So 17-11-24 Und niemals wieder landen

Signale hör ick wohl, allein …

Manchmal will es Bolle ja so scheinen, als gäbe es eine Clique von unverdient Hochgestellten, die eine regelrechte Freude daran haben, brave Bürgersleut zu drangsalieren. Das machen sie natürlich nicht mit Absicht. Gleichwohl aber mit Absichten – und zwar mit guten, versteht sich, of course. Im Kern ist es wohl so, wie Diedrich Dörner das 1989 schon in seiner ›Logik des Mißlingens‹ so trefflich formuliert hat. Wir werden ja nicht müde, es immer wieder zu erwähnen (vgl. dazu etwa Fr 23-04-21 Vive la France! – ein Beitrag, der immerhin schon 3½ Jahre alt ist).

Meines Erachtens ist die Frage offen,
ob ›gute Absichten + Dummheit‹
oder ›schlechte Absichten + Intelligenz‹
mehr Unheil in die Welt gebracht haben.
Denn Leute mit guten Absichten
haben gewöhnlich nur geringe Hemmungen,
die Realisierung ihrer Ziele in Angriff zu nehmen.

Nun – momentan scheinen wir von ›gute Absichten + Dummheit‹ regelrecht überschwemmt zu werden. Dabei wollen wir unter ›Dummheit‹, wie stets, nicht mehr verstehen als das kognitive Unvermögen, Gegebenheiten bzw. Zusammenhänge erkennen zu können. Mit anderen Worten: unzureichende prognostische Kompetenz (vgl. dazu auch So 27-10-24 Vorausschauend fahren! Können vor Lachen).

Anlaß zu diesem Beitrag war folgendes: Da hatte ein ansonsten völlig braver Bürger einen der unverdient Hochgestellten als „Schwachkopf“ bezeichnet. Genau genommen hatte er selbst ihn gar nicht bezeichnet. Vielmehr hatte er einfach ein ziemlich süßes TwitteX-Bildchen mit einigem an Witz „geliked“. Die Folge: Strafanzeige wegen Majestätsbeleidigung, § 188 StGB. Bemerkenswert ist also, daß unser braver Bürger den „Schwachkopf“ nicht einmal selbst in den Mund genommen hat. Er fand das einfach nur niedlich. Wir kennen das von früher, als das reine Weitererzählen von politischen Witzen strafbar war – wenn auch nicht unbedingt unter dem Slogan „wehrhafte Demokratie“, dessen sich die unverdient Hochgestellten so gerne befleißigen.

Auch ist es interessant, wie solche Strafanzeigen überhaupt zustandekommen. Hat sich da unser „Schwachkopf“ persönlich beleidigt gefühlt und zum Schutze seiner Ehre Strafanzeige erstattet? Mitnichten. Mittlerweile wird von darauf spezialisierten Firmen das Netz mittels KI auf möglicherweise unbotmäßige Äußerungen durchforstet und die Strafanzeigen in einem automatisierten Prozeß an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet, die sich – so viel Rechtsstaat muß sein – dann eben darum zu kümmern hat.

Doch das ist noch nicht alles. So hat ein offenbar höchst ambitionierter Staatsanwalt nebst einem wohl nicht minder ambitionierten Richter eine Hausdurchsuchung bei unserem ansonsten braven Bürger angeordnet. Man muß sich das vorstellen: Eine Hausdurchsuchung! Wegen eines Likes!

Bolle hält es ja eher mit der gewohnheitsrechtlichen britischen Regel ›My home is my castle‹. Eine Burg, in der der Staat, von Verfehlungen der krasseren Art einmal abgesehen, rein gar nichts zu suchen hat. Eben dies war in den vergangenen Jahrzehnten auch durchgängig gute juristische Praxis.

Von Winston Churchills Milchmann-Parabel jedenfalls entfernen wir uns zur Zeit geradezu im Sauseschritt:

Wenn es morgens klingelt an der Tür
und ich weiß, daß es der Milchmann ist,
dann merke ich, daß ich in einer Demokratie lebe.

Eher läuft es wohl auf Bolles Dystopie hinaus:

Wenn es morgens klingelt an der Tür
und ich denk‘, das könnt‘ der Staatsschutz sein,
dann war’s das erstmal mit der Demokratie.

Das alles ist ohne den Journalismus 2.0 natürlich völlig undenkbar, of course. Aber was erfährt der geneigte Durchschnitts-Medien-Konsument? Werfen wir einen Blick auf ein Original:

Journalismus 2.0

Der Beitrag läuft unter der doch recht verqueren Dachzeile ›Start-up‹, nennt ein edles Motiv („gegen Hass“) und erwähnt die erfolgreiche Akquisition „prominenter Mandanten“. Der Kern vons Janze, der nucleus granuli also, wird den Autoren offenkundig nicht helle. Bolle meint, da wundere ihn rein gar nichts mehr. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 10-11-24 Die freiere Zeit

Der Preis der Freiheit.

So kam es, daß es in der Abenddämmerung, drei Tage nach Molotows Hinscheiden, in diesem Teil des Sörmländer Waldes so schlimm knallte wie seit den zwanziger Jahren nicht mehr. Der Fuchs flog in die Luft, ebenso wie Allans Hühner, Hühnerhaus und Holzschuppen. Doch der Sprengsatz reichte bequem auch noch für die Scheune und das Wohnhaus.

So heißt es in Jonas Jonassons ›Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand‹ aus dem Jahre 2009 im 28. Kapitel.

Hundert Jahre später, wieder in den zwanziger Jahren, genau genommen just diese Woche, hat es einmal mehr richtig geknallt: Mr Donald Trump wurde – gemessen am Wunschdenken und an den Schmähschriften eines weitgehend woken Journalismus 2.0 geradezu „erdrutschartig“ – zum 47. Präsidenten der Vereinigten Staaten designiert.

