Do 22-12-22 Das zweiundzwanzigste Türchen …

Wat den eenen sin Uhl …

Wat den eenen sin Uhl, is den annern sin Nachtigall. Die Einsicht ist, wie’s scheint, uralt. Die Geschmäcker sind nun mal so verschieden, daß es wenig Sinn macht, darüber zu streiten: de gustibus non est disputandum.

Wir haben hier eine x-beliebige Eigenschaft – nennen wir sie ›ping‹ – nebst ihrem Gegenteil – nennen wir es ›pong‹ – nebst deren möglichen Ausprägungen, ›maßvoll‹ vs. ›extrem‹, in eine 4-Felder-Tafel einsortiert. Die Technik läßt sich übrigens bis mindestens auf Aristoteles zurückverfolgen – auch wenn der, soweit wir wissen, noch keine 4-Felder-Tafeln benutzt hat.

Im Beispiel gehen wir davon aus, daß jemand von Haus aus ein vorsichtiger Mensch ist, ›ping‹. Das Gegenteil, ›pong‹, wäre demnach, mutig zu sein. Wir hätten übrigens ebensogut ›Yin und Yang‹ sagen können. Das allerdings sind keine Adjektive im engeren Sinne. Bleiben wir also bei ›ping‹ und ›pong‹ für Teil und Gegenteil.

Das interessante an dieser Stelle: Jemand, der sich selbst als vorsichtig einstufen würde, würde jemanden, der das Gegenteil verkörpert, also eher „mutig“ ist, keinesfalls als mutig einstufen, sondern eher als – leichtsinnig. Umgekehrt würde jemand, der sich selbst für eher mutig hält, sein Gegenstück nicht etwa vorsichtig nennen, sondern eher „ängstlich“. Kurzum: Es gibt eine gewisse Neigung, alles, was uns fremd oder zumindest unverständlich anmutet, zumindest sprachlich abzuwerten. Daß eine solche pejorative Kategorisierung wenig der Toleranz und erst recht nicht der Akzeptanz förderlich sein kann, dürfte unmittelbar einleuchten. Und doch scheint es so zu sein.

Hier ein Beispiel aus dem richtigen Leben. Bolle war zu einer Geburtstagsparty eingeladen. Die Party wurde über eine WhatsApp-Gruppe organisiert. Nach Wochen des kommunikativen Hin und Her’s kam dann der erste damit raus, daß ja wohl alle getestet sein würden. Sonst könne er, leider, leider, nicht kommen. Aus seiner Sicht offenbar der Typ ›vorsichtig‹. Aus Bolles Sicht natürlich eher der Typ ›ängstlich‹. Also, was tun?  Helwigs Werte (so heißen solche 4-Felder-Tafeln) in der WhatsApp-Gruppe ausdiskutieren? Absehbar wenig erfolgversprechend und damit sinnlos. Bleibt wegbleiben. Mit oder ohne Abmeldung? Die guten Sitten verlangen nach einer Abmeldung – der Erhalt der guten Laune spricht allerdings dagegen.

Wie allgemein damit umgehen? Alles zu unterlassen, was irgend jemanden (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) auch nur stören könnte, kann aus rein mathematischen Gründen nicht die Lösung sein. Es gibt nun mal absehbar dermaßen viele Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten, daß die Lösungsmenge rucki-zucki auf die leere Menge zusammenschnurren würde. Eine Diskussion darüber zu führen, ob es „besser“ ist, vorsichtig zu sein oder ob es besser ist, mutig zu sein, ebensowenig. Wir befinden uns hier in der Domäne von Schwester Ethik (vgl. dazu So 24-01-21 Dreschflegel) – und die ist für Argumente nun mal völlig unzugänglich.

