Mi 01-01-25 Ein gutes Neues Jahr Euch allen!

Dum spiro spero – Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Und schon wieder – und wie so oft. Ein altes Jahr ist um – ein neues fängt an. Der König ist tot – es lebe der König. Irgendwie muß man damit ja umgehen. Letztlich sind es doch immer wieder die gleichen Fragen:

Was haben wir gedacht?
Was davon gemacht, was angebracht?
Mitunter auch: was haben wir gelacht.

Und? Wie meinte Erich Kästner 1950 schon – also vor nunmehr 75 Jahren? Hier in der Bolle-Version:

„Wird’s besser? Wird’s schlimmer?“
fragt man alljährlich.
Seien wir ehrlich:
Leben ist immer
höchst ungefährlich.

Dabei soll mit ›ungefährlich‹ natürlich nicht ›frei von Gefahr‹ gemeint sein, sondern, ganz im Gegenteil, eine Adjektivierung des adverbiellen ›ungefähr‹. Soll heißen: Wir kennen die Zukunft, kaum anders als das Leben selbst,  nur höchst ungefähr – wenn überhaupt. Nichts Genaues weiß man nicht – und wird man auch nie wissen können. Und vielleicht ist das auch ganz gut so.

Wenn man schon nichts wissen kann – so kann man doch was hoffen. Das ist zwar kein vollwertiger Ersatz – fühlt sich aber zumindest gut an. Und so meinte schon Cicero (106–43 v. Chr.) in einem seiner Briefe: Dum spiro spero (solange ich atme, hoffe ich) – was wir hier mit ›Die Hoffung stirbt zuletzt‹ frei übersetzen wollen. Und vielleicht ist auch das ganz gut so.

Unser Bildchen stammt übrigens aus dem Jubiläumsprojekt ›Lichtgrenze – 25 Jahre Mauerfall‹, das sich der Berliner Senat für das Jahr 2014 ausgedacht hatte. Damals sollten – und sind auch – knapp 7.000 leuchtende Luftballons gen Himmel aufgestiegen, um aller Welt zu zeigen, wo die Grenze zwischen Gut und Böse seinerzeit verlief – mitten durch die Stadt. Einem aufgeweckten jugendlichen Ossi kann man das heute kaum mehr vermitteln. Lieber wählt er, zum Entsetzen der Guten, die AfD. Doch das nur am Rande. Das alles ist nunmehr auch schon wieder 10 Jahre her. Dabei dient das Photo Bolle seitdem als Hintergrundbild auf allen seinen Geräten – und hat es, in Postergröße, auch schon in eine Photographie-Ausstellung geschafft. Eine klitzekleine Ausstellung zwar – aber immerhin. Es zeigt eine Mutter mit ihrem Sohn, wie sie gerade eine oder zwei der knapp 7.000 Luftballon-Abschußrampen, die entlang der alten Mauer aufgestellt waren, in räuberischer Absicht entwenden. Sie waren die einzigen nicht. Bolle sieht darin in reiner Form Hoffnung – oder zumindest Zukunftsgewandheit, vielleicht garniert mit einem Schuß Erwerbsfleiß – verkörpert. Bolle mußte seinerzeit hoch und heilig versichern, daß man auf dem Photo niemanden wird identifizieren können. Ehrensache, of course. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Sa 14-12-24 Das 14. Türchen: Schneemann, Teppich, Meilenstein

Voll auffem Teppich – mit Meilenstein.

Zu unserem Türchen gestern gab es eine Rückmeldung: „Wieso? Das sieht man doch, ob sich der Schneemann bewegt hat oder der Teppich.“ Da wir hier, wie gestern erläutert, eine wohlverstandene relativistische Perspektive einnehmen wollen, scheint uns ein kleiner Nachtrag angebracht.

Natürlich sieht man das. Aber warum sieht man es? Weil wir – ohne uns dessen bewußt zu sein – das Blatt Papier beziehungsweise den Bildschirmausschnitt als Bezugspunkt verwenden. Einen solchen Bezugspunkt haben wir aber nicht – nicht in der Physik und erst recht nicht im wirklichen bzw. sozialen bzw. politischen Leben. Dieses völlige Fehlen eines Bezugspunktes hat übrigens die Physiker ziemlich lange Zeit ziemlich rappelig gemacht und zu so mancher Idee inspiriert, die sich letztlich als nicht soo brauchbar erwiesen hat. So etwas ist aber auch jeglicher Alltagserfahrung allzu ferne. Wir sind nun mal seit sechs Millionen Jahren – also seit der Menschwerdung im weiteren Sinne – daran gewöhnt, daß es feste Bezugspunkte gibt. Entsprechend schwer fällt es uns, sich die einfach wegzudenken – auch wenn sie wirklich mal nicht da sein sollten.