Dagegen nimmt sich beispielsweise ein Scholz’scher „Doppel-Wumms“ (2022) geradezu harmlos aus. Bolle jedenfalls fand das die spannendste Fernsehnacht seit der Mondlandung. Und das ist durchaus schon ein Weilchen her.

Natürlich war niemand vorbereitet. Hoffen und Harren // Macht viele zum Narren. Das war dem römischen Dichterfürsten Ovid schon vor zweitausend Jahren klar. Bis zuletzt hat man in der politischen Klasse ganz, ganz dolle daran geglaubt, daß dieser Kelch an ihnen vorübergehen werde. Ist er aber nicht. Nun heißt es eben auslöffeln.

In der ersten Schockstarre hieß es etwa, daß Trump bislang offengelassen habe, wie er seine vielen Ziele denn erreichen wolle. Das in der ersten Stunde nach dem Wahlsieg! Seriös ist das nicht. Bolle weiß von Polit-Prominenten zu berichten, die nach Jahren noch nicht wissen, wie sie ihre Ziele erreichen wollen – die, schlimmer noch, nicht einmal klar zu sagen wissen, was ihre Ziele überhaupt sind. Wenn wir von Friede, Freude, Eierkuchen nebst Rettung vor der Klimakatastrophe, Wohlstand für alle und Tod den Tyrannen nebst Rettung „unserer“ Demokratie, of course, einmal absehen wollen.

Vor einigen Wochen war Bolle auf einem 100-Jahre-Abi-Treffen. Das Schöne an solchen Veranstaltungen ist, daß man Leute trifft, die man ewig nicht gesehen hat, die aber ein Bild von einem von damals im Kopf haben. Dabei ergab sich am Rande die Frage nach den Grenzen der Meinungsfreiheit. „Wenn sich jemand verletzt fühlt“, meinte eine ehemalige Mitschülerin. „Nein“ – entfuhr es Bolle, schneller als er denken konnte. Und doch muß er sich im Nachhinein Recht geben. Natürlich soll man nicht unnötig grob werden. Aber letztlich scheint ihm die in den letzten Jahren um sich gegriffen habende PC (Political Craziness) nachgerade ein Einfallstor für fortschreitende Goethe’sche Schafsnatur zu sein (vgl. dazu So 09-06-24 Erst wählen, dann zählen).

Und auf vorgeschriebnen Bahnen
Zieht die Menge durch die Flur;
Den entrollten Lügenfahnen
Folgen alle. – Schafsnatur!

Das jedenfalls, soviel ist jetzt schon klar, will Mr Trump ändern – und dafür hat er durchaus gute Argumente. So heißt es etwa in einer Entscheidung des amerikanischen Supreme Court:

Das Recht zu denken ist der Beginn der Freiheit, und die Sprache muß vor der Regierung geschützt werden, weil die Sprache der Beginn des Denkens ist.

Lyrischer noch hat es Karl Kraus in seinem ›Pro domo et mundo‹ (1919) vor nunmehr 100 Jahren gefaßt.

Die Sprache ist die Mutter,
nicht die Magd des Gedankens.

Aber macht das mal einem Analphabeten oder auch nur einem Hülsenfrüchtchen klar.

Letztlich geht es wohl um die grundsätzliche Ausrichtung: Wollen wir eine politische Landschaft mit einem Souverän, der souverän ist, und seinen gewählten Vertretern tüchtig auf die Finger klopft, wenn sie außer Rand und Band geraten? Oder wollen wir eine mittelalterliche politische Landschaft, wie sie Umberto Eco in seinem ›Der Name der Rose‹ (1980) so trefflich beschreibt: Mit Hirten, Hunden und vielen gefügigen Schäfchen? Wie unsere Hirten derzeit mit dem Recht auf Redefreiheit umgehen, ist jedenfalls durchaus mittelalterlich. Kant hätte glatt ‘n Knall gekriegt – von wegen sapere aude (Bediene Dich Deines Verstandes). Haben vor Lachen? Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 03-11-24 Wo sind all die Indianer?

Wenn’s poppt, dann poppt’s.

Damit wir uns hier nicht falsch verstehen: Bolles ›Polit-PR-Offensiv-Plan‹ ist natürlich nur eine finstere Phantasie – um nicht zu sagen: Dystopie. Ganz im Gegenteil: Bolle ist schwer davon überzeugt, daß eine Gesellschaft – noch dazu eine Gesellschaft, die über kaum natürliche Rohstoffe verfügt – ohne Humankapital ziemlich dumm dastehen würde. Humankapital aber hat doch einiges mit Denken können zu tun. Was, bitteschön, denn sonst?

In diesem Zusammenhang will Bolle das Beispiel von Pol Pots Roten Khmer (1975–1979) nicht aus dem Sinn. Seinerzeit war man der herrschenden Partei schon dann verdächtig und im Zweifel füsilierungswürdig, wenn man – als Indiz für seine Intellektualität – zum Beispiel so etwas Verdächtiges wie eine Brille trug.

So weit sind wir hier bei weitem noch nicht. Allerdings: die Richtung stimmt. Spötter befürchten ja, daß eines nicht allzu fernen Tages das Denken an sich verboten werden könnte, damit die Dummen sich – wohl im Rahmen einer Inklusivitäts-Offensive – nicht zurückgesetzt fühlen mögen.

Diesmal hat es Udo Lindenberg erwischt. In seinem ›Sonderzug nach Pankow‹ (1983) nämlich kommt ein „Oberindianer“ vor. Grund genug für manches Hülsenfrüchtchen, hier „rassistische Diskriminierung“ zu wittern und das Wort auf den Index zu setzen.

