So 23-06-24 Vertrauenskrise? Schaffenskrise!

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Um unsere Europa-Wahlen langsam, aber sicher ausklingen zu lassen, hier ein vorläufig letzter Schweif ins Thema. Diese Woche untertitelte eine Qualitätszeitung: Die Deutschen haben kaum noch Vertrauen in die Ampelregierung. Das „kaum“ übrigens hält Bolle für einen regelrechten Euphemismus. Doch das nur am Rande. Interessanter ist das Vertrauen an sich.

Technisch gesehen handelt es sich bei ›Vertrauen‹ um ein Element aus Welt III (vgl. dazu So 26-05-24 Das bessere Argument): Mangels besserer Möglichkeiten modelliert man sich ein Bild – in diesem Falle von der Regierung. Ob das halbwegs stimmt? Wer weiß. Allein das Bedürfnis nach Orientierung als Motiv jedweder Modellierung können wir sicher unterstellen. Schließlich handelt es sich dabei um eines der kognitiven Grundbedürfnisse. Auch können wir davon ausgehen, daß ein einmal modelliertes Bild zur Selbststabilisierung neigt: Informationen, die nicht ins Bild passen, werden entweder gar nicht erst wahrgenommen – oder weltbildstützend gedeutet bzw. umgedeutet.

Eine tatsächliche Weltbild-Änderung dagegen braucht entsprechend Zeit. Zumindest geschieht sie nicht über Nacht: Das Wahlvolk ist träge. Bolle fühlt sich hier an ein Bonmot erinnert, das verschiedensten Autoren zugeschrieben wird. Vermutlich handelt es sich dabei einfach nur um eine schlichte Volksweisheit:

Man kann alle Leute für einige Zeit, und einige Leute für alle Zeit an der Nase herumführen – aber nicht alle Leute für alle Zeit.

Unsere Qualitätszeitung jedenfalls fragt: Wer also stellt das Vertrauen in das System wieder her, dem die Deutschen Freiheit, Demokratie und Wohlstand verdanken?

Dahinter steckt zunächst einmal die Grundannahme, daß „das System“ im Kern ja wohl gut ist – und schon von daher bewahrenswert. Zweitens, und zwar versteckter, steckt dahinter die Idee, daß man so etwas wie ›Vertrauen‹ einfach nur „wiederherstellen“ muß – und schon wird alles wieder gut.

Bolle vermutet allerdings eher eine veritable Schaffenskrise. Schaffenskrise statt Vertrauenskrise. Das Problem wäre demnach weniger, daß dem Volke (empfängerseitig) sein Vertrauen flöten geht. Das Problem wäre eher, daß der Regierung (senderseitig) nicht genug einfällt, um das Volk von sich und ihren Vorhaben zu überzeugen.

Zugegeben: Die Idee, man müsse dem Volk das eigene Tun nur gut genug erklären, und alles würde gut, hat sich in gewissen Kreisen ziemlich breitgemacht. Angefangen hat das wohl 2015 mit Merkels seinerzeit frisch eingerichtetem „Nudging“-Team. Dabei ist Nudging – wörtlich anstupsen – nur ein freundlicher klingendes Wort für regierungsseitig angestoßene gezielte Manipulation. Erklärtes Ziel dabei ist natürlich, das Glück der Bürger zu steigern, of course.  Bolle meint gleichwohl: Thanks, I’m fine.

In der Lutherbibel 1912 heißt es übrigens wörtlich: Also werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein (Matth. 20, 16). Allerdings nicht ohne hinzuzufügen: Denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt. Daß sich so mancher (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) zu hohen und höchsten Taten zumindest berufen fühlt, liest man täglich in der Zeitung. Ob dieses Gefühl, in welcher Weise auf immer, allerdings auch nur halbwegs hinreichend substantuiert ist, wird man schwer bezweifeln dürfen. Beim gegenwärtigen Zustand des Journalismus 2.0 muß man dazu allerdings schon schwer zwischen den Zeilen lesen – oder andere Quellen hinzuziehen. Darf man das denn? Aber Ja doch. Immerhin heißt es in Art. 5 I GG, daß jedermann das Recht habe, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Bolle sieht da allerdings noch mächtig Spielraum, was das „allgemein zugänglich“ angeht. Schließlich arbeitet man schon seit einiger Zeit – nicht zuletzt auf EU-Ebene – mit Fleiß daran, die Grenzen des Säglichen in einem als demokratie-kompatibel erachteten Rahmen zu halten – Verfassung hin oder her. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 16-06-24 Ein Hauch von Hollywood

Entrückt zerpflückt …

Nachdem wir letzten Sonntag auf das Wahlspektakel eingegangen waren, kann es nicht schaden, einen Blick auf das Ergebnis zu werfen. Erst wurde gewählt, dann wurde gezählt – und schließlich gab es lange Gesichter.

Unser Schildchen heute bezieht sich übrigens auf Josua Eiseleins ›Sprichwörter und Sinnreden‹ (1840). Dort heißt es: Mancher auf Stelzen ist für die Sache dennoch zu kurz (vgl. dazu Sa 02-01-21 Hype und Hybris).

