Fr 09-04-21 Ei, Ei, Ei …

Eine kurze Geschichte der Zeit.

Zeit ist relativ. Eingeweihten Kreisen ist das seit der Veröffentlichung von Einsteins Spezieller Relativitätstheorie klar. Das war 1905. Interessierte Laien haben das spätestens mit Stephen Hawking’s ›Kurzer Geschichte der Zeit‹ im Jahre 1988 erfahren. Manchmal allerdings wünscht man sich die Zeit dann doch ein wenig absoluter.

So hat Bolle am Montag vor Ostern selbstgefärbte Ostereier auf den Weg gebracht. Montag bis Gründonnerstag, so die Kalkulation, das sind drei Tage. Sollte also locker reichen. Falls nicht, bliebe als Ausweichtermin ja noch der Sonnabend vor Ostern. Das besondere dabei: Zwei der Päckchen waren an Haus und unmittelbares Nachbarhaus adressiert – was einen Vergleich der Postlaufzeiten enorm erleichtert. Paket Nummer Eins kam, wie erwartet, Gründonnerstag an. Paket Nummer Zwei nicht. Sonnabend? Fehlanzeige. Also Ostern ohne Eier. Dann eben am Dienstag nach Ostern? Wieder Fehlanzeige. Mittwoch auch nicht. Gestern allerdings, am Donnerstag, dann doch: Voll das Überraschungs-Ei. Zwar war die Osterdeko mittlerweile längst abgeräumt. Doch wollen wir nicht übertrieben kleinlich sein.

Der Zustand der Eier? Bolle hatte sie verpackt, wie man das sonst nur mit Formel-1-Piloten macht. Und immerhin: drei von sechsen haben überlebt. Wie die Post es geschafft hat, 50 Prozent der Eierpopulation in einer äußerlich intakten Hülle zu zerdeppern, ist und bleibt Bolle ein Rätsel. Eier-Weitwurf? Eiertanz? Wir wissen es nicht.

War früher alles besser – damals, als DHL noch ›Deutsche Bundespost‹ hieß und angelernte, abgehetzte Dienstleister noch gemütliche und „alimentierte“ (bei Juristen heißt das wirklich so) Staatsdiener nach den „hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums“ (Art. 33 Abs. 5 GG) waren? Wenn an dem Kalenderspruch was dran ist: dann wohl eher nicht – oder jedenfalls nicht sehr. Halten wir fest: Die Welt ist schlecht. Das aber ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Mi 24-02-21 Wahlkrampf

Wahlkrampf.

Wenn das stimmt, dann wird’s jetzt heftig. Schließlich steuern wir auf ein sogenanntes „Superwahljahr“ zu mit einer Bundestagswahl plus nicht weniger als sechs Landtagswahlen. Neulich (Do 04-02-21 Höret auf den Herrn …) hatte Bolle deren Zahl noch auf nur fünf geschätzt. Aber erstens neigt er nicht zur Übertreibung, und zweitens kommt es darauf auch nicht wirklich an. Eines der Probleme einer Demokratie ist ja bekanntlich, daß es für einen Politiker (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) nicht nur darauf ankommt, das richtige zu tun – was übrigens unmittelbar die Frage aufwirft, was das denn sein mag, das richtige. Nein, er muß auch noch das Wahlvolk überzeugen, daß das richtige auch wirklich das richtige ist. Selbst wenn es ihm „an Wahrheit und an Kräften“ nicht gebricht, kann er durchaus doch an mangelnder Einsicht des Volkes in die Wahrheit scheitern. Das kann zum Beispiel einen Anton Hofreiter und sein „Häuschen im Grünen“ treffen – weil er diesen Lebensstil, aus trivial-guten Gründen übrigens, für klimaschädlich hält. Menschen an sich sind bekanntlich klimaschädlich. Oder zum Beispiel auch den Gesundheitsminister, der sich mit sich selbst bislang nicht hat einigen können, ob er nun zu viel oder zu wenig Impfstoff hat – bzw. „Impfstoff, den keiner will“. Oder es kann den Berliner Senat mit seiner Mietpreisbremse treffen, die nach Ansicht einiger nur dazu geführt habe, daß es erstens weniger und zweitens nur teureren Wohnraum gebe. Ist das jetzt wahr? Wir wissen es nicht. Was wir aber wissen, ist, daß seinerzeit bei der Einführung des Mindestlohnes recht ähnlich argumentiert wurde.