Den Index? Gibt es denn einen? Und, falls Ja, wer hat den mit welcher Legitimation wo hinterlegt? Bolle mußte mehrere Tage warten, bis sich die Nebel der Empörung langsam lichteten und herauskam, daß es die ›Stiftung Humboldt-Forum im Berliner Schloss‹ war, die angesichts einer geplanten Sangesdarbietung auf das Lied an sich nicht verzichten wollte – aber doch bitteschön ohne den „Oberindianer“. Statt dessen solle man besser „Ober-I-I-I-I …“ singen – oder was auch immer.

Auch ist das alles keinesfalls neu. Allerdings wird es dadurch nicht besser. So gab es vor einigen Jahren schon Bestrebungen, PURs ›Wo sind all die Indianer hin‹ (1983) entsprechend anzumeckern. Seinen Kindern Cowboy und Indianer spielen zu erlauben – vor allem Indianer – geht ohnehin nur noch, wenn man eine lange und schmutzige Auseinandersetzung mit der jeweiligen Kita-Leitung nicht scheut und Wert darauf legt, wahrhaft resiliente Kinder großzuziehen.

Bolle – das müssen wir einräumen – fällt es wirklich nicht leicht, sich in Hülsenfrüchtchens Horizont reinzudenken. Allein das Motiv scheint klar: Es geht, wie’s scheint, um eine bessere Welt. Was aber soll das sein? Eine Welt ohne Indianer? Oder doch eine Welt mit Indianern – die dann allerdings nicht mehr so heißen dürfen?

Bolle wird das alles erst dann glauben wollen, wenn die Indianer vollständig rehabilitiert sind. Das aber würde neben einer allfälligen „Entschuldigung“ die Rückgabe sämtlicher besetzter Gebiete bedeuten sowie den vollständigen Rückzug der Bleichgesichter vom amerikanischen Kontinent. So ginge Glaubwürdigkeit! Konsequenz statt verquaster Sprachkosmetik! Das aber steht bis auf weiteres wohl kaum zur Disposition und wäre im übrigen auch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 27-10-24 Vorausschauend fahren! Können vor Lachen

Warum? // Ist die Banane krumm?

Manchmal ist eine Allegorie wirklich nicht das schlechteste, um sich selber die eine oder andere Einsicht noch deutlicher vor Augen zu führen. Und hat nicht auch der Erlöser der Christenmenschen stets in Gleichnissen gesprochen?

Neulich mußte Bolle an seine Fahrschulzeit denken. Das ist zwar schon ein Weilchen her – aber manches bleibt halt hängen. Insbesondere die folgende Szene steht Bolle heute noch klar vor Augen. Feierabendverkehr, die Straße vier- bis sechsspurig, eine topographisch etwas barocke Gabelung in Sicht.

„Vorausschauend fahren!“ mahnte der Fahrlehrer. „Sehen Sie denn nicht das Schild da vorne?“

In vielleicht 100 m Entfernung befand sich in der Tat ein riesiges blau-weißes Schild, quer über die Fahrbahnen gespannt. Auf dem Schild stand haargenau, wie die Spuren sich verteilen, welche Spur wohin führen wird – was also zu tun ist, um sich rechtzeitig richtig einzuordnen.

Bolle, seinerzeit schon durchaus faust-gestählt, meinte nur: „Das Schild da seh‘ ich wohl. Allein ich kann’s nicht lesen.“ In der Tat konnte Bolle das Schild an sich deutlich sehen. Auch konnte er Sinn und Zweck des ganzen klar erahnen. Die Feinheiten aber – also die eigentliche Beschriftung – wollte sich Bolle auf diese Entfernung aber durchaus noch nicht erschließen.

Was ist nun das Allegorische? Nun, vorausschauend zu fahren setzt voraus, daß einer hinreichend gut vorausschauen kann. Wenn einer (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) genau das aber eben nicht kann – und sei es aus dem schlichten Grunde, daß seine Äuglein nicht so scharf sind wie etwa die des Fahrlehrers, dann ist es Essig mit dem vorausschauenden Fahren.

Wir haben ›Dummheit‹ verschiedentlich umschrieben als ›unzureichende prognostische Kompetenz‹, also zum Beispiel das kognitive Unvermögen, die Konsequenzen seiner eigenen Entscheidungen gut genug überblicken zu können.

So etwas gilt natürlich als per se selbstwertbeschädigend. Erkläre jemandem, daß er dumm ist, oder erkläre ihm auch nur, daß Du an seiner prognostischen Kompetenz zweifelst, und er wird Dich hassen.

Aber wo, bitteschön, soll hier ein Unterschied sein, der einen Unterschied macht? Die einen können ihr Fahrzeug nicht so geschmeidig steuern, wie das aus der Sicht anderer wünschenswert wäre. Und zwar einfach deshalb nicht, weil sie nicht weit genug gucken können. Und manch andere können keine geschmeidigen Entscheidungen treffen – einfach deshalb nicht, weil sie die Konsequenzen nicht weit genug überblicken können.

Aus der Sicht der Talente – egal, ob wir hier von Sehkraft reden oder von so etwas wie Geisteskraft – mag derlei auf Unverständnis stoßen: „Das sieht man doch!“ Tut man ja auch – wenn man entsprechend scharfsichtig ist beziehungsweise scharfsinnig. Ansonsten aber eben nicht.