Bolle meint, das läßt sich noch toppen. Für eine Sache „zu kurz“ zu sein, läßt sich ja durchaus noch sachlich verstehen: Einer (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) kann es einfach nicht. Das allein dürfte mächtig am Selbstwertgefühl kratzen. Ein kluger Mensch würde es mit Jesus Sirach halten und nicht nach dem streben, was nun mal zu hoch für ihn ist. Weniger kluge Leute – oder Leute, die gerade keine katholische Bibel zur Hand haben – reagieren anders: sie entrücken.

Was ist der Unterschied? Entrückt zu sein, heißt nicht nur, daß man für die Sache zu kurz ist – daß man es also schlichtweg nicht kann. Zudem schwebt der Geist des Entrückten in höheren Sphären und glaubt ganz dolle daran, daß doch alles seine Richtigkeit habe mit den Bestrebungen. Allein das Volk könne dem noch nicht ganz folgen. Folglich müsse man ihm die Dinge besser erklären, man müsse „die Menschen draußen im Lande“ mitnehmen in die Schöne Neue entrückt-verzückte Welt. Die Talkshows sind voll von derlei.

Übertrieben? Leider wohl nicht. Vor knapp einem viertel Jahrhundert war die Polit-Prominenz auf die grandiose Idee verfallen, die EU binnen zehn Jahren zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Passiert ist seitdem wenig – wenn überhaupt. Bolle war seinerzeit allein das „binnen zehn Jahren“ süß-säuerlich aufgestoßen. In dem Zeitraum kriegen die üblicherweise nicht mal eine Kita geplant und gebaut.

Bolle muß da immer an Churchill denken, der seinerzeit gemeint haben soll: Wie toll auch immer Deine Pläne sein mögen. Gelegentlich solltest Du einen Blick auf die Ergebnisse werfen.

Das allerdings geht sehr viel leichter, wenn man seiner Sache nicht allzu entrückt ist. Ansonsten bleibt wohl nur die Flucht ins Manichäische: Es gibt die Guten – zu denen man selbst selbstredend gehört. Und es gibt die Bösen, die einfach nicht hören wollen, was die Guten sagen, und die nicht folgen wollen, wenn die Guten munter voranpreschen. Dazwischen gibt es wenig – beziehungsweise rein gar nichts. Bolle findet in der Tat, das hat was von Hollywood.

Und so ist es nur natürlich, wenn sich die Guten unverbrüchlich gut finden, von den Bösen aufs Übelste bedroht und sie, falls nötig, „mit der ganzen Härte des Rechtsstaates“ zu bekämpfen trachten. Daß aber das Volk der Souverän ist – und nicht etwa die Guten im Lande – kann dabei leicht in Vergessenheit geraten. Das zeigt sich übrigens nicht zuletzt in so verräterischen Wendungen wie „unsere Demokratie“. Here’s a flash: Das ist mitnichten Eure Demokratie. Die Demokratie gehört – falls überhaupt irgendwem – dem Volk. Und was das Volk damit macht, ist ganz und gar nicht Euer Bier. Ihr seid Diener des Volkes – und keine Häuptlinge. Das hat schon Friedrich Zwo so gesehen. Und so steht es übrigens auch in der Verfassung (Art. 20 II S. 1 GG), sogar mit „Ewigkeitsgarantie“ (Art. 79 III GG). Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 09-06-24 Erst wählen, dann zählen

Auf, auf, Marsch, Marsch!

Gestern war Bolle bummeln zwischen Wochenmarkt und Konsumtempel. Derlei bietet sich schließlich an – des Sonnabends in der Früh. „Hier“ – streckte sich ihm eine Hand entgegen. In der Hand eine Handreichung zur heutigen Europawahl von irgendeiner Partei. Last-minute-Wahlkampf, ging es Bolle durch den Kopf, noch ehe die Hand ganz ausgestreckt war. Auch an Rilkes Herbsttag (1902) mußte er kurz denken: Wer jetzt gemein ist, wird es lange bleiben. „Mit Verlaub, junger Mann, aber Ihre Partei ist so ziemlich das letzte, was ich wählen würde.“ Der junge Mann indes zeigte sich professionell: „Das mag ja sein. Aber wichtig ist, daß Sie überhaupt wählen gehen.“ Dabei sind solche Empfehlungen zur rechten demokratischen Gesinnung natürlich nicht gerade das, was Bolle am frühen Morgen zu goutieren weiß – noch dazu von einem jugendlichen Jungspund. Aber Schwamm drüber. Immerhin wurde er nicht aufdringlich.