Wir hatten das Thema neulich schon mal gestreift und dabei festgehalten: „Die Malaria wurde in erster Linie durch das Trockenlegen der Sümpfe zurückgedrängt – und nicht etwa durch Chinin. Ganz ähnlich verhält es sich mit ökonomischen Ungleichgewichten. Wenn es nicht gelingt, die Probleme an der Wurzel zu packen, dann wird sich für jedes einzelne Problem, das wir erfolgreich lösen, ein ganz ähnlich gelagertes Problem an irgendeiner anderen Stelle einstellen. Darum ist es so wichtig, auf das gesamtwirtschaftliche Klima zu achten.“ (James Tobin 1965, vgl. dazu Di 02-02-21 Von Gänseblümchen und Brennesseln).

Wie wir leicht erkennen können: Die Probleme ähneln sich – um nicht zu sagen, es sind immer die gleichen. Und? Wer ist schuld? Die Demokraten? Ihre Wähler? Hier schweigt des Sängers Höflichkeit. Im übrigen wäre das dann auch schon wieder ein anderes Kapitel.

Fr 19-02-21 Die fetten Lieferketten retten?

Die fetten Lieferketten retten?

In einer mittelalterlichen Siedlung wurden, so hört man, geschätzte 98% aller verbrauchten Güter in einem Umkreis hergestellt, den man von der Kirchturmspitze aus überblicken konnte. Lieferketten waren demnach unbekannt. Natürlich hat es immer schon Handel gegeben mit Gütern, die eben nicht in Kirchturmspitzen-Entfernung zu haben oder herzustellen waren. So sollen zum Beispiel ägyptische Pharaonen seinerzeit einen Narren an Bernstein gefressen haben. Bernstein findet sich aber vorwiegend in der Ostsee und nicht etwa im roten Meer. Und so hat es in der Bronzezeit schon einen mehr oder weniger schwungvollen Bernstein-Handel gegeben. Regelrechte Lieferketten waren das allerdings noch nicht.

Etwas anders sieht die Sache aus, wenn wir von der Ostsee zur Nordsee schwenken und von Bernstein zu beispielsweise Krabben. Die in der Nordsee gefangenen Krabben werden heutzutage allen Ernstes nach Marokko gekarrt, dort von Hand gepult und dann wieder zurückgekarrt, um auf einem Häppchen-Teller in, sagen wir, Buxtehude zu landen. Noch krasser wird das ganze, wenn, wie in einigen hoch-industrialisierten Bereichen, so ziemlich alles irgendwo anders hergestellt und hier nur noch zusammengeschraubt wird, um zum Abschluß mit einem fröhlichem „Made in Germany“-Etikett verziert zu werden. So richtig seriös will Bolle das nicht scheinen.

Was tun? Sprichwörtlich ›Zurück auf Los‹ – zurück zur mittelalterlichen Dorfgemeinschaft? Das wäre vermutlich übertrieben. Schließlich profitieren ja alle von der „internationalen Arbeitsteilung“ – wie das gerne und etwas euphemistisch auch genannt wird. In erster Linie profitieren aber die Länder, die die höherwertigen Güter anbieten – egal ob selber hergestellt oder einfach nur zusammengesteckt. In allererster Linie profitieren aber die Unternehmen, die das Lohngefälle ausnutzen (in Marokko liegt der übliche Stundenlohn nun mal deutlich unter dem in Buxtehude), und überdies die Gefälle in den Sozial- und Umweltstandards. Wenn in Marokko jemand nach einem langen Arbeitsleben einfach tot umfällt statt in Rente zu gehen, spart das eine Menge Geld. Und wenn den Krabben-Pulern (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course – wir wollen ja gender-korrekt sein und bleiben) im wahrsten Sinne des Wortes die Fabrikdecke auf den Kopf fällt, weil man in Marokko mit den Bauvorschriften noch nicht so weit ist: Betretene Mienen am Häppchen-Buffet. Wer hat’s vermasselt? Kaum feststellbar – zumal die marokkanischen Auftragnehmer die Aufträge ja regelmäßig längst an Sub-, Subsub- und Subsubsub-Unternehmen weitergereicht haben. „Diversifikation der Verantwortung“ nennt man das dann in der Betriebswirtschaftslehre. „Schulterzucken“ könnte man auch sagen.

