Hier ein knapper Auszug aus unserer Reihe »Der historische Text«. Bolle hat ihn seinerzeit im Rahmen seiner Abschlußprüfung in Soziologie verfaßt. Hat sich seitdem was wesentlich Neues ergeben? Mitnichten. Es gibt Dinge, die ändern sich nie. Auch scheint Bolle der Zeitpunkt für eine Veröffentlichung günstig, da erstens sein lieber guter alter Soziologie-Professor kürzlich seinen 80. Geburtstag gefeiert hat und auch Franz, der Weise, dieser Tage immerhin 63 wird. Wohlan, denn. Hier der Text:
Die zukünftig Herrschenden haben den zukünftig Beherrschten eines voraus – und das ist ihre Ausrichtung. Meine These ist, daß die Ausrichtung alleine hinreichend sein kann – unabhängig von etwaigen Machtmitteln wie etwa „Kapital“ im weitesten Sinne. In den Beispielen bei Popitz 1992 (»Phänomene der Macht«) unterscheiden sich die zukünftigen „Liegestuhlbesitzer“ von den Nichtbesitzern nur darin, daß sie – aus welchen Gründen auch immer – einen eigenen Liegestuhl beanspruchten. Mit anderen Worten: Sie wußten, was sie wollten – sie waren auf ein Ziel ausgerichtet. Dabei braucht Machtentfaltung und vor allem ihre Etablierung als Herrschaft Zeit – sie entwickelt sich in aller Regel nicht spontan.
Versteht man unter »Institutionalisierung« etwa ›Verfestigung und Verstetigung‹ von Strukturen und faßt man »Strukturen« (begrifflich klarer) als ›Relationen‹ auf, dann ist es wohl nicht nur so, daß Herrschaft nach Institutionalisierung strebt, sondern auch – gerade umgekehrt – daß Institutionalisierung Herrschaft hervorbringt. Historisch gesehen wurde und wird die Zeitgebundenheit der Machtentfaltung unterstützt durch Institutionen, vor allem (1) Privateigentum und (2) Erbrecht – funktional betrachtet also die Möglichkeit, Erfolge zu akkumulieren, und zwar über die Lebensspanne einer einzelnen Person hinaus.
Nun sind Privateigentum und Erbrecht in vielen Gesellschaften schon sehr lange institutionalisiert. Aber erst mit dem Kapitalismus – also dem Vordringen des Kapitals als wichtigste materielle Machtgrundlage – entstand eine bis dahin undenkbare Akkumulationsmöglichkeit von Macht. Die herkömmliche Machtgrundlage – Eigentum an Grund und Boden und vor allem die daraus resultierenden Einkünfte – ließ sich nur durch Erwerb weiteren Bodens erweitern, also im Regelfall durch Eroberungen. Der Bodenertrag war im wesentlichen eine Funktion der Fläche. Erst mit der Erfindung des Kunstdüngers (Justus Liebig) wurde eine (vergleichsweise mäßige) Steigerung des Bodenertrags pro Hektar möglich. Auch die „Wachstumsrate“ etwa einer Viehherde hält sich in engen, natürlich vorgegebenen Grenzen.
Die Produktivität von technischen Anlagen (Kapital) ist dagegen fast grenzenlos steigerbar. Durch die Trias (1) Privateigentum, (2) Erbrecht und (3) Kapital als Produktionsfaktor ist also der „Belohnungswert“ einer langfristigen Ausrichtung so hoch wie noch nie. Der Kapitalismus war demnach auch nicht das Werk von (eher kurzfristig orientierten) „Nutzenmaximierern“, sondern – ganz im Gegenteil – das Werk von „innerweltlicher Askese“ (Max Weber), also einer langfristig und sogar generationenübergreifend angelegten Ausrichtung auf ein Ziel hin. Ganz analog verhält es sich mit anderen Kapitalformen – etwa kulturellem Kapital (Bourdieu) in Form von Ausbildung oder Titeln: Je länger eine Ausbildung regelmäßig dauert, desto höher ist in der Regel das damit verbundene Prestige und somit auch das potentiell erzielbare Einkommen. Warum ist Ausrichtung so wichtig? Zwei Gründe scheinen mir wesentlich:
- Der time-lag zwischen Aufwand und Ertrag. Vorzeitiges Abbrechen einer Handlungskette bringt einen um den Ertrag – zurück bleibt der Aufwand, und nur der Aufwand. Ein Beispiel wäre ein Bauer, der im Herbst auf die Idee kommt, seine Zäune zu streichen, statt die Ernte einzufahren.
- Die Reduktion von Kontingenz bzw. Transformation von Kontingenz in Realität. Die Wirklichkeit wird „wirklicher“, wenn sie sich nicht im Raum der Möglichkeiten verzettelt.
Soweit der Text. Wem das zu theoretisch war: Überlegt doch mal, wie sich Ausrichtung bzw. „Entschlossenheit“ heute ganz lebenspraktisch äußert: „Schnabel aufreißen“ heißt die Devise. Je lauter, desto besser. Wer schreit, hat Recht. Unglücklicherweise hat sich der Journalismus 2.0 offenbar dieser Deutung angeschlossen und verkauft dem Publikum Lautstärke als Ausweis von Engagement. Die Gediegeneren begnügen sich derweil damit, ihre Anliegen nach allen Regeln der Kunst zu institutionalisieren. Zwar dauert das länger – ist aber um so wirkungsvoller. Wer schließlich mehr über das „Liegestuhl“-Beispiel erfahren möchte – die Lektüre lohnt unbedingt, und sind auch nur knapp 10 Seiten –, der (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) möge das Bändchen erwerben oder bei uns anfragen. Das aber ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.