: „Also, wat is en Dampfmaschin? Da stelle mehr uns janz dumm.“
In der sozialen beziehungsweise politischen Sphäre kommt allerdings erschwerend hinzu, daß es bereits an der Definition hapert: kein Mensch kann zufriedenstellend erklären, was genau das eigentlich sein soll: lechts oder rinks? (Ernst Jandl 1966). Bolle, stets bemüht, auch das Unfaßbare wenigstens anekdotisch faßbar zu machen, hält sich immer an die folgende Faustregel …
Motto „rechts“: Bevor Du dich daran machst, die Welt zu verbessern, kehre drei mal vor Deiner eigenen Tür (chinesisches Sprichwort). Motto „links“: Wieso? Alles und jeder braucht unsere Solidarität. Immer!
… und muß dabei stante pede an Churchill denken, of course, der angeblich mal gesagt haben soll:
Wie herrlich Deine Strategie auch sein mag: Gelegentlich solltest Du gucken, was dabei rauskommt. (However beautiful the strategy, you should occasionally look at the results.)
Das alles aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.
Neulich war Bolle mit zwei durchaus aufgeschlossenen Mitmenschen beim Gänse-Essen. Irgendwann gegen Ende des Treffens ging es dann allgemein um die Schlechtigkeit der Welt und im Speziellen, wie sehr sich manche Leute in letzter Zeit doch „radikalisieren“ würden.
Bolle, nicht faul, fühlte sich sofort veranlaßt, eine wohlverstandene relativistische Perspektive ins Spiel zu bringen. Dazu heißt es in Bertrand Russells ›ABC der Relativitätstheorie‹ (1925) – also vor nunmehr 100 Jahren:
Es gibt eine Sorte ungemein überlegener Menschen, die gern versichern, alles sei relativ. Das ist natürlich Unsinn, denn wenn alles relativ wäre, gäbe es nichts, wozu es relativ sein könnte.
Auch hatte Bolle das Schildchen mit dem Schneemann nicht dabei. Aber ein Bierdeckel für den Teppich und Bolles Feuerzeug für unseren Protagonisten tun es natürlich auch.
Im Ausgangspunkt – so wollen wir annehmen — stehe unser Schneemann (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) voll auf dem Teppich. Nun gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten: Der Schneemann bewegt sich ein paar Schritte nach links (Pfeil a) – was wir hier rein räumlich und mitnichten politisch verstehen wollen. Und schon steht er nicht mehr auf dem Teppich. Oder aber – die zweite Möglichkeit – jemand zieht den Teppich ein Stück weit nach rechts (Pfeil b) und – Wunder über Wunder – auch in diesem Falle steht unser Schneemann nicht mehr auf dem Teppich – obwohl er sich keinen Millimeter von seiner Ursprungsposition wegbewegt hat. Allein die Lage des Teppichs ist eine andere.
Damit aber ist die Frage, ob sich der Schneemann „radikalisiert“ hat – oder nicht vielleicht eher der Teppich – so offen, wie sie nur sein kann. Wir machen wohl keinen allzu großen Fehler, wenn wir das Beispiel auf die politische Sphäre übertragen. Unser Schneemann stünde dann für einen einzelnen Wähler und der Teppich – wie soll man sagen? – für das, was wir gemeinhin Zeitgeist nennen. Wie meinte doch gleich Faust in der Nacht-Szene zu Wagner?
Was Ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, In dem die Zeiten sich bespiegeln.
Abgesehen von der Frage, wer hier die „Herren“ sein sollen, ist das alles im Grunde doch furchtbar selbstverständlich. Allein nicht jeder denkt jederzeit daran. Beim Gänse-Essen nämlich hatte sich Bolle zu der Bemerkung hinreißen lassen, im AfD-Parteiprogramm würde im Prinzip nichts stehen, was nicht auch in einem, sagen wir, CDU-Parteiprogramm von vor 20 Jahren hätte stehen können.