Und? Wer ist schuld? Der Verbraucher (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) natürlich, der seine Krabben ein paar Cent billiger haben möchte. Der Verbraucher – und nicht etwa die bösen Konzerne – ist immer schuld an allem, of course, und meint dabei auch noch, nicht mal betreten gucken zu müssen. Die Lieferketten sind aber auch zu schlecht zu überblicken (neudeutsch: zu „komplex“) – vor allem, wenn man gar nicht erst hingucken mag. Bolle fragt sich: Wäre die agnostisch-kontemplative Corönchenzeit, in der wir alle ja nun mal feststecken, nicht eine feine Gelegenheit, über diese und ähnliche Fragen mal ganz grundsätzlich nachzudenken? Das aber ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Di 09-02-21 Wenn Corönchen kapitalistisch wäre …

Wintergarten. Besten Dank an Mü für die Zusendung.

Bolle ist verwirrt. Da hämmert man uns – zumindest im Westen – jahrzehntelang ein, daß der Markt die geniale Antwort der klassischen Ökonomen auf die allgegenwärtige Knappheit sei.  Manche gehen dabei sogar so weit zu erklären, daß „der Markt“ in der Tat jegliche Knappheit beseitigt – und zwar restlos. Und das nicht etwa erst in ferner Zukunft – wie man sich das in östlicheren Gefilden des Landes von fortgesetzter Planübererfüllung erhofft hatte – sondern hier und heute, jeden Tag. Die Logik geht in etwa wie folgt: (1) Begrenzte Produktionskapazitäten stoßen auf potentiell unbegrenzte materielle Bedürfnisse. (2) Folglich kann nicht jeder (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) alles haben, was er gerne hätte. (3) Demnach brauchen wir einen Verteilungsmechanismus, der regelt, wer welche „knappen Güter“ kriegt und wer leer ausgehen muß. Die Lösung der klassischen Ökonomen ist ebenso verblüffend einfach wie naiv: „Der Markt“ – präziser gesagt: die Freie Marksteuerung, vulgo „der Kapitalismus“ – setzt die Preise solange hoch, bis einem Großteil der Nachfrager die Freude an der Nachfrage vergeht. Wenn also einer gerne einen schicken Lamborghini hätte – oder auch nur eine „bezahlbare“ Wohnung da, wo seine Eltern und Großeltern schon gewohnt haben – dann läßt sich seine „Haben-wollen-Intensität“ ganz einfach an seiner Bereitschaft messen, den Kaufpreis bzw. die Monatsmiete auf den Tisch zu blättern. Und wer nicht will, der hat offenbar schon. Und falls einer doch mehr Bedürfnisse haben sollte als er sich leisten kann: Nun – es steht jedermann frei, sich anzustrengen und seine Einkünfte entsprechend zu steigern. It’s a free country after all. Die Logik ist in der Tat bestechend – kommt dabei aber, wie gesagt, nicht ohne ein gerüttelt Maß an Naivität bzw. gar Lebensferne aus. Und doch ist genau das die auf den Kern runtergebrochene kapitalistische Markt-Logik. Komplizierter ist es an dieser Stelle wirklich nicht.

Was hat das alles mit Corönchen zu tun? Nun, wenn Corönchen konsequent kapitalistisch wäre, dann würden diejenigen das kriegen, was sie unbedingt haben wollen – in diesem Falle also den „rettenden Impfstoff“ – die bereit sind, die meiste Knete auf den Tisch zu blättern. Ihre überdurchschnittliche „Zahlungsbereitschaft“ ist nach dieser Logik nämlich nichts anderes als der Spiegel des überdurchschnittlichen „Nutzens“, den das Vakzin bei ihnen zu stiften vermag. Bilderbuch-Ökonomen sprechen hier auch gerne von „optimaler Ressourcen-Allokation“ – und in gewisser Weise haben sie sogar Recht.

Kurzum: Die kapitalistische Logik befreit uns von allen Nöten. Wer (am meisten) zahlt, hat Recht. Wer nicht bereit ist, (am meisten) zu zahlen, dem scheint die Sache nicht so wichtig zu sein. Und wer zwar bereit wäre, aber schlechterdings nicht in der Lage ist, (am meisten) zu zahlen, der mag sich demnächst halt mehr anstrengen und folglich auch mehr verdienen. Dann wird das schon.