Und? Die Moral von der Geschicht? Erstens: Ihr Talente, laßt Milde walten. Die Luschen können schließlich nichts dafür, daß sie – in dieser Hinsicht (!) – relativ zu Euch minderbemittelt sind. Zweitens, und vor allem aber: Ihr – wiederum nur in dieser Hinsicht – relativen Luschen: Versucht nicht, Dinge zu tun, die andere nun mal besser oder sehr viel besser können als Ihr selbst. Ihr sollt nicht Rennfahrer werden wollen, wenn Ihr nicht scharfsichtig genug seid, und ihr sollt nicht Staaten lenken wollen, wenn Ihr nicht scharfsinnig genug seid.

Irgendwo wird wohl jeder ein gewisses relatives Talent haben – also etwas, das er besser kann als die Leute um ihn herum. Das gilt es zu pflegen und auszubauen. Versucht, umgekehrt, nach Möglichkeit zu vermeiden, Euch auf Gebieten zu tummeln, auf denen Ihr bestenfalls Mittelmaß seid. Das alles aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel …

So 20-10-24 Respekt, Digga!

Oh Zeiten, oh Sitten …

Es gibt eine Lehrmeinung, die besagt, daß bestimmte Wörter erst dann aufkommen, wenn das Kind bereits im Brunnen liegt. Ein Beispiel wäre etwa die vor rund 100 Jahren aufgekommene Neurasthenie mit der Kurzumschreibung: Raste nie und haste nie, sonst haste die Neurasthenie (vgl. dazu unseren Beitrag von neulich (So 15-09-24 Volk unter Strom).

In der Zeit davor „hatte“ niemand diese Form von Nervenschwäche. Ebensowenig wie heute: jetzt hat man „Burnout“. Die philosophische Frage, die zu beantworten hier allerdings viel zu weit führen würde, lautet: Gab es früher keine Neurasthenie bzw. keinen Burnout – oder gab es einfach nur kein Wort dafür?

Ganz ähnlich verhält es sich mit posttraumatischen Belastungsstörungen im weitesten Sinne. So weiß Bolle aus Gesprächen mit Zeitzeugen, daß jemand, dem die sogenannten Befreier 1945 das Haus überm Kopp weggebombt hatten, und der sich nach dem Angriff, als Kind (!) über Dutzende von Leichen steigend, mit knapper Not aus dem Keller ins Freie retten konnte, herzlich wenig Zeit und Sinn für derlei hatte.

Auch müssen wir uns nicht auf subjektives Erleben beschränken: So wirft zum Beispiel Robert Pirsig in seinem ›Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten‹ (1974) die nur auf den ersten Blick absurde Frage auf, ob es vor Isaac Newton (1643–1727) so etwas wie Gravitation überhaupt gegeben hat.

Heute sind die Zeiten friedlicher – zumindest hier und noch. Und so können wir friedlich der Frage nachgehen, ob das im letzten Bundestagswahlkampf 2021 fett plakatierte „RESPEKT FÜR DICH.“ (in Großbuchstaben, anbiederndem Du sowie mit Punkt am Ende) nicht vielleicht ein eher übles Vorzeichen war. Bolle zumindest schwante so etwas – von wegen Kind-im-Brunnen-Theorem.

Und so ist es dann ja auch weitestgehend gekommen. Bolle jedenfalls wüßte kein Beispiel, daß eine Regierung zu seinen Lebzeiten jemals derart hochfahrend mit ihrem Wahlvolk umgegangen wäre. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, daß es so manchem Entscheidungsträger kaum noch darum geht, was herkömmlicherweise als recht und billig erachtet wird. Offenbar geht es zunehmend darum, das gegebene Recht so zu biegen und zu kneten, daß man damit irgendwie noch durchkommt. Common sense? Rechtstradition? Gute Sitten und Gepflogenheiten? Kann alles weg. Stört nur beim revolutionären, möglichst schnellen Aufbruch in eine bessere Welt – oder was man dafür hält. Wenn’s der guten Sache dient, ist zu viel Recht ganz schlecht.

Wir durften das beim Heizungsgesetz erleben, von dem es später hieß, man sei womöglich „zu weit gegangen“, bei der Corönchen-Hysterie, bei der praktisch sämtliche Grundrechte bis auf weiteres suspendiert wurden, beim Ukraine-Krieg, der hausgemachten Migrationskrise, und so weiter und so fort.

Dann kam das Compact-Verbot mit seinen ungeahnten und bislang einmaligen juristischen Winkelzügen, die völlig respektlosen Geschehnisse in Thüringen und anderswo im Osten, und schließlich neuerdings die Bestrebungen um getreuliche Petzen („trusted flaggers“). Bolle meint: Ist doch alles nicht seriös.

Nach allem drängt sich der Eindruck auf, daß die Regierung meint, von einem Erziehungsauftrag ausgehen zu müssen: Hier die weisen Staatenlenker, dort der widerspenstige Teil des Volkes, der dringend diszipliniert werden muß („The beatings will continue …“). Das aber ist erstens schlicht kontrafaktisch und zweitens das schiere Gegenteil von ›Respekt für dich‹. Was dann?

In den 1980er Jahren schon gab es in einem Hamburger Hallenbad mal ein Problem mit marodierenden Jugendlichen. Die Jungs fanden es schick, den Mädels an den Oberteilen ihrer Bikinis zu zupfen. Aus heutiger Sicht eher harmlos. Die Mädels allerdings waren not amused. Was tun? Im ersten Ansatz hat man ein Team von Sozialarbeitern eingesetzt, die den Jungs was von Respekt und gewaltfreier Kommunikation verklickern wollten. Ohne jeden Erfolg, of course. Dann schließlich – einige Anläufe später – hat man einen Kerl angeheuert, der fast so breit war wie groß. Jedenfalls keiner, mit dem man sich unnötig würde anlegen wollen – schon gar nicht als hühnerbrüstiger Teenie. Kurzum: wo er war, war Ruhe. Allenfalls mußte er mal mit den Augen rollen. Und das Beste: Die Jungs haben ihn geliebt. So geht Respekt. So und nicht anders.