Und so wurde die Spaltungsdynamik, hier im ganz Kleinen schon, um einen weiteren Fall bereichert. Eine grundsätzliche Lösung ist, wie’s scheint, nicht in Sicht. Das soll uns aber nicht die Weihnachtsstimmung verderben – und wäre im übrigen auch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Do 15-12-22 Das fünfzehnte Türchen …

Dicht vorbei ist auch daneben …

Im Bestreben, es etwas gemütlicher angehen zu lassen, hatten wir gestern (Mi 14-12-22 Das vierzehnte Türchen …) Henry Ford, Automobilhersteller und Aphoristiker, zu Wort kommen lassen. Daß wir gegenwärtig in einer Welt leben, in der ein Begriff wie „Versteher“ bis in höchste Partei- und Pressekreise nachgerade zum Schmähwort mutieren konnte, hatten wir dabei nur am Rande erwähnt.

Hier noch ein kleiner Nachtrag zu Henry Ford. Nach einem Anekdötchen soll sich seinerzeit folgendes zugetragen haben. Eine von Fords Maschinen lief nicht rund und er ließ einen externen Mechaniker kommen. Der warf einen fachkundigen Blick auf das Problem und löste es binnen weniger Minuten. Auf der Rechnung stand: „Schraube anziehen: 20 Dollar“. Waas? 20 Dollar für Schraube anziehen? Henry Ford war entsetzt und wollte nicht zahlen. (Dazu muß man wissen, daß 2 Dollar in etwa dem Tageslohn eines Arbeiters entsprochen haben.) Woraufhin der Mechaniker – offenbar nicht nur der Mechanik kundig – eine neue Rechnung ausgestellt hat: „Schraube anziehen: 50 Cent. Wissen, welche Schraube: 19 Dollar 50 Cent.“ Ford soll anstandslos gezahlt haben.

Was will uns das sagen? Nun – wäre Henry Ford ein Spitzenpolitiker kontemporärer Prägung gewesen, hätte er den Mechaniker wohl unverrichteter Dinge wieder nach Hause geschickt, die Rechnung wegen Annahmeverzuges (so heißt das zumindest im deutschen Recht) wohl trotzdem bezahlen müssen und überdies laut und vernehmlich „Mit dem Geschäfte machen? Nie wieder!“ gebrüllt.

Und so gibt es auch im Kleinen Unterschiede, die durchaus einen Unterschied machen. Die Ford Motor Company gibt es heute noch. Ob das für weitere Kreise der aktuellen Politprominenz demnächst auch noch gelten wird – darauf würde Bolle nicht mal einen Pfifferling verwetten. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Sa 10-12-22 Das zehnte Türchen …

Kurzdialog: — Bolle ist doof! — Definiere ›doof‹.

Hier also – wie vorgestern schon erahnt und gestern regulär angekündigt, der erste Teil unserer kleinen Trias ›Demokratie/Rechtsstaat/Verfassungsstaat‹.

›Demokratie‹ gehört – man kann das wohl kaum anders sagen – linguistisch gesehen zur Gruppe der meliorativen Blähwörter: Klingt gut bzw. soll gut klingen, ist dabei aber wenig trennscharf. In Bolles Kreisen spricht man auch von „Wünsch-Dir-was“-Wörtern. Die systematische Verwendung solcher Begriffe nennt man ›Waber-Laber‹. Dabei ist derartiger Sprachgebrauch gar nicht mal so selten: Prominente Beispiele wären etwa ›Leistung‹ (als Grundbegriff der „Leistungsgesellschaft“) oder auch ›Wettbewerbsfähigkeit‹ (als Grundbegriff wirtschaftspolitischer Ausrichtung).

Damit eignet es sich als Begriff hervorragend zur Errichtung quasi-staatsreligiöser Systeme. Wenn man der kontemporären Polit-Prominenz oder auch weiten Teilen der Presse so zuhört, könnte man meinen, ›Demokratie‹ sei so etwas wie die ›Herrschaft der Guten‹ (vgl. dazu auch So 06-12-20 Das sechste Türchen — Nikolausi …). So krass darf man das natürlich nicht sagen, of course – auch wenn „gefühlt“ genau das gemeint ist: Israel als einzige Demokratie im Nahen Osten, Indien als größte Demokratie in Fernost, etc. bla bla – immer im Gegensatz zu den weniger Guten.

