Sa 23-12-23 Das dreiundzwanzigste Türchen …

Weihnachtlich windige Warnung …

Es gibt Dinge, die wollen – abhold hin, abhold her – dann doch noch Erwähnung finden, zumindest am Rande. Und der 22. Dezember (siehe Bildchen) ist schließlich so ziemlich am Rande, was unseren agnostisch-kontemplativen Adventskalender angeht. Dabei wirkt das Bildchen recht kühl – gefühlt wie –2°, sozusagen – und gar nicht wirklich weihnachtlich.

Das bemerkenswerte aber ist die Windwarnung – verziert mit einem Ausrufezeichen auf rotem Grund, auf daß es bloß niemand übersehen möge. Auch ist das Schildchen keineswegs tagesaktuell – das wollten wir ja lassen in diesem Jahr. Im Gegenteil: Derlei flattert Bolle alle paar Tage auf sein Handy. Dabei wollen wir hier gar nicht aufzählen, vor was alles gewarnt wird: Hitze, Kälte, Schnee, Regen, Eis, Trockenheit, überhaupt Wetter allgemein – und dann natürlich eben auch Wind. Wind!

Nun sind Warnungen weit verbreitet – und das zuweilen auch nicht ganz zu Unrecht. Schon im antiken Pompeji etwa waren Cave-Canem-Fußmatten ein beliebter Schmuck an der Eingangstür. Wörtlich also „Meide den Hund“ beziehungsweise, freier übersetzt; „Vorsicht! Bissiger Köter!“ Nun ist Pompeji bereits im Jahre 79 nach der Geburt des Erlösers der Christenmenschen in der Asche des Vesuvs wortwörtlich untergegangen, falls Bolle in Geschichte aufgepaßt hat. Davor indessen hatte niemand gewarnt: Von Cave-Vesuvium-Schildern ist zumindest nichts überliefert. Soweit zu den Prioritäten.

Was will uns das alles sagen? Wenn wir uns die Mühe machen und auf die Warnung klicken, heißt es: Achtung. Bereiten Sie sich gemäß den Anweisungen vor. Aha! Bolles – zugegebenerweise recht freie – Übersetzung würde lauten: Die Welt ist wild und gefährlich. Aber keine Sorge. Die Regierung kümmert sich um Dich. You never blow alone, sozusagen. Du mußt nur immer schön brav sein und stets die Anweisungen befolgen. Alles wird gut …

Auch würde Bolle überhaupt kein Aufhebens wegen solcher Cave-Ventulum-Geschichten machen (wörtlich: Hüte Dich vor dem Lüftchen) – würden ihm da nicht 3 Jahre Corönchen-Hysterie noch mächtig in den Knochen stecken. Hieß das überhaupt so? Irgendwas mit „ieeh“ jedenfalls war’s  – das weiß Bolle noch ganz genau.

Auch erinnert das alles doch sehr an Äsops Gleichnis von dem Hirtenjungen und den Wölfen (6. Jhd. v. Chr). Der Hirtenjunge hatte – wohl um etwas Abwechslung in seinen eintönigen Alltag zu bringen – laut vernehmlich „Hilfe, Hilfe, der Wolf kommt“ gerufen. Das ganze Dorf eilte ihm zu Hilfe. Allein, da war kein Wolf. Einige Zeit später – und da war dann wirklich ein Wolf, und zwar ein ganzes Rudel – verhallte sein Hilferuf ungehört und er endete, samt seiner Schafe, wie Rotkäppchens Großmutter. Allerdings ohne Happy Ending.

Was Bolle aber wirklich Sorgen machen würde, falls er zu derlei neigen würde, ist das Menschenbild, das dahinter vermutet werden darf bzw. gar muß. Einer Gesellschaft voller schutzbedürftiger Schäfchen würde Bolle beim besten Willen keine allzu prickelnde Sozialprognose ausstellen wollen. Wer mag, mag die fünfteilige Trilogie vom letzten Jahr noch einmal als Weihnachtslektüre der etwas anderen Art nachlesen. Sie findet sich unter dem Schlagwort ›Schrat und Staat‹. Im fünften und letzten Teil (Mi 21-12-22 Das einundzwanzigste Türchen …) heißt es dort, daß für einen Souverän, der sein Salz wert ist, eine hinreichende Freiheit von Bangbüchsigkeit (beziehungsweise, derber formuliert, Freiheit von Schissertum) wünschenswert, wenn nicht nachgerade unverzichtbar wäre. Von wegen Cave Ventulum. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Mi 21-12-22 Das einundzwanzigste Türchen …

Die Grenzen der Demokratie …

Hier der Vollständigkeit halber zunächst der ›Schiller‹, auf den sich Blumenthal gestern bezogen hatte (vgl. Di 20-12-22 Das zwanzigste Türchen …), im Zusammenhang. Wir wollen Euch das nicht vorenthalten – auch wenn es in dieser Verdichtung etwas deprimierend klingen mag.

Was also wären die Anforderungen, die an das Volk zu stellen sind, damit Demokratie, die mehr ist als nur ein Partizipations-Placebo oder gar nur eine fluffige Umschreibung für ›Herrschaft der Guten‹, funktionieren bzw. „gelingen“ kann – wie es in anderen Zusammenhängen in herrlichem Neusprech immer so schön heißt?

Eigentlich sind es, auf den Punkt gebracht, nur drei Zutaten, die nicht nur höchst wünschenswert wären, sondern die uns nachgerade unverzichtbar erscheinen wollen.

Zum einen bräuchte das Volk eine hinreichend ausgebildete Urteilsfähigkeit. Hierbei handelt es sich im Grunde nur um einen altmodischeren Ausdruck für das, was wir gestern ›prognostische Kompetenz‹ genannt haben.