Die Regierung dagegen scheint sich, tout au contraire, an Bolles Entwurf einer Brav-Schaf-Verordnung zu orientieren:

§ 1  Es ist verboten, gegen die Regierung zu sein.
§ 2  Das gilt auch dann, wenn man nichts Verbotenes tut.
§ 3  Im übrigen behält sich die Regierung vor, entsprechendes Verhalten de lege ferenda (nach zukünftigem Recht) zu verbieten.
§ 4  Bis dahin wird die Regierung alles tun, einschlägiges Verhalten nach Kräften zumindest sozial und medial zu ächten. Dabei beruft sie sich auf die bewährten Grundsätze der wehrhaften Demokratie.
§ 5  Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.

Na, denn Prost!

Das alles kann natürlich nur funktionieren, wenn man es mit einem Journalismus 2.0 zu tun hat, der seine Hauptaufgabe darin sieht, sich an die vermeintlich Mächtigen mit Verve ranzuwanzen und der mit der in einer Demokratie ebenso unerläßlichen wie ehrenwerten Funktion als Vierte Gewalt nur noch herzlich wenig am Hute hat. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 06-10-24 Propaganda

Wie uns die Alten sungen …

Hier ein kleiner Beitrag aus unserer Historischen Reihe. Es handelt sich dabei möglicherweise um einen TV-Spot, der im amerikanischen Fernsehen wohl während der sogenannten McCarthy-Ära (etwa 1947–1956) ausgestrahlt wurde. Nichts genaues weiß man nicht. Gleichwohl hält Bolle den Beitrag für höchst instruktiv und nicht minder up to date. Der Text, den der jung-dynamisch-aufgeschlossene Yank in bester Märchenonkel-Manier vorträgt, geht wie folgt:

„Im Jahr 1943 wurde von der Parteizentrale folgende Direktive an alle Kommunisten in den Vereinigten Staaten herausgegeben. Sie lautete:
Wenn bestimmte Quertreiber zu lästig werden, bezeichne sie nach einem geeigneten Aufbau als Faschisten oder Nazis oder Antisemiten und nutze das Ansehen der antifaschistischen und der Toleranzorganisationen, um sie in der Öffentlichkeit zu diskreditieren.
Assoziieren Sie in der öffentlichen Meinung diejenigen, die gegen uns sind, ständig mit Begriffen, die bereits ein schlechtes Image haben. Diese Assoziationen werden, wenn sie oft genug wiederholt werden, in der öffentlichen Meinung zu einer Tatsache werden.“

Soweit der Vortrag unseres aufrechten Yanks.

Warum ist das aufschlußreich? Gehen wir zunächst davon aus, daß das alles wirklich wahr ist, daß es also in der Tat eine entsprechende Direktive seitens der Parteizentrale gegeben habe. Bezüglich der (wie man heute sagen würde) nackten Fakten wollen wir also weder meckern noch mäkeln.

So gesehen handelt es sich bei dem Beitrag um eine echte Nachricht – und nicht etwa um Propaganda. Dabei wollen wir unter ›Nachricht‹ die Übermittlung von etwas verstehen, was ist. Unter ›Propaganda‹ dagegen wollen wir die Übermittlung von etwas verstehen, was der Empfänger nach Ansicht des Senders für „richtig“ (i.S.v. ›wünschenswert‹) halten soll. Vermutlich deshalb spricht man heute auch von „Haltungs-Journalismus“. Ohne hier weiter darauf eingehen zu wollen: Der Unterschied ist ähnlich evident wie der zwischen Schwester Logik  und Schwester Ethik – also durchaus elementar.

Die drei Töchter der Philosophie.

Dabei kommt Propaganda oft indirekt um die Ecke. Statt zu sagen: „Wir sind die Guten“ – was so ja auch meist nicht stimmt bzw. zumindest schwierig zu begründen ist – verlegt man sich lieber auf „Die sind die Bösen“. Schmähkritik sticht Selbstkritik.

Was unseren Beitrag angeht: „Faschisten“, „Nazis“ und „Antisemiten“ haben sich erstaunlich gut gehalten und erfüllen – nach immerhin etwa 80 Jahren bzw. knapp drei Generationen – heute durchaus noch ihren Zweck. Hinzugekommen sind allerdings Sexismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit ganz allgemein.

Wenn die Leute das erst mal sprichwörtlich gefressen haben, lebt es sich doch sehr viel entspannter als Teil der Guten. Was das Böse angeht: Wenn man es schon nicht ausrotten kann, so könnte man es doch wenigstens versuchen zu verbieten. Sancta simplicitas. Bolle meinte ja neulich schon: Sitten wie in Hollywood (vgl. dazu So 22-09-24 Opinio et Reactio).

Ansonsten meint er ja immer: Wenn es dann doch so etwas wie eine Spaltung der Gesellschaft geben sollte, dann ja wohl die durchaus medien-inszenierte Spaltung in Gut und Böse. Das wiederum kann nur funktionieren, wenn man eine gewisse Schlichtheit im Geiste unterstellt – sowohl bei den Medien-Schaffenden als auch bei einem erheblichen Teil ihrer Rezipienten. Und? Wer ist schuld? Natürlich niemand. Verweisen wir einmal mehr auf Arachs ›Mensch, lern das und frag nicht!‹. Wer, namentlich in der Oberstufe, so sozialisiert wird, wächst nachgerade naturgemäß in den Kreis der geistig Armen. Möge das Himmelreich ihrer sein (Matth. 5, 3). Hier auf Erden richten sie eher allerlei Schabernack an. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 29-09-24 Die Qual der Wahl

So kann’s gehen …

Der Osten hat gewählt. Fast möchte man sagen: schon wieder. Letzten Sonntag duften wir die dritte Wahl binnen dreier Wochen (plus einem Tag) erleben. Dabei hat eine solche Häufung einiges für sich. Wie unter dem Brennglas erschließt sich dem Beobachter die Stimmung im Volke.