Wenn wir dieser „kapitalistischen“ Logik nicht folgen wollen – und offenbar sind sich die Entscheidungsträger im Lande in diesem Punkt zur Zeit einig – dann brauchen wir einen anderen Mechanismus, der (übermäßige) Nachfrage mit (dem sehr viel knapperen) Angebot in Einklang bringt. Einen solchen Mechanismus gibt es in der Tat: Wir nennen es »Triage«: triager bedeutet in der militärischen Fachsprache ›auswählen‹ – und zwar wiederum nach einer Optimierungsregel – hier also den bestmöglichen Nutzen (möglichst viele „retten“) bei realisierbarem Aufwand (die Zahl der Rettungssanitäter ist regelmäßig begrenzt) zu erzielen.

Beiden Mechanismen – Marktsteuerung und Triage – liegt also ein Optimierungskalkül zugrunde. Der Unterschied: Während sich bei der Marktsteuerung die „Abgehängten“ sozusagen „selber triagieren“, muß bei der eigentlichen Triage ein Arzt, ein Pfleger, ein Sanitäter, oder wer auch immer, die Entscheidung treffen. Und das tut weh – vor allem, wenn man solche Entscheidungen (buchstäblich „auf Leben und Tod“) nicht zu treffen gewohnt ist.

Das war’s dann aber auch schon. Dumm nur, wenn man dabei auf potentiell „Abgehängte“ trifft, die von all dem nichts wissen wollen, und in völliger Ignoranz der Mangellage ihr individuelles Recht auf Weiterexistenz lautstark einfordern – und dabei womöglich auch noch massenmediale Unterstützung erfahren. Auf diese Weise geraten wir aber unversehens in die Abteilung „unlösbare Probleme“. Mit unlösbaren Problemen soll man sich aber möglichst nicht weiter befassen. Im übrigen wäre das dann auch schon wieder ein anderes Kapitel.

Mi 27-01-21 Wahn und Wirklichkeit

Wahn und Wirklichkeit in der Dreigroschenoper.

„Wahn“ – das ist den meisten nicht klar – ist ein uraltes Wort. Der Ursprung läßt sich zurückverfolgen bis ins Althochdeutsche und darüber hinaus ins Germanische, Gotische und Altnordische. Und überall bedeutet es das gleiche – nämlich ›Hoffnung, Erwartung‹. Man könnte auch sagen: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Die semantische Nähe zu „Wahnsinn“ dagegen ist vergleichsweise jung. Um vermeidbaren Konfusionen vorzubeugen, sollten wir uns besser auf „Wunsch und Wirklichkeit“ verständigen.

Die Wirklichkeit taucht regelmäßig im Singular auf – auch wenn die Perspektiven darauf höchst vielfältig sein mögen. Der Wünsche dagegen gibt es furchtbar viele. Auf den Brecht’schen Punkt gebracht: Wer plant, muß wählen. Damit ist zwar noch lange nicht gesagt, daß der Plan dann auch „geht“. Aber immerhin: It’s a start. Aber wählen – man könnte auch sagen: entscheiden – ist beileibe nicht jedermanns Sache. Und das ist karrieretechnisch ja auch durchaus klug. Wenn einer sagt: Dieses will ich, jenes nicht – dann hat er, namentlich in einer pluralistischen und massenmedial gesteuerten Gesellschaft, sofort alle am Hals, die exaktemente das Gegenteil wollen. Und wenn sich – rückblickend betrachtet – mehr oder weniger „nachweisen“ läßt, daß das ursprünglich Gewollte in eine Sackgasse geführt hat oder zumindest schwere „Nebenwirkungen“ mit sich gebracht hat, dann steht’s schlecht um die weitere Karriere. Folglich produziert „das System“ scharenweise Leute, die sich vernünftigerweise immer schön bedeckt halten. Einer Problemlösung, die den Namen verdient, kommt das allerdings  weniger zugute. So ist das nun mal bei Nash-Gleichgewichten. Sei’s drum.

Was hat das alles mit Corönchen zu tun? Corönchen – das scheint Bolle das Gute daran – wird uns zwingen, unsere vielfältigen Wünsche mit der einen Wirklichkeit abzugleichen. Im Zweifel gewinnt die Wirklichkeit – egal, was wir für wünschenswert halten. Im Moment sieht es ganz danach aus, als würden die „Markt-Taliban“ – die die letzten Jahrzehnte absolut die Oberhand hatten –  ein wenig in die Defensive geraten. Und das ist wohl auch gut so – andererseits dann aber doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Sa 09-01-21 Und? Wie geht’s weiter?

Humans go Borg.