Was aber meinen wir inhaltlich, wenn wir von ›Demokratie‹ reden? Ganz wörtlich die Herrschaft des Volkes, of course. Dabei gilt es als zulässig, wenn das Volk zumindest mittelbar herrscht, indem es seine Herrscher alle Jubeljahre einmal wählen geht.  Diese Lesart hat übrigens auch Popper überzeugt – der die Vorzüge einer Demokratie ganz bescheiden darin sieht, daß es möglich ist, die Herrschenden bei Mißfallen „ohne Blutvergießen“ abwählen zu können.

Dumm nur, daß nach dieser Definition Deutschland eben keine Demokratie wäre. In Deutschland kann man nur seine Legislative wählen – die dann wiederum aus ihren Reihen eine Regierung bildet. In den USA zum Beispiel ist das anders. Da wird der Präsident (fast) direkt vom Volk gewählt, und zwar jeweils zeitversetzt – so daß es nicht selten vorkommt, daß Regierung und Parlament verschiedenen Lagern entstammen. In Deutschland dagegen kann man seine Regierung nur abwählen, indem man zunächst andere Parteien in die Legislative wählt. Was die dann damit machen – von Koalitionsbildungen bis hin zur Bestimmung des Regierungschefs – steht weitestgehend in den Sternen.

Was ist dann der Inhalt? Das Zauberwort heißt ›Partizipation‹. Gib den Leuten um Dich herum – egal, ob wir hier von einem Staatswesen reden, einem Unternehmen oder auch nur einer Familie – das Gefühl, daß sie auch was zu sagen haben, und schon werden sie Dir sehr viel williger folgen. Das Gefühl reicht völlig – wirklich zu sagen haben müssen sie nichts. In Bolles Kreisen sind das elementare sozialpsychologische Einsichten. Die Frage ist: kann man auf ein so windiges und so leicht zu durchschauendes Konzept eine ganze Staatsreligion aufbauen? Die Antwort: man kann, wie’s scheint. Auf der „gefühlten“ Ebene liegt die intellektuelle Latte nun mal nicht allzu hoch. Dazu ein Kurzdialog zwischen den drei Königen aus dem Morgenlande – wie ihn Lilli Bravo aufs Feinste auf den Punkt gebracht hat:

Der erste König: „Ein fliegendes Kind im Nachthemd möchte, daß wir dem Baby einer Jungfrau Geschenke bringen.“ — Der zweite: „Crazy! Ich bin dabei!“ — Der dritte: „Klingt plausibel.“

Wie wir unschwer erkennen können – zumal jetzt zur Weihnachtszeit der Christenmenschen, stehen auch andere große Ideen kognitiv auf eher tönernen Füßen. Darauf also kommt es offenbar nicht an. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Mi 22-12-21 Das zweiundzwanzigste Türchen …

Ansichten eines Baumes.

Daß „Fakten“ in einem relationalen Universum nicht monolithischer Natur sind, sondern schwer davon abhängen, welche Perspektive einer (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) einnimmt, haben wir uns ja längst klargemacht. Unser heutiges Türchen soll uns allegorisch erhellen, daß auch das, was einer „findet“ bzw. empfindet (vgl. So 19-12-21 Das neunzehnte Türchen — der vierte Advent …) – und sei es auch nur Mitleid –, nicht zuletzt eine Frage der Perspektive ist. Falls jemanden noch Zweifel plagen sollten – was ja einer agnostisch-kontemplativen Haltung durchaus zuträglich sein dürfte: Versetzt Euch einfach mal in die Perspektive eines stolzen Baumes am anderen Ende der Allee.

Und so bleibt es bei der Frage, die sich immer wieder stellt: Scheint die Welt so groß und vor allem auch so „komplex“, weil der Kopf so klein? (vgl. Mo 29-03-21 Osterruhe ohne Ende). Das aber wär’ für heute dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel …

Sa 18-12-21 Das achtzehnte Türchen …

Hört auf Lehrer Lämpel — hört auf die Wissenschaft!