Zwei Dinge gingen Bolle durch den Kopf. Erstens: Wer am Vorabend einer Wahl noch nicht weiß, was er wählen wird, ist im demokratischen Gefüge vermutlich völlig falsch. Die Parteien – egal welche – hatten jahrelang Zeit, die Welt und vor allem die Wähler davon zu überzeugen, daß ihre Richtung die richtige ist. Wozu dann Wahlkampf auf den letzten Drücker? Umgekehrt gewendet: Wer am Vorabend einer Wahl immer noch umworben werden will, der sollte sich vielleicht fragen, ob er das nächste mal nicht vielleicht besser aufpassen mag und sich im Laufe der Zeit eine fundierte Meinung bilden möchte? Zweitens: Die aufrechten Demokraten brauchen ihr Wahlvolk wie der Pfaffe (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) seine Schäfchen. Schließlich muß alles seine gute Ordnung haben. Määh! Und in der Tat hat sich ›Demokratie‹ im Laufe der Zeit derart moralisch aufgeladen, daß sie nachgerade das Unterscheidungsmerkmal geworden ist zwischen den Guten und den Bösen. Schließlich gilt so manchem Hülsenfrüchtchen: Demokratie ist die Herrschaft der Guten (vgl. dazu So 06-12-20 Das sechste Türchen — Nikolausi …). Also tut man gut daran, ganz dolle daran festzuhalten. Also Hauptsache wählen gehen, wie der Jungspund meinte. Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel: So gilt etwa die Deutsche Demokratische Republik bis heute manchem als nicht wirklich demokratisch – obwohl der Name doch Programm sein sollte. Auch so manche „lupenreine Demokratie“ hat es wahrlich nicht immer leicht, von manchen als solche anerkannt zu werden. Umgekehrt sei hier an Jonas Jonassons ›Der Hundertjährige‹ (2009) erinnert und dabei an Amanda Einsteins ›Liberaldemokratische Freiheitspartei‹ – wo sich ihrer Ansicht nach die drei Begriffe „liberal“, „demokratisch“ und „Freiheit“  in einem solchen Zusammenhang doch sehr gut machten. Wer es etwas gründlicher mag, sei auf unsere fünfteilige Trilogie unter dem Schlagwort ›Schrat und Staat‹ verwiesen. Dabei empfiehlt es sich, chronologisch aufsteigend zu lesen – also umgekehrt wie angezeigt. Dort steht eigentlich alles, was man zur Vorbereitung auf die Stimmabgabe wissen muß – nicht zuletzt zum Stichwort ›Partizipations-Placebo‹.

Abschließend unterbrochen und ins zen-mäßige gewendet wurde der Gedanken Blässe schließlich am Erdbeerstand. Wie süß sie schmeckten! Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 01-01-23 Ein gutes Neues Jahr Euch allen!

Ode an die Leude …

So, Ihr Lieben. Wieder ist ein altes Jahr von hinnen geschieden. Hier zur Einstimmung auf das Neue Jahr ein Verschen für Euer virtuelles Poesiealbum. Der Text hat sich Bolle neulich regelrecht aufgedrängt zwischen einer Last-Minute-Weihnachtsgans und einer rein jahreszeitlich doch etwas deplazierten Geburtstagsfeier. Gesungen wird es nach der Melodie von „Was müssen das für Bäume sein …“, of course.

Das Jahr 2022 war ja nicht zuletzt wohl auch ein Jahr der Sprüche – namentlich was die Volksbeglückung seitens der Politik-Prominenz angeht. Wenn man schon nichts – oder doch nur wenig – kann, dann muß man den Leuten wenigstens versuchen einzureden, daß man im Grunde doch voll toll ist. Bei „63%“ – so der einschlägige Code auf Twitter – mag das sogar fruchten. Der Rest vom Volk muß dafür um so mehr leiden ob solcher leistungsfreien Anmaßungen.

Was den Text unseres Liedchens angeht, mußten wir im Interesse größtmöglicher Nähe zum Original einige harte Kompromisse eingehen. Aber was soll’s. Wobei die ›Zwiebelfische‹ übrigens gar nicht mal so unpassend sind, wie man auf den ersten und möglicherweise doch eher flüchtigen Blick hin vielleicht meinen könnte. Im engeren Sinne handelt es sich bei ›Zwiebelfischen‹ um unpassende Lettern, wie sie sich beim Bleisatz mitunter ergeben haben – etwa weil der Stift (so hießen die Lehrlinge früher) es beim Zurücklegen der einzelnen Lettern in die passenden Schachteln an der nötigen Sorgfalt hat mangeln lassen und dabei etwa ein kursives „s“ in der Schachtel für die normalen „esse“ gelandet ist – was dem Gesellen beim Setzen eines frischen Textes unmöglich auffallen konnte. Von der ursprünglichen Wortbedeutung her meint ›Zwiebelfisch‹ allerdings ›minderwertige Ware‹. Von hier aus aber ist es nicht allzuweit zur Übertragung auf ›Leute, vor denen man nicht allzu ehrerbietig den Hut zu ziehen braucht‹. Damit ist eine rein sachliche Feststellung gemeint, of course, und nicht etwa ein wie auch immer gearteter möglicher Mangel an „Wertschätzung“ per se im weitesten Sinne. Bolle ist schließlich altmodisch genug zu meinen, daß Wertschätzung etwas ist, das man sich erwerben muß – und nicht etwa leistungsfrei und mit frecher Stirn mal eben so „einfordern“ kann.