Borg, das sind diese etwas gruselig anmutenden Mischwesen – zum Teil organisch, zum Teil technisch-maschinell –, wie wir sie aus Star Trek kennen. „Definitely not Swedish“, also – vgl. dazu etwa den Film ›Der erste Kontakt‹ (USA 1996 / Regie: Jonathan Frakes). Das Gute aus menschlicher Sicht: Wenn man ihnen einen ihrer vielen Stecker zieht, fallen sie sofort tot um. Und das ist wirklich praktisch, weil ansonsten wird man rucki-zucki „assimiliert“ und damit selber zum Borg – ganz ähnlich wie bei den schwarzen Schlümpfen. Widerstand ist zwecklos – so der bekannte Borg-Schlachtruf.

Was hat das mit Corönchen zu tun? Nun ja – Bolle sieht eine besorgniserregende Tendenz, daß wir uns, wenn auch vielleicht nur ungern, in eine ähnliche Richtung bewegen. Ohne medizinische Voll- und Dauerversorgung ist ein großer Teil der Menschheit, zumindest in fortgeschrittenen Gesellschaften, eigentlich nicht mehr überlebensfähig. Umgekehrt gewendet: Wenn man ihnen den Stecker zieht …

Wir wollen hier die erheblichen Fortschritte der Medizin nicht kleinreden. Wenn man sich eine Fernsehserie wie etwa ›Charité‹ (ARD, gibt’s aber auch auf Netflix) unter diesem Gesichtspunkt anguckt und sich klarmacht, daß das alles gerade mal gut 100 Jahre her ist, dann wird man die Fortschritte kaum leugnen können. Aber schneller noch als die Fortschritte sind die Ansprüche gewachsen. Ableben ist heutzutage offenbar keine Option mehr.

Mit dem „Kampf gegen Corona“ – so einer Art „bio-chemischer Kriegsführung“ – haben wir, wie’s scheint, ein ganz neues Faß aufgemacht. Wir werden sehen, was draus wird. Eines indes – und hier kommt der Ökonom in Bolle durch – scheint sich deutlich abzuzeichnen: die Abhängigkeit breiter Schichten wird zunehmen.

Bolle teilt die Welt stumpf ein in begüterte Schichten und weniger begüterte Schichten – wobei den begüterten Schichten eine Tendenz innewohnt, ihre Begüterung weiter auszubauen. Das kann man machen, indem man die weniger Begüterten als Pächter auf „seinem“ Grund und Boden arbeiten läßt (vgl. dazu etwa ›Der kleine Lord‹ (GB 1980 / Regie: Jack Gold). Man kann es aber auch machen, indem man auf alles zugreift, was eine zeitlang zur sog. „Daseinsvorsorge“ gehörte – also alles, was für ein „normales“ Leben der weniger begüterten Schichten schlechterdings unverzichtbar ist: Dazu gehören etwa Wohnen, Wasser, Energieversorgung und Infrastruktur. Kann man alles „privatisieren“ – muß man aber nicht.

Wenn es jetzt so weit kommt, daß der eigene Körper ohne technische Hilfe von außen nicht mehr funktioniert, dann erschließen sich den begüterten Schichten völlig neue und nie versiegende Einnahmequellen. Aber zahlt das nicht die Krankenkasse oder „der Staat“? Sicherlich. Und wer bezahlt die Krankenkasse oder den Staat? Eben. Aber das ist vielleicht schon wieder ein anderes Kapitel.

Do 08-10-20 Das Aufstiegserbrechen

Wer unten ist, bleibt unten. Nach Berechnungen der Industrieländerorganisation OECD ist der Aufstieg in Deutschland schwieriger als in fast allen anderen westlichen Staaten. Demnach dauert es bis zu sechs Generationen, bis die Nachkommen einer einkommensschwachen Familie das Durchschnittseinkommen des Landes erreichen. Das sind mehr als 150 Jahre.