Um uns das alles besser vorstellen zu können, hilft ein kleiner Trick: Nehmen wir an, das Blatt Papier oder der Bildschirmausschnitt, auf dem sich Schneemann und Teppich befinden, sei unendlich groß – zumindest aber unüberschaubar groß. Dann gibt es wirklich keine Möglichkeit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Oder aber wir fügen, tout au contraire, einen Meilenstein in die Graphik ein – eine Wegmarke, an der wir uns orientieren können. Unter der Annahme, daß sich Schneemann und Teppich im Freien befinden – wer stellt sich schon einen Schneemann ins Wohnzimmer? – könnte das irgendein markanter Punkt in der Landschaft sein, zum Beispiel ein Baum oder Busch oder ähnliches (siehe Bildchen). Relativ zu dieser Wegmarke können wir nun eindeutig entscheiden, wer oder was sich bewegt hat – Schneemann oder Teppich?

Jetzt – aber erst jetzt – denken wir uns die Wegmarke wieder weg. Im Grunde wenden wir also die Vorgehensweise von Professor Bömmel aus der Feuerzangenbowle an: „Also, wat is en Dampfmaschin? Da stelle mehr uns janz dumm.“

In der sozialen beziehungsweise politischen Sphäre kommt allerdings erschwerend hinzu, daß es bereits an der Definition hapert: kein Mensch kann zufriedenstellend erklären, was genau das eigentlich sein soll: lechts oder rinks? (Ernst Jandl 1966). Bolle, stets bemüht, auch das Unfaßbare wenigstens anekdotisch faßbar zu machen, hält sich immer an die folgende Faustregel …

Motto „rechts“: Bevor Du dich daran machst, die Welt zu verbessern, kehre drei mal vor Deiner eigenen Tür (chinesisches Sprichwort).
Motto „links“: Wieso? Alles und jeder braucht unsere Solidarität. Immer!

… und muß dabei stante pede an Churchill denken, of course, der angeblich mal gesagt haben soll:

Wie herrlich Deine Strategie auch sein mag:
Gelegentlich solltest Du gucken, was dabei rauskommt.
(However beautiful the strategy,
you should occasionally look at the results.)

Das alles aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Fr 13-12-24 Das 13. Türchen: Alles ist relativ

Voll auffem Teppich – oder doch daneben?

Neulich war Bolle mit zwei durchaus aufgeschlossenen Mitmenschen beim Gänse-Essen. Irgendwann gegen Ende des Treffens ging es dann allgemein um die Schlechtigkeit der Welt und im Speziellen, wie sehr sich manche Leute in letzter Zeit doch „radikalisieren“ würden.

Bolle, nicht faul, fühlte sich sofort veranlaßt, eine wohlverstandene relativistische Perspektive ins Spiel zu bringen. Dazu heißt es in Bertrand Russells ›ABC der Relativitätstheorie‹ (1925) – also vor nunmehr 100 Jahren:

Es gibt eine Sorte ungemein überlegener Menschen, die gern versichern, alles sei relativ. Das ist natürlich Unsinn, denn wenn alles relativ wäre, gäbe es nichts, wozu es relativ sein könnte.

Auch hatte Bolle das Schildchen mit dem Schneemann nicht dabei. Aber ein Bierdeckel für den Teppich und Bolles Feuerzeug für unseren Protagonisten tun es natürlich auch.

Im Ausgangspunkt – so wollen wir annehmen — stehe unser Schneemann (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) voll auf dem Teppich. Nun gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten:  Der Schneemann bewegt sich ein paar Schritte nach links (Pfeil a) – was wir hier rein räumlich und mitnichten politisch verstehen wollen. Und schon steht er nicht mehr auf dem Teppich. Oder aber – die zweite Möglichkeit – jemand zieht den Teppich ein Stück weit nach rechts (Pfeil b) und – Wunder über Wunder – auch in diesem Falle steht unser Schneemann nicht mehr auf dem Teppich – obwohl er sich keinen Millimeter von seiner Ursprungsposition wegbewegt hat. Allein die Lage des Teppichs ist eine andere.