Und damit wären wir mittenmang beim ›Demokraten-Profil‹ (vgl. Mi 21-12-22 Das einundzwanzigste Türchen …). Dort hatten wir (1) Urteilsfähigkeit, (2) Souveränität und (3) Freiheit von übertriebener Bangbüchsigkeit als das Holz bestimmt, aus dem sich Demokraten schnitzen lassen. An dieser Stelle liegt – davon ist Bolle mehr denn je überzeugt – wohl doch noch einiges im Argen. Aber nächstes Jahr wird ja bekanntlich alles besser, of course.

Soviel für heute. Wir wünschen Euch ein gutes Neues Jahr. Auch werden wir, versprochen ist versprochen, in Bälde wieder voneinander hören – falls uns bis dahin nicht der Himmel auffen Kopp fallen sollte. Möglich wär’s sehr wohl – beim gegenwärtigen Zustand von Volk und Vaterland (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course). Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Mi 21-12-22 Das einundzwanzigste Türchen …

Die Grenzen der Demokratie …

Hier der Vollständigkeit halber zunächst der ›Schiller‹, auf den sich Blumenthal gestern bezogen hatte (vgl. Di 20-12-22 Das zwanzigste Türchen …), im Zusammenhang. Wir wollen Euch das nicht vorenthalten – auch wenn es in dieser Verdichtung etwas deprimierend klingen mag.

Was also wären die Anforderungen, die an das Volk zu stellen sind, damit Demokratie, die mehr ist als nur ein Partizipations-Placebo oder gar nur eine fluffige Umschreibung für ›Herrschaft der Guten‹, funktionieren bzw. „gelingen“ kann – wie es in anderen Zusammenhängen in herrlichem Neusprech immer so schön heißt?

Eigentlich sind es, auf den Punkt gebracht, nur drei Zutaten, die nicht nur höchst wünschenswert wären, sondern die uns nachgerade unverzichtbar erscheinen wollen.

Zum einen bräuchte das Volk eine hinreichend ausgebildete Urteilsfähigkeit. Hierbei handelt es sich im Grunde nur um einen altmodischeren Ausdruck für das, was wir gestern ›prognostische Kompetenz‹ genannt haben.

Aber woher nehmen, wenn nicht stehlen? Bolle hat einige Jahre in Folge bei Einführungsveranstaltungen für Erstsemester den folgenden running gag zum Besten gegeben: „Im wesentlichen geht es hier um Lesen, Schreiben, Rechnen.“ Damit hatte er erst mal einen Lacher. Einen leicht irritierten Lacher zwar – aber immerhin einen Lacher. Aber wie so oft ist auch hier der Scherz das Loch, durch das die Wahrheit pfeift. Urteilsvermögen fällt nicht vom Himmel und wächst auch nicht auf Bäumen. Vielmehr muß es sich entwickeln. Und das kann ganz schön dauern.

Zum zweiten bräuchte es eine gewisse Souveränität. Im Grunde liegt das mehr als nahe. Schließlich ist das Volk der Souverän. Und was wäre ein Souverän ohne Souveränität? Für den Anfang wäre schon einiges mit hinreichender Resistenz gegen Gruppendruck sowie einem gesunden Mißtrauen gegenüber aufgeblasenen Autoritäten gewonnen. Wenn alle (oder furchtbar viele) mit den Wölfen heulen, so sollte das für einen souveränen Souverän noch lange kein Grund sein einzustimmen. Und Autoritäten kochen schließlich auch nur mit Wasser.

Und drittens und letztens schließlich wäre eine hinreichende Freiheit von Bangbüchsigkeit – wir könnten auch sagen: Freiheit von Schissertum – wünschenswert. Genau so, wie es Friedrich von Logau (1605–1655) seinerzeit so trefflich auf den Punkt gebracht hat (vgl. dazu auch unser Türchen vom letzten Jahr: Mo 20-12-21 Das zwanzigste Türchen …).

Leb ich / so leb ich!
Dem Herren hertzlich;
Dem Fürsten treulich;
Dem Nechsten redlich;
Sterb ich / so sterb ich!

Warum ist das so? Nun – wer Schutz durch seinen Nächsten sucht, wird vor allem Herrschaft ernten.

Fassen wir zusammen: Urteilsfähigkeit, Souveränität sowie Freiheit von übertriebener Bangbüchsigkeit. Das in etwa ist das Holz, aus dem sich Demokraten schnitzen ließen, die mehr sind als nur gelegentliche Kreuzchen-Macher. Man könnte es auch so formulieren: Ein Demokrat braucht unbedingt ein Mindestmaß an agnostisch-kontemplativer Grundstimmung. Damit aber sind wir – Bolle meint, man kann das schwerlich anders sehen – himmelweit von den Zuständen in der hierzulande real existierenden Demokratie entfernt. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Di 20-12-22 Das zwanzigste Türchen …

Mehr oder minder …

Wir haben uns in diesem Jahr an dieser Stelle ja vergleichsweise gründlich mit der Klärung der Dreifaltigkeit ›Demokratie / Rechtsstaat / Verfassungsstaat‹ befaßt – einer der ersten Mehrteiler in unseren agnostisch-kontemplativen Frühstückchen überhaupt – und dabei festgestellt, daß da begrifflich doch noch einiges im Argen liegt. Wie aber soll konfusem bzw. diffusem Denken jemals klares Handeln entspringen?