Bei unserem heutigen Türchen handelt es sich um den Kern vom »Schluß« von Wilhelm Buschs »Max und Moritz«, of course. Ein Wunder, daß das noch nicht auf dem Index steht – von wegen etwa der vierte Streich mit der Explosion von Lehrer Lämpels Meerschaumpfeife:

Nase, Hand, Gesicht und Öhren
Sind so schwarz als wie die Möhren.

Das ist zwar inhaltlich nicht gaanz richtig – Möhren sind eher gelb-orange – aber bitteschön. Wenn’s den kontemporären Befindlichkeiten dient …  Und ist nicht schon Wilhelm Busch im Namen von Schwester Ästhetik recht freizügig mit der Sprache umgegangen? Bolle meint: Was der Ästhetik recht ist, ist der Ethik billig. Oder etwa nicht?

Neulich hat Bolle, ganz am Rande nur, natürlich, mit einem Öhr in eine Talkshow reingehört. Da saßen sie alle, die alten weißen Männer (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) und konnten sich vor seliger Selbstgerechtigkeit gar nicht einkriegen zu betonen, wie unverständlich doch das Unverständnis der Unwilligen sei. In Bolles Kreisen nennt man so etwas „mangelnde Akkuratesse der Sozialperspektivität“ – das völlige Unvermögen, sich eine andere als die eigene Perspektive auch nur vorstellen zu können. Eine Fähigkeit übrigens, die unter Primatenforschern als Zeichen von Intelligenz gilt. Daß man überdies anderen Perspektiven unmöglich mit Argumenten beikommen kann, hatten wir neulich schon (vgl. Do 16-12-21 Das sechzehnte Türchen …) anhand eines sehr schlichten Exempels geklärt. Doch weiter mit unserer Talkshow: Dort hieß es, man müsse dem „mit allen Mitteln des Rechtsstaates entschlossen entgegentreten“. Schließlich gelte:

In Gefahr und großer Noth
Bringt der Mittel-Weg den Tod.

Wenn das kein hübsches Motto für eine verhagelte Schönwetterdemokratie ist …  Der Spruch stammt aus Friedrich von Logaus (1605–1655) umfangreicher Epigramme-Sammlung. Da steht übrigens durchaus noch einiges mehr – wie etwa:

Leb ich / so leb ich!
Dem Herren hertzlich;
Dem Fürsten treulich;
Dem Nechsten redlich;
Sterb ich / so sterb ich!

Das hätte ohne weiteres auch vom Erlöser der Christenmenschen (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) stammen können – wenn auch vielleicht etwas gleichnishafter formuliert. Von Logau für sein Teil war vom 30-jährigen Krieg (1618–1648) gestählt und hatte offenkundig noch Koordinaten im Kopp. Bolle meint: Mit solchen Leuten in Talkshows würd ick doch glatt mit mehr als nur nem halben Öhr hinhören. Das aber ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel …

Do 09-12-21 Das neunte Türchen …

Hört auf die alten Meister …

Hier also, wie versprochen – oder wie zumindest angedeutet –, ein deutlicher Schritt Richtung weihnachtlich. Das gilt zumindest dann, wenn wir uns nicht unbedingt auf ein doch etwas hochtrabendes „Fest der Liebe“ kaprizieren wollen und uns dafür mit einem ebenso schlichten wie agnostisch-kontemplativen „Memento an das Mitgefühl“ bescheiden. That’s a start, isn’t it?

Und? Wer hat’s gesagt? Adam Smith, of course, der uns neben seinen „ethischen Gefühlen“ auch noch den „Wohlstand der Nationen“ hinterlassen hat – und damit vornehmlich die Zunft der Ökonomen in höhere Sphären der Verwirrung katapultiert hat. Wie kann man denn erst über Mitgefühl schreiben und kurz darauf einen Catch-as-Catch-Can-Kapitalismus propagieren? Die ebenso schlichte wie ergreifende Antwort: Hat er gar nicht. Seine „unsichtbare Hand“ als durchschlagende Metapher für die angeblich sensationelle Überlegenheit des freigelassenen Marktes liest sich bei ihm wie folgt:

Alle, die jemals vorgaben, ihre Geschäfte dienten dem Wohl der Allgemeinheit, haben meines Wissens niemals etwas Gutes getan.