Damit aber ist die Frage, ob sich der Schneemann „radikalisiert“ hat – oder nicht vielleicht eher der Teppich – so offen, wie sie nur sein kann. Wir machen wohl keinen allzu großen Fehler, wenn wir das Beispiel auf die politische Sphäre übertragen. Unser Schneemann stünde dann für einen einzelnen Wähler und der Teppich – wie soll man sagen? – für das, was wir gemeinhin Zeitgeist nennen. Wie meinte doch gleich Faust in der Nacht-Szene zu Wagner?

Was Ihr den Geist der Zeiten heißt,
das ist im Grund der Herren eigner Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln.

Abgesehen von der Frage, wer hier die „Herren“ sein sollen, ist das alles im Grunde doch furchtbar selbstverständlich. Allein nicht jeder denkt jederzeit daran. Beim Gänse-Essen nämlich hatte sich Bolle zu der Bemerkung hinreißen lassen, im AfD-Parteiprogramm würde im Prinzip nichts stehen, was nicht auch in einem, sagen wir, CDU-Parteiprogramm von vor 20 Jahren hätte stehen können.

Der Effekt war, wie öfters mal bei Bolles Vorlesungen, zumindest verblüffend. Das heißt natürlich nicht, daß stante pede eine entsprechende Einsicht folgen würde. So etwas braucht ein wenig Zeit – das ist Bolle durchaus klar. Im Moment aber sieht es ja allgemein eher so aus, daß einer zunehmenden Zahl von Leuten ganz allmählich dämmert, daß weder Glühwürmchen (großes Herz, nicht ganz so großes Hirn) noch Hülsenfrüchtchen (außen grün, innen hohl) – wie Bolle das gerne mit zwinkerndem Auge umschreibt – angesichts einer prinzipiell übermächtigen Realität, die überdies, beziehungsweise gerade deswegen, fast immer Recht hat, keine allzu gute Figur machen. Das alles aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Mo 15-03-21 Small is beautiful

Small is beautiful. Die Rückkehr zum menschlichen Maß.

So richtig viel passiert ist nicht beim Auftakt zum „Superwahljahr“. Winfried Kretschmann kann im Ländle weitermachen wie gehabt – Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz ebenso. Eine Änderung hat sich allerdings dann doch ergeben: Herr Kretschmann könnte, wenn er denn wollte, mit einer Ampelkoalition regieren und seinen Koalitionspartner damit auf die Reservebank schicken. Bitter für die CDU, die von 1953 bis 2011, also 58 Jahre bzw. zwei Generationen lang, im Ländle auf Regierung abboniert war. Aber wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen: „Erster Test negativ“ – so die Schlagzeile der taz. Die SPD dagegen ist ob dieser Option ganz aus dem Häuschen –  Mehrheiten „diesseits der CDU“ seien wieder möglich – und träumt schon von der Machtübernahme im Bund. Bolle meint: Kieken wa ma.

Manche meinen ja, eine Partei sei im Kern eine „Marke“ – und das Wahlvolk sei halt nicht mehr sonderlich „markentreu“. Bolle hält nicht allzu viel von übertriebener Ökonomisierung des politischen Raumes. Eine „Marke“ ist gemeinhin etwas, das man kauft, weil man es (1) immer schon gekauft hat und (2) im großen und ganzen damit zufrieden ist. Gelegentliche Preis- und/oder Qualitätsvergleiche erübrigen sich damit. Max Weber hätte das „traditionales soziales Handeln“ genannt. Wollen wir so was in der Politik? Wozu dann noch Wahlkampf?

Überhaupt empfiehlt Bolle, gelegentlich und immer wieder mal – zumindest aber als kleine Entscheidungshilfe vor Wahlen – »Wag the Dog«  (USA 1997 / R: Barry Levinson / mit Dustin Hoffmann und Robert de Niro) zu kieken. Übertrieben? Sicherlich. Ist halt Hollywood. Unrealistisch? Leider nicht.

Einen unbestreitbaren Vorzug aber hatte der Wahlkampf. Er hat, Corönchen sei Dank, praktisch nicht stattgefunden – weder im Ländle noch in Rheinland-Pfalz. Wozu auch? Die Leute kennen ihre Kandidaten, und die „Botschaften“ ohnehin. Für eingefleischte „Markenwähler“ dürfte selbst das keine Rolle spielen. Wenn schließlich, wie in Baden-Würtemberg, die Botschaft auch noch lautet: „Bewahren heißt verändern“ – ein Spruch, den kein Zen-Meister besser hätte formulieren können –, dann dürfte auch der gutmütigste Wähler den Kopf schütteln und ansonsten dicht machen. Kurzum: Small is beautiful. Den Leuten kurz vor Schluß zu erklären, wofür man steht, ist schlechterdings überflüssig. Das wissen die Leute sowieso. Und falls nicht, sollten sie sich am Wahltag vielleicht lieber vornehm zurückhalten.