Und? Was ist passiert? Grob gesagt könnte man sagen: Ene mene Miste, es rappelt in der Kiste. Die FDP ist aus allen drei Parlamenten geflogen, die Grünen und die Linke aus immerhin zwei Parlamenten. Allein die Volkspartei SPD ist nirgends rausgeflogen. In zwei Parlamenten ist sie mit 6 bzw. 7 Prozent der 5%-Hürde allerdings bedenklich nahegekommen.

Was die Exekutive angeht – also das, was das Wahlvolk eigentlich interessiert: In allen drei Parlamenten wurden die bestehenden Regierungen abgewählt. Zwar hat sich die Polit-Prominenz nach Kräften bemüht, sich die Ergebnisse schönzusäuseln. Allein die Schockwellen reichten bis nach Berlin. Dort wurde im Rahmen der üblichen Ränkespiele dem Parteivorstand der Grünen ein Rücktritt – gewissermaßen für Volk und Vaterland, zumindest aber im Hinblick auf die Wahlen nächstes Jahr – verordnet, und der Vorstand der Jung-Grünen ist nicht nur zurück-, sondern gleich ganz aus der Partei ausgetreten. Kurzum: das große Flattern allerorten.

Dabei könnte alles so einfach sein. Wenn das Volk sich aus rein praktischen Gründen schon nicht selber regieren kann, dann sollte es wenigstens entscheiden können, wer es regieren soll, beziehungsweise zumindest, wer es nicht länger regieren soll.

Karl Popper hatte das seinerzeit wie folgt auf den Punkt gebracht: Sinn und Zweck einer Demokratie bestehe darin, daß es dem Volke als Souverän möglich sei, die Herrschenden gegebenenfalls „ohne Blutvergießen“ abwählen zu können.

Nun ist der Deutsche (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) an sich ja wirklich kein Revolutionär. So soll Lenin einmal gesagt haben: „Revolution in Deutschland? Das wird nie was. Bevor die Deutschen einen Bahnhof besetzen, lösen sie erst mal eine Bahnsteigkarte.“

Aber davon ab: Die Herrschenden bei Mißfallen ohne Blutvergießen auszutauschen ist in Deutschland – anders als etwa in den USA – ohnehin nicht möglich (vgl. dazu etwa Sa 10-12-22 Das zehnte Türchen …). Das einzige, was in Deutschland möglich ist, ist eine Verschiebung der Machtverhältnisse in der Legislative. Die Herrschenden werden dort gewählt bzw. (via Koalitionsverhandlungen) ausgekungelt.

Und diese Kungeleien können durchaus absurde Züge annehmen. Um bloß nicht das zu machen, was das Volk will, soll nun ebenso plötzlich wie nolens volens zusammenwachsen, was wohl wirklich nicht zusammengehört. Die seriöseren unter den politischen Beobachtern munkeln schon, daß die Zustände in Deutschland auf ein Zwei-Parteien-System hinauslaufen: Die Blockparteien beliebiger Couleur auf der einen Seite, die AfD auf der anderen.

Mit Hinblick auf drei Jahre – man möchte sagen – Ampelmurks sind durchaus Zweifel angebracht, ob das funktionieren kann und wird. Bolle jedenfalls hat da so seine Zweifel.

Dabei war Demokratie noch nie so wichtig wie heute. Schließlich wurde sie mit Fleiß als das Distinktionsmerkmal dieser Welt herausgeputzt: Demokratie einerseits, Despotie andererseits: Die Guten sind die Demokraten, die Bösen die Despoten.

Daraus folgt, wenn man es mit Begrifflichkeit und Logik nicht allzu genau nimmt, daß das, was Demokraten tun, per se gut ist, und das, was Despoten tun, per se schlecht und böse. Man könnte auch sagen: Die Bösen spalten, die Guten haken sich unter. Bolle meint: Zustände wie in Hollywood.

Und wehe, das Volk spielt nicht mit. Dann muß es natürlich verboten werden, of course. Zumindest aber weggebissen. Auf die Vorkommnisse bei der Konstituierung des Thüringer Landtages (nebst deren Zerrspiegelung in manchen Mainstream-Medien) wollen wir hier lieber nicht weiter eingehen.

Manchmal würde sich Bolle ja ein Mindestmaß an Common Sense wünschen – hier verstanden als grundsätzliches Einvernehmen auf der Meta-Ebene, also oberhalb der Objekt-Ebene (also dem, um das es im Einzelnen gerade gehen mag). Doch vergebens predigt Salomo …

Übrigens sind heute schon wieder Wahlen. Dieses mal in Österreich. Kickln wa ma … Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 22-09-24 Opinio et Reactio

Dem scheint das so zu sein …

Die Geschmäcker sind verschieden – und waren es wohl auch schon immer. De gustibus non est disputandum – Über Geschmack läßt sich nicht streiten. Das ist, wenn wir genauer hinschauen, spätestens seit Aristoteles (384–322 v. Chr.), also seit etwa zweieinhalbtausend Jahren klar. Das gleiche gilt für Meinungen, of course, da es sich hierbei ja nur um kognitive Geschmacksfragen handelt. Dabei wollen wir unter Meinung hier nur die mal eben hingehauene Ansicht, opinio, verstehen. Bolle unterscheidet das von doxa, einer durchdachten und wohlbegründeten Sicht auf die Dinge.