Das klingt doch gleich ganz anders – wenn nicht gar umgekehrt …

Und? Wie geht es weiter mit unserem Zitat?

Man mag den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht, als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein.

So heißt es gleich im allerersten Satz. Wie kommen wir darauf? Kürzlich hat Joachim Bauer, seines Zeichens Arzt, Neurowissenschaftler und Psychotherapeut und überdies gleich zweifach habilitiert, ein Buch vorgelegt mit dem Titel: »Das empathische Gen« sowie dem Untertitel »Humanität, das Gute und die Bestimmung des Menschen«. Darin heißt es unter anderem, daß Gutes tun schon nach kurzer Zeit den Cocktail der Körpersäfte einmal gründlich aufmischt. Frech gefaßt und wohl doch nicht ganz daneben könnte man vielleicht sagen: „Tu Gutes und profitiere davon.“ Das Netz tobt – jedenfalls auf den hinteren Rängen.

Wirklich überraschend ist das natürlich nicht. Denken wir nur an Ebenezer Scrooge in Charles Dickens’ »A Christmas Carol« (1843), der sein Wohlbefinden buchstäblich von heute auf morgen dramatisch steigern konnte, nachdem er – nach gehöriger Heimsuchung gleich dreier Geister in einer einzigen Nacht – seine harsche Haltung gegenüber seinen Mitmenschen ad acta gelegt und sich zum fröhlichen Erdenbürger gemausert hatte.

Bauers Verdienst besteht vor allem darin, daß uns die Vorzüge einer gewissen Empathie nicht länger einfach nur einleuchten müssen. Nein – jetzt haben wir es strikt biochemisch schwarz auf weiß. Fragt die Wissenschaft! Wem das hilft, der mag es für sich nutzen.

Übrigens: Dickens’ Weihnachtsgeschichte gibt es für Einsteiger in einer sehr niedlichen Fassung mit den Muppets (USA 1992 / Regie: Brian Henson / mit Michael Caine in der Hauptrolle). Das aber ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel …

Fr 03-12-21 Das dritte Türchen …

Hammer und Nagel.

Im Grunde sollte das ja der Ausnahmefall sein. Wer nur einen Hammer hat, sollte sich tunlichst darum kümmern, seinen Werkzeugkoffer zu vervollständigen, statt auf alles draufzukloppen in der Hoffnung und Erwartung, es werde sich dabei ja wohl um einen Nagel handeln. Der Nagel dieser Tage sind, wie’s scheint, die armen unverständigen Ungeimpften. In Old-Fashioned-Western hieß es noch: „Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer.“ Das soll man heute so nicht mehr sagen. Heute spricht man vorzugsweise von ›Angehörigen eines indigenen Volkes in Amerika‹ – möglichst ohne zu versäumen hinzuzufügen: beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course. Auch dürfen wir das nicht Eins-zu-Eins auf heutige Verhältnisse übertragen. Etwas zivilisierter sind wir dann ja doch. Obwohl, eine Fassung wie etwa: „Nur ein geimpfter Ungeimpfter ist ein guter Ungeimpfter“ dürfte den kontemporären Befindlichkeiten doch recht nahe kommen. Also immer feste druff. Ist das jetzt übertrieben? Mitnichten, leider. Erst gestern war zu hören, es müsse einen „Impfknall“ geben in Deutschland. Dabei hat Bolle schon vor Jahr und Tag bei so manchem einen mehr oder weniger ausgeprägten Impfknall ausmachen können. Allerdings hat Bolle mutatis mutandis auch weit mehr als nur einen Hammer in seiner Werkzeugkiste. Seien wir also nicht zu streng, wenn wir von der „Lizenz zum Impfen“ (etwa für Apotheker oder Zahnärzte) hören, von „Akten der nationalen Solidarität“ oder gar von „Generälen“ mit ihren „schnellen Eingreiftruppen“. Aber so ist das wohl, wenn man nur einen Hammer hat. Bolle fragt sich nur: Was machen die eigentlich mit ihrer Schönwetter-Demokratie, wenn die mal ein richtiges Problem haben – so richtig existentialistisch? Aber das ist wohl doch schon wieder ein anderes Kapitel …

Di 27-04-21 Auf den Hund gekommen?