Ob, last but not least, der CDU die „Masken-Affäre“ geschadet hat oder nicht doch eher die Blässe ihrer Kandidaten, sei dahingestellt. Ähnliches gilt für die AfD mit ihren Verfassungsschutz-Scharmützeln. Das aber ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Do 11-03-21 Sputnik-Schock 2.0

Sputnik-Schock 2.0.

Damals, 1957, war der Teufel los. Nur 12 Jahre nach dem Endsieg über Nazideutschland und mitten im damals so genannten Kalten Krieg hatten sich die Russen erfrecht, ein Flugobjekt in den Weltraum zu schießen und damit ein Leuchtfeuer technischer Kompetenz gezündet. Im freien Westen war seinerzeit allen Ernstes von „Sputnik-Schock“ die Rede. Die Russen: Nüscht anzuziehen, keen Dach überm Kopp – aber sich im Weltraum tummeln.

Zwar meinte Bolle damals schon, ein Begriff wie »Weltraum« sei ja wohl doch ein wenig sehr euphemistisch, wenn man sich die Proportionen auch nur grob vor Augen hält: Von der Erde bis zu einer Umlaufbahn braucht ein Lichtstrahl in etwa eine zehntel Sekunde. Bis zu unserer Sonne sind es immerhin schon gut 8 Minuten, und bis zu den Außenbereichen unseres Planetensystems, dem Kuipergürtel, fast 7 Stunden. Nun ist eine zehntel Sekunde im Vergleich zu 7 Stunden doch eher wenig. Mikro-Peanuts, sozusagen. Doch es kommt noch dicker: Bis zur nächsten Sonne um die Ecke, Proxima Centauri, würde unser Lichtstrahl schon über 4 Jahre brauchen. Soviel zum Thema »Weltraum«. Das allerdings hat damals keinen interessiert – und tut es wohl bis heute nicht.

Aber davon ab: Der Sputnik-Schock saß tief. So tief, daß der damalige Präsident der Vereinigten Staaten, John F. Kennedy, unbedingt bemannt zum Mond fliegen wollte, und zwar rucki-zucki, binnen eines einzigen Jahrzehntes – einfach nur um klarzustellen, wer hier Master of the Universe ist.

Und dann das mit den Atomkraftwerken. Als den Russen 1986 ihr Tschernobyl um die Ohren geflogen war, da hieß es im freien und fortschrittlichen Westen: Keen Wunder – sind halt Russen. Dumm gelaufen, war aber absehbar. Uns kann so was nicht passieren. Wir können schließlich Mond.

Erst als den Japanern, genau heute vor 10 Jahren, in Fukushima genau das gleiche passiert war, begann im Westen das große Flattern – allen voran bei den Deutschen: Ausstieg aus der Atomenergie sprichwörtlich über Nacht. Gerade erst beschlossene Laufzeitverlängerungen wurden, von einer Physikerin übrigens, über Nacht suspendiert – whatever it takes.

Und jetzt erfrechen sich die Russen, in Rekordzeit einen Impfstoff zu entwickeln, der anscheinend tadellos funktioniert – und allen Ernstes auch noch ›Sputnik‹ heißt. Zufall? Sprach-Design? Treppenwitz der Geschichte? Wir wissen es nicht.

Und? Was macht der Journalismus 2.0? Wundert sich, daß einige Länder der EU – einschließlich Thüringen übrigens – lieber Sputnik „verimpfen“ als gar nicht impfen. Berichtet, daß kein Land der EU häufiger von „Falschinformationen“ aus Rußland betroffen sei als Deutschland – und führt das auf ein hierzulande unzureichendes Maß an Vorurteilen zurück. Zeigt sich befremdet, daß eine AfD-Delegation dieser Tage nach Rußland reist, um im Gespräch zu bleiben. Miteinander reden – das geht ja wohl gar nicht. Fragt sich, warum denn North Stream 2, fünf Minuten vor Fertigstellung, nicht doch lieber wieder eingestampft wird, um den Weg freizumachen für amerikanisches Fracking-Gas. Das ist zwar deutlich teurer und auch sehr viel umweltschädlicher. Dafür kommt es aber aus einem freien Land – und das ist ja wohl die Hauptsache für lupenreine Demokraten (vgl. dazu auch Fr 04-09-20 Die Recken des Rechtsstaates).