Der Effekt war, wie öfters mal bei Bolles Vorlesungen, zumindest verblüffend. Das heißt natürlich nicht, daß stante pede eine entsprechende Einsicht folgen würde. So etwas braucht ein wenig Zeit – das ist Bolle durchaus klar. Im Moment aber sieht es ja allgemein eher so aus, daß einer zunehmenden Zahl von Leuten ganz allmählich dämmert, daß weder Glühwürmchen (großes Herz, nicht ganz so großes Hirn) noch Hülsenfrüchtchen (außen grün, innen hohl) – wie Bolle das gerne mit zwinkerndem Auge umschreibt – angesichts einer prinzipiell übermächtigen Realität, die überdies, beziehungsweise gerade deswegen, fast immer Recht hat, keine allzu gute Figur machen. Das alles aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.
Nach den Weihen deutscher Weihnachtsmärkte bzw. deren Derangement in Form von Winterwunderwelten, mit denen wir uns die letzten beiden Tage befaßt hatten – hier zur Abwechslung mal wieder ein ausgesprochen weltliches Thema. AODSCH!
AODSCH ist Bolles jüngstes Akronym für ›Als-Ob-Demokratie-Schietkram‹. Darf man das so sagen? Bolle meint: man muß! Es rumort ja durchaus schon länger im Gebälk. Anlaß – lediglich der Anlaß – für unseren heutigen Beitrag sind die mißratenen Wahlen in Rumänien, of course. Dort fiel dieser Tage ein Urteil des obersten Gerichtes in etwa wie folgt aus:
Im Namen des Volkes! Ihr, das Volk, seid zu blöd zum Wählen. Also zurück auf Los, marsch, marsch!
Natürlich hat das niemand so formuliert. Aber im Tenor ist genau das gemeint. Möglicherweise ist das Volk ja wirklich zu blöd. Dann muß das wohl auch mal gesagt werden dürfen. Aber derlei ›Im Namen des Volkes‹ zu verkünden, mutet dann doch ein wenig skurril an. Und das ganze dann auch noch als ›Demokratie‹ zu verkaufen – eine Staatsorganisationsform, in der alle Staatsgewalt vom Volke auszugehen hat – selbst, wenn es nun mal zu blöd sein sollte. Was wäre die Alternative? Ein besseres Volk? Oder ganz zumindest eben eine ›Als-ob-Demokratie‹, die so tut, als ob – dabei aber niemandem in den höheren Schichten ernstlich wehtut. Merkwürdig – sehr, sehr merkwürdig das, in der Tat.
Man könnte fast meinen, daß so etwas wie ›Demokratie‹ nur dann und nur so lange funktioniert, wie das Volk sich an der Urne angemessen brav verhält. Diese Partei wählen oder jene – geschenkt. Solange die alle das gleiche wollen im Prinzip, wird das nicht weiter stören. Aber so richtig danebenwählen? Das ist nach Ansicht mancher mehr als die stärkste Demokratie abkann. Immerhin ist das ein Indiz für die Richtigkeit von Bolles Partizipationsplacebo-Theorem (vgl. dazu etwa Mo 12-12-22 Das zwölfte Türchen …). Gib den Leuten das Gefühl, daß sie was zu sagen haben – zum Beispiel wählen gehen dürfen. Das fördert das Commitment und damit die Zufriedenheit. Allerdings muß man höllisch darauf achten, daß sie nicht wirklich was sagen – also zum Beispiel völlig falsch wählen. Das ginge dann doch zu weit.
Und? Wie sieht es hierzulande aus? Noch nicht ganz so offenkundig, aber auf dem besten Wege, wie zu befürchten steht. Bolle muß da an die letzten Wahlen im Osten denken, Brandmauern und nicht zuletzt Verbotsphantasien für bestimmte Parteien. Irgendwie muß das Volk ja auf den rechten Weg geführt werden.
Was schließlich sagt die freie Presse, der Journalismus 2.0? Irritierend wenig. Rumänien sei ein EU-Land und überdies in der NATO – da sei es nun mal nicht tunlich, einen Präsidenten zu wählen, der da nicht voll und ganz dahinterstehen mag. Das könne und müsse man ja verstehen. Nun ist es wirklich nicht jedermanns (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) Sache, die Bedeutung von Nachrichten einschätzen und beurteilen zu können. Allerdings fragt Bolle sich manchmal: warum dann Journalist werden? Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.