Kieken wa ma.

So ähnlich hatten wir das auch schon mal gefaßt (vgl. Fr 26-02-21 Sprache als Handwerk?). Nur hieß es dort, das Wort ginge zum Teufel. Allein das sind Feinheiten. Sehr viel grundsätzlicher geht da Thomas Hobbes vor, der sich schon 1651, also vor über 350 Jahren, in seinem »Leviathan« veranlaßt gesehen hatte, folgendes anzumerken:

„Die Vorstellung, welche bei Menschen und Tieren durch Sprache oder andere willkürliche Zeichen hervorgebracht wird, heißt Verstand, und diesen hat der Mensch mit den vernunftlosen Tieren gemein; denn z.B. kann der Hund so abgerichtet werden, daß er weiß, ob sein Herr ihn herbeiruft oder ihn von sich weist.“

Hobbes gesteht also Tieren, zumindest einigen, richtigerweise die Fähigkeit zu, die Welt, in der sie leben,  zumindest in einfacher Form sprachlich beziehungsweise semantisch zu repräsentieren, und nennt diese Fähigkeit bei Mensch und Tier gleichermaßen »Verstand«. Dabei grenzt er menschlichen Verstand dann aber doch ab, wenn er schreibt:

„Der dem Menschen eigentümliche Verstand aber ist ein solcher, der nicht allein die Willensmeinung, sondern auch die Begriffe und Gedanken anderer Menschen einsieht.“

Und genau an dieser Stelle scheint es namentlich in jüngerer Zeit dann doch ein wenig hakelig zu werden. So berichtet etwa die Neue Zürcher Zeitung von einem, wie sie es nennt, „gefährlichen Trend“, der sich in westlichen Gesellschaften – also Gesellschaften, die sich Freiheit aufs Panier geschrieben haben – zunehmend breitmache. So soll zum Beispiel ein beachtliches Siebtel aller Mitarbeiter eines großen amerikanischen Verlagshauses nebst tausender Freier Mitarbeiter von ihrem Verlag entschlossenen „Anti-Trumpismus“ eingefordert haben. Demnach sollen dieser Ansicht nach nur noch einschlägig vormagnetisierte Autoren zu Worte kommen dürfen. Der Rest muß weg. Der Neuen Zürcher Zeitung, obwohl durchaus nicht übermäßig trump-affin, wird bei dieser Entwicklung dann doch ein wenig Angst und Bange. Kann man ja auch verstehen.

Was hat das mit Hobbes zu tun? Nun, so wie’s aussieht, scheinen die Verfechter von „cancel culture“ im weitesten Sinne auf das verstandesmäßige Niveau eines Hundchens rekurrieren zu wollen. Hier geht es, falls Bolle nicht ganz falsch liegt, offenbar nur noch um elementare Funktionen wie „herbeirufen“ oder „von sich weisen“. Höhere sprachliche Repräsentationen, namentlich die Fähigkeit, Begriffe und Gedanken anderer Menschen einsehen zu können, müssen dabei notwendigerweise doch ein wenig auf der Strecke bleiben. Wie auch – wenn anderer Leute Begriffe und Gedanken möglichst gar nicht erst gedruckt werden sollen? Propagandistisch unterfütterte Bücherbannung als freiheitlich-egalitäre Alternative zur Bücherverbrennung? So kann’s also gehen, wenn man das Volk, in bester Absicht, of course, von „schlechten“ und natürlich möglichst auch von übermäßig „komplexen“ Gedanken fernhalten will – womit wir stante pede wieder bei Dörner’s ›guten Absichten‹ wären (vgl. dazu Fr 23-04-21 Vive la France!) Aber vielleicht ist das dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

So 25-04-21 Des Menschen Wille ist sein Himmelreich

Wer nicht will, der hat schon.