Kurzum: Die Rußland-„Skepsis“ (wie das neudeutsch neuerdings heißt) sitzt so richtig, richtig tief bei den „Eliten“ im Lande. Das scheint Bolle aber eher sozialpsychologisch bedingt und weniger geschichtlich. Die letzte ernstliche russische Invasion nach Europa liegt mittlerweile immerhin zwei- bis dreihundert Jahre zurück. Damals waren russische Adelige in Scharen in Pariser Cafés und Salons eingefallen, weil sie sich zuhause, zwischen Tundra und Taiga, einfach zu sehr gelangweilt hatten. Das aber ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Sa 06-03-21 Unfehlbar ist das Volk nicht. Aber es hat immer Recht …

Oh Zeiten, oh Sitten.

Gestern wollte Bolle die Nachrichten mal wieder zeit- und nervenschonend im Fast-Forward-Modus goutieren (vgl. dazu Sa 20-02-21 Fast forward …). Und dann so was. Bevor er zu den eigentlichen Nachrichten vorstoßen konnte, flashte ihm magenta-grell eine dieser „Eilmeldungen“ um die Ohren – die namentlich in jüngerer Zeit geradezu epidemisch werden. Allein seit Weihnachten haben wir das nicht weniger als vier mal angesprochen. Wer nachlesen möchte: vgl. ›Breaking News‹ (via Suchfunktion). Und wieder hat er sich gefragt: Wozu die Eile? Was, bitteschön, hat das mit mir und mit hier und heute zu tun? So was kann ich auch gelegentlich gemütlich zur Kenntnis nehmen. Und so scheint ihm das eher der Überraschung der Medienschaffenden 2.0 geschuldet als dem eigentlichen Nachrichtenwert.

Inhaltlich scheint das ganze unerwartet schnell zu einem regelrechten definitorischen Grabenkampf auszuarten: Wollen wir unter »Demokratie« die ›Herrschaft der Mehrheit‹ verstehen oder nicht doch lieber die ›Herrschaft der Guten‹? Auch dazu finden sich via Suchfunktion ›Herrschaft der Guten‹ seit Nikolausi 2020 mittlerweile nicht weniger als sechs Beiträge.

Bolles naives Demokratieverständnis sieht dabei folgendes vor: Das Volk wählt (Art 20 II GG) – viel mehr Möglichkeiten hat es ja nicht – und verleiht damit seiner Volkssouveränität Ausdruck, also seinem „Letztbestimmungsrecht über den Staatswillen“, wie das in Juristenkreisen heißt. Die vornehmste Aufgabe der Gewählten besteht dabei darin, eben diesen Staatswillen als solchen in praktische Politik zu verwandeln. Parlamentarier aller Länder – kommt damit klar. Wie Ihr das macht, bleibt Euch überlassen. Wenn dagegen, um ein Beispiel aus jüngerer Zeit herauszugreifen, eine Parlamentarierin eine Rede mit „liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Parteien dieses Hauses“ eröffnet, dann zeugt das doch von einem recht bemerkenswerten Demokratieverständnis. Da zählt sich jemand offen und mit frecher Stirn zu den Guten – Exlusionsrecht inklusive.

Aber sind die Guten wirklich so schlecht? Natürlich nicht. Bolle hat eher den Eindruck, daß sie in gewisser Weise hypnotisiert sind – und dabei fleißig sekundiert von einer nicht minder hypnotisierten Presse (vgl. dazu etwa Mi 03-02-21 Von Quatsch und Quark …) – und sich ihrer eigenen Job Description nicht wirklich voll bewußt. Wie meinte Bolle vorgestern erst: Wenn das mal gutgeht … Ein gelegentlicher Tritt in den Hintern, gegebenenfalls von Seiten der dritten Gewalt, der Judikative, kann da jedenfalls gar nicht schaden. Kieken wa ma …

Warum aber hat das Volk immer Recht, obwohl es nicht unfehlbar ist? Die Antwort: Weil wir uns darauf geeinigt haben, die Resultate der institutionellen Prozesse als verpflichtend zu akzeptieren. Das Argument findet sich wörtlich in der Neuen Zürcher Zeitung vom 18-03-17. Komplizierter ist es im Grunde nicht. Und was besseres ist uns bislang auch noch nicht eingefallen. Chaupeau, M. Rousseau. Das aber ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Do 04-03-21 Direkte Demokratie

Direkte Demokratie.

Viel los ist zur Zeit ja nicht – jedenfalls nüscht, was mehr wäre als ein tagesaktueller Uffreger. Mit derlei aber wollen wir uns im Rahmen unserer agnostisch-kontemplativen Bestrebungen nicht weiter beschweren. Wenden wir uns also Dingen zu, die auf mittlere Sicht echtes Knaller-Potential haben – auch wenn wir sie hier und heute nur anreißen können.