Wir wollen unsere Trias morgen mit einem vierten Teil abschließen und uns dabei zweierlei fragen: Erstens, wie kann es sein, daß eine Trias aus vier Teilen besteht? Nun, das ist leicht erklärt: Seit Douglas Adams 1992 – also vor nunmehr 30 Jahren schon – den gar fünften Teil seiner Trilogie ›Per Anhalter durch die Galaxis‹ herausgegeben hat, sollten wir uns an derlei längst gewöhnt haben. Der Konfusionen gibt es durchaus drastischere.

Zweitens und vor allem aber wollen wir uns fragen, wie wir uns den Dreh- und Angelpunkt einer Demokratie (im weiteren Sinne) vorstellen wollen – den leibhaftigen Souverän. Ist das einer (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course), der einen Stift halten und ein Kreuzchen machen kann? Oder sollten wir die Latte hier nicht vielleicht ein wenig höher legen?

Begnügen wir uns für heute mit einem kleinen Gedankenexperiment. Stell Dir vor, Du seiest Mitglied eines 11-köpfigen Mikrokosmos und ihr habet Euch voll und ganz der Demokratie-Idee verschrieben. Alle Entscheidungen werden ausnahmslos per Mehrheitsbeschluß getroffen. Alles, was mindestens 6 Stimmen auf sich vereinigen kann, wird also gemacht. Alles andere nicht. Stimmengleichheit sei ausgeschlossen, da alle, so wollen wir annehmen, aus guter demokratischer Überzeugung an jeder Abstimmung teilnehmen und Stimmenthaltungen völlig verpönt sind und nie vorkommen.

So weit, so gut. Nun stell Dir vor, einer von Euch verfüge über eine geradezu überschießende prognostische Kompetenz. Der Einfachheit halber wollen wir annehmen, daß Du selbst das bist – obwohl es hierauf nicht ankommt. Not unlike Kassandra ist Dir immer klar, welche Konsequenzen eine bestimmte Entscheidung kurz-, mittel- und auch langfristig haben wird. Unter diesen Umständen wäre es gar nicht so einfach, Euch ein, sagen wir, trojanisches Pferd unterzujubeln.

Allerdings liegt hier die Betonung auf „wäre“. Annahmegemäß unterliegt ja auch diese Entscheidung dem Mehrheitsbeschluß. Was aber, wenn der Rest Deines Mikrokosmos von der netten Geste des Absenders völlig entzückt ist oder von der filigranen Maserung des Holzes fasziniert – und sich nach dem Motto „Ein Pferd ist nie verkehrt“ durchaus für die Aufnahme selbigens in Eure heiligen Hallen erwärmen kann?

Hier hilft kein Zetern und kein Schreien, kein Haareraufen und kein Kleidzerreißen (wie es bei Esra 9, 3 in einem ähnlich gelagerten Fall heißt). Wenn es Dir also nicht gelingt, wenigstens fünf Deiner Stammesbrüder (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) von Deiner besseren Einsicht zu überzeugen, dann steht es schlecht um die Entwicklungsperspektiven Eures Stammes.

Natürlich ist ein solches Verfahren zumindest anstrengend – zuvörderst für Dich, letztlich aber auch für Deine Sippe. Geschmeidige Entschließung stellt sich Bolle anders vor – von „Effizienz“ gar nicht zu reden. Kurzum: ob und inwiefern Du für Dich und Deinen Mikrokosmos Erfolg haben wirst mit Deiner prognostischen Kompetenz, hängt nicht allein von Deinen Fähigkeiten ab – die wir hier im Gedankenexperiment als gegeben unterstellt haben – sondern gleichermaßen von der Einsichtsfähigkeit des Dich umgebenden Volkes.

Das aber wirft unmittelbar die Frage auf, welche Anforderungen an das Volk zu stellen sind, damit Demokratie, die mehr ist als nur ein Partizipations-Placebo oder gar nur eine fluffige Umschreibung für ›Herrschaft der Guten‹, funktionieren kann. Das wollen wir morgen kurz skizzieren. Für heute nämlich wär das doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Mi 14-12-22 Das vierzehnte Türchen …

Das Ich und der andere (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course)

Vor lauter Demokratie haben wir fast vergessen zu definieren, was wir uns denn unter den Leuten, die in einer Demokratie leben, vorzustellen haben – im günstigsten Falle also den Demokraten. Ein ›Demokrat‹ ist nach landläufiger Auffassung ›ein Anhänger der Demokratie‹. So gesehen kann Bolle schon mal kein Demokrat sein – weil er ja schon Agnostiker ist und damit jeglicher Form von „Anhängerschaft“ abhold.