Es gibt Dinge, die kann man gar nicht oft genug betonen. Dazu gehört, wenn wir Bolles Sinn fürs Grundsätzliche nicht völlig ignorabel finden wollen, nicht zuletzt die seit der griechischen Antike eingeführte Darstellung der Philosophie als Mutter der Töchter Logik, Ethik und Ästhetik. Zwar hat es im Laufe der Philosophiegeschichte mannigfaltige Versuche gegeben, das alles zu verfeinern. Vergeblich. Alles wurde nur immer komplizierter, aber mitnichten wahrer (Logik), brauchbarer (Ethik) oder auch nur gefälliger (Ästhetik). Besser also, wir belassen es dabei.

Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Zumindest nach Karl May’s Einschätzung (der Karl May) handelt es sich dabei um „eines der bekanntesten und gebräuchlichsten unserer Sprüchwörter“ (damals noch mit „ü“ – doch das nur am Rande). Auch sind durchaus derbere, wenn auch seltenere Versionen im Umlauf. So findet sich bei Eiselein (1840) etwa die Fassung: „Was ich will, das will ich, und damit gut!“ Das klingt schon sehr nach Kanzler Schröders „Basta!“ seinerzeit (2000). Aber auch differenziertere Varianten sind dem Volke geläufig. So finden wir, ebenfalls in Eiselein’s »Sprichwörtern und Sinnreden« (1840), auch die folgende Fassung: „Wer tut, was er will, tut oft, was er nicht soll.“

Und damit sind wir im Grunde mitten im Thema. Individuelles Wollen deckt sich offenbar nicht immer mit kollektivem Sollen. Technisch gesehen haben wir es hier mit einer „Soll/Ist-Diskrepanz mit momentaner Transformationsbarriere“ zu tun – also einem Problem (vgl. dazu etwa Mo 22-03-21 Plan, Prognose, Plausibilität). Dem läßt sich begegnen, indem entweder die einen von ihrem Wollen abrücken (oder sich damit zumindest tunlichst bedeckt halten) oder die anderen – in der Regel ist das die Mehrheit – von ihrer Sollen-Vorgabe. Ersteres nennt man gemeinhin „Sozialisation“ – was „normalerweise“ ja auch recht prächtig funktioniert. Umgekehrt – wenn also die Mehrheit sich zu missionieren anschickt – wird es deutlich komplizierter. So manche, und das sind oft nicht mal die Schlechtesten, denken nämlich gar nicht daran zu wollen, was sie wollen sollen.

Na, und denn – ? (Tucholsky, vgl. dazu Mi 17-02-21 Na, und denn — ?). Denn versucht es die Mehrheit erst mit Schimpfen, und dann womöglich gar mit Argumenten. Ersteres ist schlechter Stil / 3. Tochter), letzteres konfundiert Logik und Ethik aufs sträflichste. Als ob Sollen beziehungsweise Wollen (Ethik / 2. Tochter) irgendwas mit Sein (Logik / 1. Tochter) zu tun hätte. Hat es nicht. Das ist spätestens seit David Hume (1711–1776) klar, also seit mindestens 300 Jahren. Wie also spricht der Dichter – in diesem Falle Wilhelm Busch? „Vergebens predigt Salomo. // Die Leute machen’s doch nicht so.“ Manche indessen – das soll hier nicht unerwähnt bleiben – probieren es auch mit Vermessung der Koordinaten des sozialen Raumes – gewissermaßen Sollen über Bande: „Das spielt den Rechten in die Hände“, heißt es dann zum Beispiel. „Wie kann man sich erfrechen, was zu wollen, was schon andere nicht wollen sollen?“

Alles, was man dazu sonst noch wissen muß, findet sich auf den einschlägigen Seiten zur #allesdichtmachen-Aktion, mit der Jan Josef Liefers, der Professor aus dem Münster-Tatort, nebst 50 weiterer Künstler-Kollegen (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) dieser Tage so manchem recht unangenehm aufgefallen sind. Shitstorm und Appeasement – alles inklusive und in schönster dramaturgischer Verdichtung. Das aber ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Sa 24-04-21 Von das kommt das

Herr und Knecht.