»Demokratie« bedeutet wörtlich ›Herrschaft des Volkes‹. Das indes ist schon deshalb wenig trefflich, weil es „das Volk“ nun mal nicht gibt – und, zumindest in größeren Staatsgebilden, wohl auch gar nicht geben kann (vgl. dazu etwa Fr 08-01-21 Corönchen-Sendepause oder auch Do 14-01-21 Derangierte Demokraten). Bleibt die ›Herrschaft der Mehrheit‹ oder, wenn man es lieber etwas sonniger mag, die ›Herrschaft der Guten‹. Wenn in Bolles lästerlichem Lexikon von der ›Unterwerfung der Minderheit durch die Mehrheit‹ die Rede ist, dann ist das natürlich technisch gemeint und bezieht sich auf die Schwarz’schen Konfliktlösungsstufen, denen zufolge sich rein ethologisch außer Flucht, Vernichtung, Vertreibung, Unterwerfung, Delegation, Kompromiß und schließlich Konsens wenig Möglichkeiten bieten, Konflikte zu bereinigen bzw. zu entscheiden – also nichts, was man Bolle vorwerfen könnte. Wir werden darauf zu gegebener Zeit zurückkommen.

Dabei sind sich entwickeltere Länder spätestens seit Thomas Hobbes (1588–1679) überwiegend darin einig, daß das Volk sich einen Anführer bzw. seine Anführer (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) wählen soll. Etwa 100 Jahre später kam die Einsicht dazu, daß es nicht schaden kann, dem Volk zu erlauben, seine Anführer regelmäßig wiederzuwählen oder aber abzuwählen, um übertriebene Abgehobenheit der herrschenden Schichten im Keime zu ersticken. Das hat sich im großen und ganzen auch recht gut bewährt. Keinesfalls aber soll das Volk sich erfrechen, sich direkt in politische Entscheidungen einmischen zu wollen. Das traut man ihm dann doch eher nicht zu – und vielleicht ist das auch gut so. Zwar heißt es in der Verfassung: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen […] ausgeübt. (Art 20 II GG). Die Abstimmungen – also das Direkte an der Demokratie – wurde von der Zunft der Rechtsgelehrten allerdings rucki-zucki gleich wieder wegdiskutiert.

Kurzum: Die Demokratie braucht einen gewissen Schutz vor unqualifiziertem Volk. Bei inhaltlichen Entscheidungen ist das weithin anerkannt. Wie aber sieht es an der Quelle, also an der Wahlurne aus? Kann man hier nicht – muß man hier nicht – im Vorfeld versuchen zu verhindern, daß das Volk die Falschen wählt? Man kann – und man versucht es auch immer wieder, mit mehr oder weniger subtilen Mitteln. Ein unrühmliches Beispiel aus jüngerer Zeit wäre etwa der Versuch der amerikanischen „Demokraten“ (hört! hört!), einen längst ausgeschiedenen Präsidenten per Impeachement aus dem Amt zu kegeln – mit dem alleinigen erkennbaren Zweck, dem Volk in vier Jahren eine entsprechende unqualifizierte Entscheidung zu ersparen. Das ist nach Bolles liederlichem Lexikon direkte Demokratie: Sicherstellung der ›Herrschaft der Guten‹, indem die weniger Guten gleich im Vorfeld ausgemustert werden – und zwar voll am Volk vorbei. Ähnliches ereignet sich zur Zeit gerade auch hierzulande. Wir können und wollen an dieser Stelle nicht auf Einzelheiten eingehen. Aber die stärkste Oppositionspartei zum Auftakt eines „Superwahljahres“ als potentiellen Hort politisch Krimineller darzustellen, die dringend der Aufsicht durch die Guten bedarf, ist bei Lichte betrachtet schon ein starkes Stück. Bolle meint: Wenn das mal gutgeht …

Und? Was macht der Journalismus 2.0? Ganz überwiegend Schweigen im Walde – wenn nicht gar „klammheimliche Freude“. Da muß Bolle erst auf die Neue Zürcher Zeitung zurückgreifen, um zu erfahren, daß Verfassungsschützer keine Meinungsmacher im Wahlkampf sein sollen, bzw. daß der Inlandsgeheimdienst die Verfassung schützen soll – und nicht die etablierten Parteien. Immerhin: Auch Gabor Steingart findet es anscheinend irritierend, auf diese Weise eine Partei anzugehen, die „mancherorts die stärkste parlamentarische Kraft“ ist. Bolle meint: Wenn’s aber doch der Herrschaft der Guten dient? Das aber ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Mo 11-11-19 Proportionen

Bis zu 1,5 Millionen Menschen können künftig eine Grundrente erhalten, die höher liegt als die vom Sozialamt gewährte Grundsicherung. […] Die Gesamtkosten belaufen sich auf bis zu 1,5 Milliarden Euro.