Probieren wir es also eine Nummer kleiner und definieren: Ein Demokrat ist ›einer, der davon überzeugt ist, daß die Demokratie die beste aller möglichen Staatsformen ist‹. Auch hier muß Bolle passen. Wie wir ja gesehen haben, läuft Demokratie – zumindest so, wie wir sie gegenwärtig erleben müssen – auf eine Staatsorganisationsform mit institutionalisiertem Partizipations-Placebo hinaus. Dummerweise ist Bolle in diesen Dingen viel zu bewandert, um diesen Köder zu schlucken – und schon gar nicht freudig. Mit ›Herrschaft der Guten‹ und ähnlichen Entgleisungen soll man Bolle natürlich ohnehin nicht kommen, of course.

Probieren wir es also noch eine Nummer kleiner: Ein ›Demokrat‹ ist ›einer, der davon überzeugt ist, daß informierte und verständige Bürger ihre Geschicke selbst bestimmen und den jeweils Herrschenden gerade eben so viel Macht einräumen sollten wie eben nötig ist, um den Laden zusammenzuhalten‹. Hier wäre Bolle schon eher dabei. Obwohl – auch das wirft Fragen auf. Ganz zuvörderst natürlich die Frage, was wir uns denn unter einem ›informierten und verständigen Bürger‹ vorstellen wollen. Versuchen wir es mit einer Abgrenzung von hinten: zumindest also jedenfalls keinen, der alles frißt, was ihm die jeweiligen Herrschenden im Laufe der Zeit so alles aufzutischen belieben.

Und schon haben wir ein nettes kleines Anschlußproblem: ›informierte und verständige Bürger‹ fallen nicht vom Himmel und wachsen auch nicht auf Bäumen. Hier gäbe es durchaus einiges zu tun – und damit meint Bolle nicht die Digitalisierung der Klassenzimmer. Nicht, daß der Demokratie demnächst womöglich noch die Demokraten ausgehen …

Volksvertreter, die das Volk mit TikTok-Clips bei Laune halten wollen – lustig, lustig, traleralera! – wollen sich jedenfalls nicht ganz so gut in Bolles Demokraten-Verständnis fügen. Ebensowenig wie die Tendenz, alles, was einem nicht perfettamente ins Weltbild paßt, nonchalant unter den Tisch zu kehren oder als „verschwörerisch“ bzw. gar „demokratiefeindlich“ abzukanzeln. Den Standpunkt des anderen verstehen zu können geht jedenfalls anders. Verstehen können heißt ja nicht einnehmen müssen. Aber für manchen ist offenbar selbst das schon „zu komplex“. Und so kommt es, daß im Namen der Einigkeit aller aufrechten Demokraten der Begriff an sich ad absurdum geführt wird.

Und überhaupt: als ob „Einigkeit“ eine originär „demokratische“ Tugend wäre. Übertriebene Einigkeit kennzeichnet wohl eher totalitäre Systeme. Und so berühren sich die Enden. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Di 13-12-22 Das dreizehnte Türchen …

Dussel und Denken.

Wir wollten es heute und möglichst auch in den kommenden Tagen ja etwas gemütlicher angehen lassen. Schließlich ist bald Weihnachten.

Kürzlich erst (vgl. Sa 10-12-22 Das zehnte Türchen …) haben wir darauf hingewiesen, daß bei unklarem Denken schwerlich mit klarem Durchblick und erst recht nicht mit folgerichtigem Handeln zu rechnen ist. Dabei ist ›Dusseldenk‹ natürlich ein Widerspruch in sich – aber irgendwie muß man die wahrgenommene Wirklichkeit ja begrifflich fassen. Insofern ist das leider unvermeidlich. Auch könnte der Begriff auf manchen (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) leicht abwertend wirken. Aber auch das läßt sich nicht ändern. Immerhin hat Bolle sich alle Mühe gegeben, das Phänomen sprachlich so freundlich und so gefällig wie möglich zu fassen. Als stilistische Vorlage mußte dabei übrigens Orwells ›Doppeldenk‹ herhalten – die ältere deutsche Übersetzung von ›doublethink‹. Später wurde daraus ja bekanntlich ›Zwiedenk‹ – was für unsere Zwecke aber rein gar keine Rolle spielt, da es uns hier um eine rein sprachliche Anlehnung gehen soll.

Nun beginnt unklares Denken regelmäßig mit unklaren bzw. gar nicht erst vorhandenen Definitionen. Hier ein Beispiel aus dem richtigen Leben: Neulich erst hat ein durchaus prominenter und auch an Lebensjahren gereifter Ex-Minister in einer der Polit-Plaudertaschenrunden folgendes zum Besten gegeben: „Die gehen nicht mehr zur Wahl, die wählen AfD – die wollen unsere Demokratie zerstören.“ So etwas geht natürlich nur mit Dusseldenk – denn erstens steht es dem Souverän frei, ob er überhaupt wählen will. Zweitens steht es ihm frei, was er wählen will. So viel Souveränität muß sein. Und drittens schließlich ist so etwas wie „unsere Demokratie“ ein Widerspruch in sich. Eine Demokratie, die man mit einem Possessivpronomen („unsere“) fassen kann, kann keine Demokratie im definierten Sinne sein – allenfalls im Sinne von ›Herrschaft der Guten‹. Das allerdings wäre albern. Hätte er gesagt: „Die wollen unsere Regierung abwählen“ („zerstören“ ist wohl ein zu hartes Wort dafür): Keine Einwände. Hat er aber nicht gesagt – und, wie’s scheint, offenbar auch nicht gemeint.