Beziehungen, genauer gesagt die Rollenverteilungen in einer Beziehung, gestalten sich nach allem, was wir wissen, strikt komplementär. Der eine schlägt, der andere duckt sich weg. Das klingt erst mal sehr vernünftig. Lassen sich doch so, zumindest für den Moment, weitere Schläge vermeiden. Dumm nur, daß sich auf diese Weise das komplementäre Verhalten habitualisiert. Man gewöhnt sich dran – beide gewöhnen sich daran –, daß das so ist. Und schon haben wir die schönste Rollenverteilung.

Natürlich muß man das mit den Schlägen nicht immer ganz wörtlich nehmen. Arma et verba vulnerant – Waffen und auch Worte können verletzen. Oder auch Abmahnungen. Bolle zum Beispiel hatte mal einen Vorgesetzten, der seine Freude daran hatte, seinen Unterworfenen – auch wenn man solche Leute heute für gewöhnlich meist „Mitarbeiter“ nennt – hin und wieder mal eine Abmahnung zukommen zu lassen. Gerecht? Mitnichten. Aber darum geht es ja auch gar nicht. Was dann? Es ging einfach nur darum, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, wer hier der Herr ist und wer der Knecht. Und gemeinhin funktioniert das auch recht prächtig: der Mitarbeiter (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) duckt sich weg, um, zumindest für den Moment, weitere Schläge zu vermeiden. Daß er damit seine eigene Unterworfenheit zementiert, scheint für den Augenblick erst mal egal.

Aber ist es denn immer so einfach? Prügelnder Chef, geduckter Mitarbeiter? Natürlich nicht. Das gibt dem ganzen ja erst seinen Pfiff. Hier ein Beispiel aus einem Konfliktbereinigungsgespräch, wie es Bolle kürzlich erst erlebt hat. In seiner Rolle als Mediator hatte er es mit einem Medianten zu tun, der sich, rein zivilrechtlich gesehen, durchaus ein wenig danebenbenommen hatte, sich dabei aber keiner Schuld bewußt sein wollte. Im Gegenteil. Seine Haltung – also die Rolle, die er für sich selber vorgesehen hatte – war in etwa die folgende: Du bist hier der Mediator, also klär das mal. Schließlich wirst Du dafür bezahlt. Aber halt mich da raus. Wenn – Betonung auf wenn – Bolle sich darauf, etwa durch übertrieben freundliches Entgegenkommen, eingelassen hätte: die Mediation wäre mausetot gewesen, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Also mußte Bolle zuschlagen – hart, aber gerecht – und seinen Medianten erst mal so richtig auf den Topf setzen. Gewissermaßen als Arbeitsgrundlage. Und? Das Ende vom Lied? Die Mediation hat zu einem für alle Beteiligten zufriedenstellenden Ergebnis geführt. So soll es ja auch sein. Im Nachgespräch übrigens meinte besagter Mediant, anfangs habe er sich schon etwas hart angegangen gefühlt. Im Ergebnis sei das aber okay gewesen. Sein Schmunzeln behielt Bolle strikt für sich.

Was hat das mit hier und heute und mit uns zu tun? Wir müssen uns fürs erste mit einem zarten Hinweis begnügen: Die einschlägigen Stichwörter – zwei der einschlägigen Stichwörter – lauten „Identitätspolitik“ und „cancel culture“. Da reißen interessierte und vor allem auch entschlossene Kreise so richtig die Klappe auf und der Rest – duckt sich weg. Kann man machen. Nur muß man sich dann nicht wundern, wohin das führen wird. Zu einer „gerechteren“ Gesellschaft, da ist sich Bolle sicher, sicher nicht. Zu einer „einigeren“ übrigens auch nicht. Aber das ist, jedenfalls für heute, dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.