Gefunden in Garbor Steingarts Morning Briefing. Gleich oder ähnlich lautend findet sich die Meldung allerdings im gesamten Blätterwald. Aber bei Steingart liest es sich nun mal am amüsantesten. Überschlagen wir die Proportionen: 1,5 Milliarden bei 1,5 Millionen Rentnern macht, easy, 1.000 Euro pro Rentner und Jahr – mithin also 83 Euro pro Monat. Na toll, meint Bolle. Voll der „Meilenstein“ bei der Bekämpfung der Altersarmut. Da wir schon mal bei Proportionen sind: Vergleichen wir die abgehängten Rentner mit einer anderen schwer diskriminierten Gruppe – den Flüchtlingen bzw., wie es neuerdings heißt, den „Schutzsuchenden“. Bolle fragt sich: Welche Sprach-Designer sind hier eigentlich am Werk? Und vor allem: Wer bezahlt die? Aber das ist ein anderes Kapitel. Der Vergleich von „abgehängten Rentnern“ und „Schutzsuchenden“ bietet sich schon deshalb an, weil sie größenordnungsmäßig gaanz vorsichtig geschätzt in etwa gleich stark sind: etwa 1,5 Millionen. Das erleichtert den Vergleich. Deren jährliche Kosten allerdings belaufen sich nach mehreren mehr oder weniger übereinstimmenden Quellen auf etwa 50 Milliarden jährlich – mithin also auf das über 30-fache (!). Bolle sieht das ganz pragmatisch, wenn er meint, daß er der seinerzeit ausgegebenen Losung „Wir schaffen das“ mehr Glauben würde schenken können, wenn die Proportionen nicht derart unproportioniert wären. Entweder wir sind „ein reiches Land“, wie es in diesem Zusammenhang immer heißt. Oder wir sind ein dann doch nicht ganz so reiches Land, das es nötig hat, seine „abgehängten Rentner“ mit 83 Euro pro Monat abzuspeisen und das dem Volk als „sozialpolitischen Meilenstein“ zu verkaufen – vor allem vor dem Hintergrund solcher Proportionen. In diesem Zusammenhang muß Bolle oft an die Geschichte vom barmherzigen Samariter denken (Lukas 10, 25-37). Was wäre gewesen, fragt er sich, wenn „die Mörder“ nicht nur einen, sondern zehn, oder hundert – oder noch viel mehr – hätten „halbtot liegen lassen“? Irgendwann, so sein vorläufiger Schluß, wird sich auch der warmherzigste Samariter entscheiden müssen, ob er seinem ethischen Impuls („alle retten“) oder seinen wirtschaftlichen Möglichkeiten wird folgen wollen oder müssen. Im Bibel-Beispiel ging es um „zwei Groschen“ (plus der Option auf Begleichung weiterer Auslagen des zur Pflege eingespannten Wirtes, Lukas 10, 35). Somit – und das ist Bolles zweiter Schluß – dreht sich die gesamte Kontroverse, die Deutschland seit nunmehr mindestens vier Jahren quält, im Kern um die Frage: Schaffen wir das – oder schaffen wir das dann doch eher doch nicht? Wenn ich abgehängter und abgespeister Rentner wäre, so Bolle, würde ich wohl eher auf letzteres tippen – und mich dabei schwer dagegen verwahren, allein deswegen von bessergestellten Kreisen als „Nazi“ oder zumindest „Fremdenhasser“ diffamiert zu werden. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Do 07-11-19 Thüringer Brandmauer

Noch hält die Brandmauer

So titelt Spiegel Online heute unter der Dachzeile »Verhältnis von CDU und AfD im Osten«. Bolle fragt sich: Wieso eigentlich „Brandmauer“? Brennt’s denn im Osten?

Was ist da bloß los in Thüringen? Und, genereller: Was ist da los bei der Ost-CDU?

Generell, genereller, am generellsten. Na toll! „Qualitätsjournalismus“, eben. Das hat man davon, wenn man einen ganzen Berufsstand für alle öffnet, die meinen, hinreichend ambitioniert zu sein und dabei in der Lage, ein paar Zeilen zu Papier bringen zu können. Garbor Steingart meinte kürzlich, und zwar völlig zutreffend: „Aus Journalisten sind Aktivisten geworden.“ Großes Herz – nicht ganz so großes Hirn. Na toll, zum zweiten.