Und? Was machen die anderen Plaudertaschen? Nicken beifällig in die Runde. Aufrechte Demokraten unter sich. Und dann wundern sich die Leute, daß das Publikum abschalten und lieber Weihnachtslieder hören oder gar singen mag. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Mo 12-12-22 Das zwölfte Türchen …

Die Katze und der Schwanz.

Heute kommen wir – pünktlich zur Halbzeit unseres diesjährigen virtuellen agnostisch-kontemplativen Adventskalenders – zum letzten Teil unserer Trias.

Wir haben gesehen, daß das Beste, was man über ›Demokratie‹ sagen kann, ist, daß sie ein solides Partizipations-Surrogat liefert. Alle dürfen glauben, daß sie was zu sagen haben. Tatsächlich zu sagen haben sie aber wenig. Immerhin fühlt es sich besser an als die schiere Ohnmacht. Auch haben wir gesehen, daß ›Demokratie‹ schon deshalb nicht ›Herrschaft des Volkes‹ bedeuten kann, weil es „das Volk“ als Entität schlechterdings nicht gibt. Also bleibt nur ›Herrschaft der Mehrheit‹. In ›Bolles lästerlichem Lexikon‹ heißt es dazu:

Demokratie ist die Unterwerfung der Minderheit durch die Mehrheit.

Das ist wohl noch die ehrlichste Definition.

Was den ›Rechtsstaat‹ angeht – also die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive – haben wir gesehen, daß es eine solche Gewaltenteilung in Deutschland und den meisten europäischen „Demokratien“ einschließlich der EU schlechterdings nicht gibt. Vielmehr gilt das Prinzip „one fits all“. Die Regierung macht sich selber die Gesetze, nach denen sie sich dann ganz rechtsstaatlich richtet.

Beides zusammengenommen kann natürlich leicht dazu führen, daß sich ein ganzes Land samt seiner Verfassung in Windeseile weit von einem „Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“ (Merkel 2017), entfernt. Betrachten wir nur die Lässigkeit, mit der in den letzten Jahren praktisch sämtliche Grundrechte mal eben auf Eis gelegt wurden. Aber gab es nicht gute Gründe? Durchaus. Aber „gute Gründe“ gibt es immer. Wo ein Wille ist, ist schließlich immer auch ein Argument. Juristen lernen das schon in der Ausbildung. So heißt es etwa in § 28 IfSG (Infektionsschutzgesetz), daß „die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen“ trifft und daß dafür die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit (Art 2 II S. 1 GG), der Freiheit der Person (Art 2 II S. 2 GG), der Versammlungsfreiheit (Art 8 GG), der Freizügigkeit (Art 11 I GG) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art 13 I GG) „insoweit eingeschränkt“ werden.

Wie wir sehen können, ist alles rechtsstaatlich sauber geregelt. Die Regierung (einschließlich der Behörden) müssen sich an die Gesetzeslage halten. Dumm nur, daß so etwas wie „die notwendigen Schutzmaßnahmen“ eine sogenannte Generalklausel ist. Was immer die „zuständige Behörde“ für „notwendig“ halten mag, kann sie als „Schutzmaßnahme“ anordnen. Daß die Grundrechte dabei auf der Strecke bleiben, ist dann halt so: Excusez, mon ami, mais c’est la guerre – Entschuldige, mein Lieber, aber wir befinden uns im Krieg (Wilhelm Busch: ›Monsieur Jacques à Paris während der Belagerung im Jahre 1870‹).

›Verfassungsstaat‹ bedeutet, daß der Gesetzgeber an einen „Grundbestand überpositiven Rechts“ – also Recht, daß sich die Regierung in Gestalt des Gesetzgebers nicht mal eben so selber ausdenken kann – gebunden ist. So sieht es (oder so sah es zumindest) auch das Bundesverfassungsgericht. Auch dann nicht, wenn die Regierung die Mehrheit des Volkes hinter sich weiß? Auch dann nicht. Warum nicht? Weil das offenbar die einzige Möglichkeit ist, die stets drohende ›Unterwerfung der Minderheit durch die Mehrheit‹ zumindest in Grenzen zu halten.