Betrachten wir unser Schildchen: Es beschreibt den Blick zweier Personen – hier Anton (A) und Bolle (B) – auf ein und dieselbe Sache, die wir hier Gegebenheit (X) genannt haben. Soweit sozusagen die nackten Fakten. Nehmen wir nun an, Anton fände die Gegebenheit „voll toll“, Bolle dagegen fände die gleiche Gegebenheit „ungut“.

Kann so etwas sein? Aber Ja doch. Es ist sogar der absolute Regelfall. So heißt es etwa in einem der Meinungsmacher-Blättchen dieser Tage: Seit Corona ist meine Schwester total abgedriftet, wir können gar nicht mehr über Politik reden. Dabei ist der Grund laut Blättchen schnell erkannt: Die Menschen im eigenen Umfeld haben sich „radikalisiert“. Selber liegt man natürlich völlig richtig mit seiner Opinio. Vielleicht aber haben sie sich gar nicht radikalisiert. Vielleicht sehen sie einfach nur wenig Nutzen und Frommen in einer Diskussion über Geschmacksfragen – und halten das, nicht ganz zu Unrecht, für reine Zeitverschwendung.

Schließlich läßt sich mit keiner Bolle bekannten Methode entscheiden, ob eine Gegebenheit X „voll toll“ ist oder eher „ungut“. Das hat Konsequenzen (Reactio). Auf der interpersonalen Ebene wird Anton Bolle (zumindest im Modell) aus rein konsistenztheoretischen Gründen „übel, übel“ finden – beziehungsweise zumindest nicht mögen und als Person (!) ablehnen.

In der Tat zeigt sich eine Tendenz, aggressive Argumentations-Attrappen geradezu zu kultivieren (falls man hier überhaupt von „Kultur“ sprechen kann).

Neben Radikalinski ist man nach dieser Ansicht schnell Sexist, Rassist, Stalinist – und was dergleichen Schubladen mehr sein mögen. Zunehmender Beliebtheit erfreut sich auch der Verfassungsfeind – als wäre die Verfassung dafür da, bestimmte Ansichten zu schützen und andere zu verfemen. Als wäre die Verfassung überhaupt dazu da, den Umgang der Bürger untereinander zu regeln.

Gleichwohl: Bei aller Unterschiedlichkeit der Ansichten – ein bißchen sozialer Kitt muß dann wohl doch sein, wenn eine Gesellschaft einigermaßen gedeihlich funktionieren soll.

Eine von ganz oben runtergejubelte Aufforderung, sich doch bitteschön unterzuhaken – als wären wir im Dauerfasching –  und die Dinge „gemeinschaftlich“ anzupacken, wird da sicherlich nicht allzu viel nützen. Das nämlich liegt einfach zu sehr über Kreuz mit elementarer Sozialpsychologie.

Bolle sieht zur Zeit nur einen einigermaßen erfolgversprechenden Weg. Statt jeden, der anderer Ansicht ist, als „übel, übel“ einzustufen, könnte man es mit Epiktets (ca. 50 bis ca. 138 v. Chr.) stoischer Haltung probieren: „Dem scheint das so zu sein“.

Das allerdings würde voraussetzen, daß die lieben Mitbürger überhaupt erst einmal wieder ernstlich die Möglichkeit ins Auge fassen, daß es zu ein und derselben Gegebenheit gleich mehrere mögliche Ansichten geben kann. Und hier sieht es im Moment wirklich nicht allzu gut aus. In seinem durchaus lesenswerten Buch ›Mensch, lern das und frag nicht‹ zeigt Hauke Arach anhand einer Untersuchung von Schulbüchern, wie den lieben Kleinen das Denken in Möglichkeiten systematisch ausgetrieben wird. Eine Wahrheit muß genügen! Mehr hält man ja im Kopp nicht aus! Bolle meint: Von das kommt das, und Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.

Im übrigen sind heute Wahlen im Osten – schon wieder. Auch dieses mal geht es offenbar um den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, Demokraten versus Verfassungsfeinde, Mitte gegen Extremisten. Das alles aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 08-09-24 Finden verboten – streng verboten

Lob der Linie.

Reden wir über Normen. Und fassen wir uns kurz und beschränken uns zunächst auf soziale Normen. Unter Normen versteht man anerkannte und als verbindlich geltende Verhaltensregeln, die sich in einer Gesellschaft herausgebildet haben.

Dabei beruhen soziale Normen im Wesentlichen auf Werten (im Sinne von ›Allgemeines Für-richtig-halten‹). Die Werte wiederum sind, grob gesagt, Ausfluß der Sozialisation, die einer (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) erfahren hat. Spötter meinen ja, Sozialisation sei, wenn man so wird wie die Leute um einen herum – wobei wir nicht vergessen wollen, daß oft der Scherz das Loch ist, durch das die Wahrheit pfeift. Kurzum: Man hält sich in der Regel an soziale Normen, weil man sie verinnerlicht hat. Man handelt, um es mit Max Weber zu sagen, traditional, also aus eingelebter Gewohnheit bzw., in Bolles Sprache, aus der Mappa mundi vitiosa heraus (vgl. dazu etwa So 25-08-24 Denkmal zur Wahl). So pinkelt man, um nur ein Beispiel herauszugreifen, als zivilisierter Mitteleuropäer üblicherweise nicht einfach an den nächsten Baum – auch dann nicht, wenn man ganz dringend mal muß.