So läßt Garbor Steingarts heutiges Morning-Briefing verlauten. Bolle ist entzückt. Da ist es wackeren Forschern doch glatt gelungen, Erwerbsbiographien bis in die Mitte des 19. Jhd. zurückzuverfolgen – und das ganze auch noch auf die Zukunft hochzurechnen. Respekt. Andererseits: Geologen ist es neuerdings ja auch gelungen, das Verhalten von Salzstöcken zwecks Endlagerung von Atommüll auf 1 Million Jahre hochzurechnen. Das ist noch sehr viel mehr als 150 Jahre. Um das ganze noch zu toppen, haben sie uns im Namen der Wissenschaft auch gleich noch erklärt, warum ihre Entscheidung für Gorleben von vor 50 Jahren heute nicht mehr gilt. Nun sind 50 Jahre sehr viel weniger als 1 Million Jahre. Bolle meint: Solche Berechnungen haben wohl mehr mit Voodoo zu tun als mit Wissenschaft. Die Botschaft hört er wohl. Allein: ihm fehlt der Glaube.

Weiterhin erfahren wir, daß „16 liberale Politiker, Wissenschaftler, Journalisten und Unternehmer“ ein Buch mit dem Titel „Aufstieg: 16 Vorschläge für die Zukunft Deutschlands“ vorgelegt haben.

16 Autoren, 16 Vorschläge: Das klingt ja richtig systematisch. Ein Glück, daß ick meine Lesebrille verlegt hab, meint Bolle. Dabei ist das alles doch nicht soo kompliziert:

Stellen wir uns eine kleine Volkswirtschaft mit 15 Personen vor, von denen sich 5 auf „Level V“ befinden, 4 auf „Level IV“, und so weiter bis ganz oben. Wenn jetzt einer, zum Beispiel A, aufsteigen will, Pfeil (1a), dann muß notwendigerweise jemand anderes Platz machen, Pfeil (1b), und jemand Drittes muß nachrücken, Pfeil (1c). So ist das bei einer sich nach oben verjüngenden Pyramide. Kurzum: Zwar ist es möglich, daß A aufsteigt – es ist aber mathematisch unmöglich, daß das gesamte Level V aufsteigt. Noch kürzer: Jeder kann aufsteigen. Aber es kann nicht jeder aufsteigen. Komplizierter ist es an dieser Stelle nicht. Allerdings wäre es möglich, Pfeil (2), daß man die Definition, was „oben“ ist und was „unten“, modifiziert. Wenn man also Level III zu „auch oben“ zählt, dann können sich manche, die vorher „unten“ waren, „oben“ zugehörig fühlen. Davon wurde ja auch reichlich Gebrauch gemacht, zunächst wohl von Helmut Schelsky mit seiner „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“. Das war 1953 und hat als ernstzunehmende Beschreibung auch nicht länger gehalten als die Berechnungen der Geologen, was Gorleben als Endlager angeht. Also Schwamm drüber. Was man aber, drittens, in der Tat machen könnte, wäre ein „Anbau nach unten“. Das wäre bei einer sich nach oben verjüngenden Pyramide in der Tat mathematisch durchaus möglich.

Zwar wäre Level V auf diese Weise in keiner Weise „aufgestiegen“. Gleichwohl könnten sich die Betroffenen damit trösten, daß sie jetzt nicht länger „ganz unten“ sind. Kurzum: Die perfekte Aufstiegs-Illusion. Das aber hat mehr mit Psychologie denn mit Mathematik zu tun. Klassische Kandidaten für Level VI sind dabei „Hartzer“, Aufstocker und nicht zuletzt auch sog. „Solo-Selbständige“.

Fassen wir zusammen: Möglichkeit #1, Aufstieg für alle, kann rein mathematisch nicht funktionieren. Bei Möglichkeit #3, der Aufstiegs-Illusion durch „Anbau nach unten“, dürfte es sich um einen klaren Fall von Zweckverfehlung handeln. Bleibt Möglichkeit #2: Die Absenkung der „Oben/Unten“-Grenze soweit nach unten, daß sich jeder, oder fast jeder, zumindest wirtschaftlich einigermaßen „auch oben“ fühlen kann — zumindest aber nicht allzu weit unten. Den meisten würde das ja schon reichen. Solange sich aber Leute wie etwa Friedrich Merz gerade mal eben zur „oberen Mittelschicht“ zählen, bleibt es wohl beim „Aufstiegserbrechen“. Nun ist Bolle doch ein ganz klein wenig gespannt, was die 16 Autoren auf immerhin 283 Seiten zum Besten gegeben haben mögen. Vermutlich die alte „Leistung muß sich wieder lohnen“-Leier — was bei Lichte betrachtet ja wohl auf eine „Verhöhnung“ (wie das neudeutsch gerne heißt) der braven Werktätigen hinausläuft. Vielleicht findet Bolle seine Brille ja bald wieder. Aber das ist ein anderes Kapitel.