Fassen wir unsere kleine Trias zusammen: Da haben wir es mit einer ›Demokratie‹ zu tun, die im Grunde nur für ein Partizipations-Placebo steht, einem ›Rechtsstaat‹, der der Idee der Gewaltenteilung spottet, und einem ›Verfassungsstaat‹ mit seiner Idee von „unverhandelbaren Werten“, die auch durch eine Mehrheit nicht gekippt werden können – von denen sich aber niemand traut, klar zu sagen, welche Werte genau das sein sollen. Kurzum: Wenn das System kippt, dann kippt es eben. Da helfen weder Demokratie noch Rechtsstaat und auch kein Verfassungsstaat. Damit wären wir bei Luhmann: Das System erzeugt die Elemente, aus denen es besteht, mittels der Elemente, aus denen es besteht.

Lohnt es sich, dafür zu sterben? Oder wenigstens zu frieren? Bolle findet: Thanks, I’m fine. Und welche Rolle spielt dabei die Presse, die sogenannte 4. Gewalt? Die knappe Antwort: Eine tragende – was durchaus alles andere als complimentary gemeint ist. Das aber sind dann doch schon wieder ganz andere Kapitel.

So 11-12-22 Das elfte Türchen – der dritte Advent …

Geh Er (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) nur brav zur Wahl …

Kommen wir heute zum 2. Teil unserer Trias ›Demokratie/Rechtsstaat/Verfassungsstaat‹ – dem Rechtsstaat. „Ein Rechtsstaat ist ein Staat, der einerseits allgemein verbindliches Recht schafft und andererseits seine eigenen Organe zur Ausübung der staatlichen Gewalt an das Recht bindet.“ So steht es gleich einleitend bei Wiki – und so ist es auch recht gut auf den Punkt gebracht.

Und so stellt man sich das auch gerne vor: Rechtsstaatlichkeit bedeutet demnach, daß die Regierung nur im Rahmen der bestehenden Gesetze handeln darf. Kurzum: Die Legislative begrenzt die Macht der Exekutive. Mal eben so par ordre du mufti zu regieren ist also ebenso ausgeschlossen wie Absolutismus-Allüren aller Art, allen vorweg Ludwig XIV (1643−1715) mit seinem Motto L’etat c’est moi. Im Grunde doch ein schöner Fortschritt!

Das Problem an dieser Stelle: Wer oder was hält die Regierung davon ab, zunächst die passenden Gesetze zu verabschieden, um dann im Anschluß völlig gesetzeskonform, also rechtsstaatlich zu agieren? Nach dieser Definition wäre wohl durchaus auch die DDR als Rechtsstaat einzustufen, ebenso wie heute beispielsweise China oder Nordkorea oder – let’s go crazy – etwa das Dritte Reich. Auch hier hatte alles seine gesetzliche Grundlage – dafür haben die Juristen schon gesorgt. Die Antwort fällt ausnahmsweise einmal leicht: Die Regierung ist für die Gesetzgebung nicht zuständig – sie hat sich lediglich an die Gesetze zu halten.

Dumm nur, wenn es sich – wie das in Deutschland regelmäßig der Fall ist – bei Legislative und Exekutive um dieselben Leute handelt. In der Tat werden in Deutschland die allermeisten Gesetzesvorlagen von der Regierung (!) eingebracht. Das kann man sich gar nicht klar genug machen!

Bolle war als junger Jura-Student Teilnehmer einer Veranstaltung einer parteinahen Stiftung einer großen Volkspartei. Dort meinte einer der Seminarleiter jovial, natürlich gebe es in Deutschland keine Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative im herkömmlichen Sinne. Vielmehr handele es sich bei Lichte betrachtet eher um eine „Funktionenteilung“. Bolle fand das damals schon listig formuliert. Gleichwohl war ihm dabei unwohl. Und so ist es heute noch.

Das einzige gewaltenteilerische Element in Deutschland ist die Zustimmungspflicht des Bundesrates bei manchen Gesetzen. Hier kann es durchaus sein, daß im Bundesrat andere parteipolitische Mehrheiten herrschen als im Bundestag – Regierungsvorlagen also nicht einfach so durchgewunken werden können. So etwas ist aus Regierungssicht natürlich lästig. Wie soll man da „durchregieren“ können? Und so begab es sich zum Beispiel 2017 allen Ernstes, daß die designierten Regierungsparteien in ihrem Koalitionsvertrag einen „Pakt für den Rechtsstaat“ vereinbart hatten – mit dem einzigen Zweck, einen womöglich widerspenstigen Bundesrat gleich im Vorfeld entsprechend einzubinden. Erklärter Sinn der Sache war natürlich, „den Rechtsstaat handlungsfähig [zu] erhalten“ und „das Vertrauen in die rechtsstaatliche Demokratie“ zu stärken. Bolle könnt‘ glatt kotzen. Aber wo ein Wille ist, da ist eben auch ein Argument.

Fassen wir zusammen: Nachdem wir gestern kaum ein gutes Haar an der Demokratie gelassen haben: Warum sollte es ausgerechnet dem Rechtsstaat besser ergehen? Bleibt noch der ›Verfassungsstaat‹, den wir uns für morgen aufheben wollen. Schließlich handelt es sich dabei wiederum um ein ganz anderes Kapitel.