Auch kann es nicht schaden, sich klarzumachen, daß soziale Normen recht regional sind. Sie reichen gerade mal so weit wie die relevante Gruppe, deren Zusammenhalt sie dienen. So ist es etwa in Bayern völlig „normal“ (im Sinne von normgerecht), gleich zum zweiten Frühstück ein Bierchen zu trinken. Auf dem Wochenmarkt hier im Dörfchen mußte Bolle sich exaktemente deswegen aber schon mal anpampen lassen – allerdings nur von einem Zugereisten, versteht sich. Natürlich hat sich Bolle ganz köstlich amüsiert.

Welche Norm ist nun die „richtige“? Nun, es liegt im Wesen des allgemeinen Für-richtig-haltens, daß es hier kein „richtig“ gibt – und auch nicht geben kann. Wenn die Leute in Bayern ein Bierchen zum Frühstück trinken und das allgemein in Ordnung finden, dann ist das ebensowenig zu beanstanden, wie wenn das in der Herkunftsregion unseres Zugereisten eben nicht so ist.

Dumm wird es nur, wenn die Zugereisten meinen, daß das, was sie allgemein für richtig halten, bitteschön auch für alle anderen zu gelten habe. Mehr noch: wenn die Zugereisten meinen, daß diejenigen, die nicht ihren Vorstellungen entsprechen, deswegen (!) schlechte Menschen seien, und folglich (!) abgekanzelt gehören. Die Briten übrigens haben hierfür eine sehr schöne Wendung: When in Rome, do as the Romans do – Wenn Du in Rom bist, benimm dich, wie ein Römer sich benimmt.

Nun wird man einen einzelnen Zugereisten verschmerzen können. Richtig dumm wird es allerdings, wenn sich im Zuge überschäumender Globalisierung die Völkerscharen schneller durchmischen als die sozialen Normen auch nur ansatzweise hinterherkommen können. Dabei geht der Trend dahin, alles zu verbieten, was nicht das Zeug zu einer weltumspannenden sozialen Norm hat – was allerdings nicht zuletzt unserer Grundannahme widersprechen würde. Aber was kümmert das ein Glühwürmchen mit heißem Herzen und hinkendem Hirn. Schaut Euch um auf der Welt. Genau das ist es, was zur Zeit passiert. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 01-09-24 Fanal zur Wahl

Was wo hingehört.

Zugegeben: Unser kleines Flußdiagramm letzte Woche (So 25-08-24 Denkmal zur Wahl) konnte in seiner schlichten Prägnanz durchaus ein wenig irritierend wirken. Gleichwohl wäre es nicht ganz einfach zu begründen, was daran denn so richtig falsch sein soll. Zumindest scheint es dieser Tage zum Leidwesen von manch etabliertem Polit-Professional (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) eine erhebliche Zahl von Wählern zu geben, die die Dinge exakt so sehen und sich auch anschicken, entsprechend zu wählen. Auch das wirkt auf gewisse Kreise durchaus irritierend.

Was Bolle für sein Teil irritiert, ist diese Melange aus gleichzeitiger Dickfelligkeit und Dünnhäutigkeit. Dickfelligkeit, was die über jeden Zweifel erhabene Überzeugung angeht, selber auf dem rechten Weg zu sein. Man müsse dem Volk das eigene Tun nur besser erklären – dann werde alles gut. Man müsse die Leute „mitnehmen“ – und sei es nach Utopia. Dünnhäutigkeit, was den Umgang mit abweichenden Ansichten angeht. Da nennt einer einen Politiker ›fett‹ – was ja mitunter durchaus stimmen mag – und schon hagelt es Strafanzeigen, als könne man die rechte Gesinnung juristisch erzwingen. Oder man findet sich, wenn das alles nichts nützt, auf einer Beobachtungsliste des Verfassungsschutzes für unbotmäßiges Verhalten „unterhalb der Strafbarkeitsschwelle“ wieder.

Daß zumindest der klügere Teil im Volke derlei so rein gar nicht zu goutieren weiß, sorgt dann wiederum für gehörige Irritation. Wie kann man nur so fehlgeleitet sein und die überschäumende Weisheit von „uns hier oben“ so rein gar nicht zu schätzen wissen? Bolle hält es an solchen Stellen mit Goethes Knopfloch-Theorem aus seinen ›Maximen und Reflexionen‹:

Wer das erste Knopfloch verfehlt,
kommt mit dem Zuknöpfen nicht zurande.

Ganz grundsätzliche Einsichten – etwa, daß das Volk der Souverän ist und nicht etwa, aller ›Helfen/Retten/Schützen‹-Rhetorik zum Trotze, der Schutzbefohlene der Regierung, den es gehörig zu erziehen gilt – können da leicht schon mal hintunterfallen.

Bolles jüngster Lieblings-Terminus für den ganzen Kladderadatsch ist übrigens ›hochkomplexe Gemengelage‹ – wobei sich Bolle ›komplex‹ mit „Blicke nicht mehr durch“ übersetzt, ›hochkomplex‹ mit „Blicke überhaupt nicht mehr durch“, und die ›Gemengelage‹ als albern-ironisches i-Tüpfelchen obendraufsetzt. Im übrigen wartet ein kluger Prophet die Ereignisse ab. Hinterher – in diesem Falle heute abend – ist man bekanntlich schlauer. Damit wären wir bei Plisch und Plum:

Aber hier, wie überhaupt,
Kommt es anders, als man glaubt.

Vielleicht ist alles aber ganz einfach und läßt sich leicht mit Professor Creys (alias Schnauz) schlichter Stellungnahme erklären:

Pfeiffer, sä send albern. Ehnen fählt die sittliche Reife.

Bolle meint: denkbar wär’s – auch und vor allem, was die Polit-Prominenz angeht. Will man sowas wirklich wählen? Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.