Immer mehr Politiker an der Basis versuchen, Steine gegen die Brandmauer zu werfen, die die CDU gegenüber der AfD errichtet hat.

„Steine gegen die Brandmauer werfen“. Soll das ein Topos sein? Dazu kommt es zu selten vor – eigentlich überhaupt nicht, bislang. Eine Metapher? Dazu ist es erstens nicht ausdrucksstark genug und zweitens viel zu schräg. Eine Brandmauer ist keine Burgmauer, die man mit Steinen zu Fall bringen könnte. Was dann? Wir wissen es nicht. Aber geschenkt. Wichtiger ist die Frage: Wer eigentlich soll das sein –  „die CDU“? Die „Funktionäre“ – also „die da ohm“ bzw., in ostdeutscher Diktion, „die Bonzen“ – oder nicht doch eher „die Basis“. Werfen wir einen Blick in die Verfassung. Das Demokratieprinzip verlangt in einer repräsentativen Demokratie eine ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu den staatlichen Organen. Zwar ist eine Partei kein „staatliches Organ“. Gleichwohl gelten hier die gleichen Regeln: „Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen“ (Art. 21 I S. 3 GG). Das bedeutet im Kern die Mißbilligung eines „Führerprinzips“ bzw., positiv gewendet, eine Willensbildung „von unten nach oben“. Kurzum: „die CDU“, verstanden als „Club der Funktionäre“ hat genau das zu tun, was „die Basis“ will – und nicht etwa „Brandmauern“ gegen ihre eigene Basis zu errichten. „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Kennen wa ja seit 1961, meint Bolle. Also haltet Euch dran, Ihr aufrechten Demokraten. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Di 05-11-19 Thüringer List

Die CDU in Thüringen strebt ins Anti-Autoritäre: Von der CDU-Vorsitzenden und ihrem Vorstand will man sich Gespräche mit der AfD nicht untersagen lassen. So fordern mehrere Christdemokraten aus dem ostdeutschen Bundesland, „sich aktiv am Gesprächsprozess mit ALLEN demokratisch gewählten Parteien im Thüringer Landtag zu beteiligen“ (Hervorhebung im Original).

Gefunden in Garbor Steingarts Morning Briefing. Der wesentliche Punkt scheint Bolle nicht die gewählte Hervorhebung zu sein („allen“), sondern vielmehr die listige Unterscheidung zwischen der bisherigen Wendung „mit allen demokratischen Parteien“ und der neuen Fassung „mit allen demokratisch gewählten Parteien“. Über die Frage, ob die AfD eine „demokratische“ Partei ist, läßt sich trefflich und wohl bis zum jüngsten Tage streiten – zumindest aber so lange, bis das Bundesverfassungsgericht, und nur das Bundesverfassungsgericht und nicht etwa die Exekutive oder gar der „politische Gegner“, ein Machtwort spricht (Art. 21 II S. 2 GG). Daß die AfD aber eine „demokratische gewählte“ Partei ist, wird auch der überzeugteste „demokratische AfD-Hasser“ nicht leugnen können. Das Problem liegt natürlich tiefer: Wollen wir unter »Demokratie« schlicht und ergreifend eine Staatsorganisationsform verstehen – also einen Staat mit einer Volksvertretung, die die Regierung zumindest kontrollieren soll und sich regelmäßigen Wahlen zu stellen hat – oder wollen wir »Demokratie« auf die „Gemeinschaft der Guten“ einengen? Definiere »Die Guten«. In der politischen Auseinandersetzung hält sich natürlich jeder für „die Guten“. Was denn sonst? Verfassungsrechtler – oft sehr viel nüchterner als der jeweilige „politische Gegner“ – verstehen darunter im wesentlichen (und naturgemäß etwas vage) nicht mehr als die „Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten“, und das auch nur unter dem „Vorbehalt des Möglichen“ (BVerfG in ständiger Rechtsprechung). Deutlich konkreter wird die Verfassung in Art. 20 II GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen […] ausgeübt.“ Das zu ignorieren ist im Kern „undemokratisch“ bzw. geradezu verfassungsfeindlich – auch wenn man sich selber noch so sehr zu den „Guten“ zählen mag. So gesehen gebührt den Thüringer „Anti-Autoritären“ (Gabor Steingart) höchstes Lob für ihre List. Aber das ist ein anderes Kapitel.