Aber woher nehmen, wenn nicht stehlen? Bolle hat einige Jahre in Folge bei Einführungsveranstaltungen für Erstsemester den folgenden running gag zum Besten gegeben: „Im wesentlichen geht es hier um Lesen, Schreiben, Rechnen.“ Damit hatte er erst mal einen Lacher. Einen leicht irritierten Lacher zwar – aber immerhin einen Lacher. Aber wie so oft ist auch hier der Scherz das Loch, durch das die Wahrheit pfeift. Urteilsvermögen fällt nicht vom Himmel und wächst auch nicht auf Bäumen. Vielmehr muß es sich entwickeln. Und das kann ganz schön dauern.

Zum zweiten bräuchte es eine gewisse Souveränität. Im Grunde liegt das mehr als nahe. Schließlich ist das Volk der Souverän. Und was wäre ein Souverän ohne Souveränität? Für den Anfang wäre schon einiges mit hinreichender Resistenz gegen Gruppendruck sowie einem gesunden Mißtrauen gegenüber aufgeblasenen Autoritäten gewonnen. Wenn alle (oder furchtbar viele) mit den Wölfen heulen, so sollte das für einen souveränen Souverän noch lange kein Grund sein einzustimmen. Und Autoritäten kochen schließlich auch nur mit Wasser.

Und drittens und letztens schließlich wäre eine hinreichende Freiheit von Bangbüchsigkeit – wir könnten auch sagen: Freiheit von Schissertum – wünschenswert. Genau so, wie es Friedrich von Logau (1605–1655) seinerzeit so trefflich auf den Punkt gebracht hat (vgl. dazu auch unser Türchen vom letzten Jahr: Mo 20-12-21 Das zwanzigste Türchen …).

Leb ich / so leb ich!
Dem Herren hertzlich;
Dem Fürsten treulich;
Dem Nechsten redlich;
Sterb ich / so sterb ich!

Warum ist das so? Nun – wer Schutz durch seinen Nächsten sucht, wird vor allem Herrschaft ernten.

Fassen wir zusammen: Urteilsfähigkeit, Souveränität sowie Freiheit von übertriebener Bangbüchsigkeit. Das in etwa ist das Holz, aus dem sich Demokraten schnitzen ließen, die mehr sind als nur gelegentliche Kreuzchen-Macher. Man könnte es auch so formulieren: Ein Demokrat braucht unbedingt ein Mindestmaß an agnostisch-kontemplativer Grundstimmung. Damit aber sind wir – Bolle meint, man kann das schwerlich anders sehen – himmelweit von den Zuständen in der hierzulande real existierenden Demokratie entfernt. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Mi 14-12-22 Das vierzehnte Türchen …

Das Ich und der andere (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course)

Vor lauter Demokratie haben wir fast vergessen zu definieren, was wir uns denn unter den Leuten, die in einer Demokratie leben, vorzustellen haben – im günstigsten Falle also den Demokraten. Ein ›Demokrat‹ ist nach landläufiger Auffassung ›ein Anhänger der Demokratie‹. So gesehen kann Bolle schon mal kein Demokrat sein – weil er ja schon Agnostiker ist und damit jeglicher Form von „Anhängerschaft“ abhold.

Probieren wir es also eine Nummer kleiner und definieren: Ein Demokrat ist ›einer, der davon überzeugt ist, daß die Demokratie die beste aller möglichen Staatsformen ist‹. Auch hier muß Bolle passen. Wie wir ja gesehen haben, läuft Demokratie – zumindest so, wie wir sie gegenwärtig erleben müssen – auf eine Staatsorganisationsform mit institutionalisiertem Partizipations-Placebo hinaus. Dummerweise ist Bolle in diesen Dingen viel zu bewandert, um diesen Köder zu schlucken – und schon gar nicht freudig. Mit ›Herrschaft der Guten‹ und ähnlichen Entgleisungen soll man Bolle natürlich ohnehin nicht kommen, of course.

Probieren wir es also noch eine Nummer kleiner: Ein ›Demokrat‹ ist ›einer, der davon überzeugt ist, daß informierte und verständige Bürger ihre Geschicke selbst bestimmen und den jeweils Herrschenden gerade eben so viel Macht einräumen sollten wie eben nötig ist, um den Laden zusammenzuhalten‹. Hier wäre Bolle schon eher dabei. Obwohl – auch das wirft Fragen auf. Ganz zuvörderst natürlich die Frage, was wir uns denn unter einem ›informierten und verständigen Bürger‹ vorstellen wollen. Versuchen wir es mit einer Abgrenzung von hinten: zumindest also jedenfalls keinen, der alles frißt, was ihm die jeweiligen Herrschenden im Laufe der Zeit so alles aufzutischen belieben.

Und schon haben wir ein nettes kleines Anschlußproblem: ›informierte und verständige Bürger‹ fallen nicht vom Himmel und wachsen auch nicht auf Bäumen. Hier gäbe es durchaus einiges zu tun – und damit meint Bolle nicht die Digitalisierung der Klassenzimmer. Nicht, daß der Demokratie demnächst womöglich noch die Demokraten ausgehen …

Volksvertreter, die das Volk mit TikTok-Clips bei Laune halten wollen – lustig, lustig, traleralera! – wollen sich jedenfalls nicht ganz so gut in Bolles Demokraten-Verständnis fügen. Ebensowenig wie die Tendenz, alles, was einem nicht perfettamente ins Weltbild paßt, nonchalant unter den Tisch zu kehren oder als „verschwörerisch“ bzw. gar „demokratiefeindlich“ abzukanzeln. Den Standpunkt des anderen verstehen zu können geht jedenfalls anders. Verstehen können heißt ja nicht einnehmen müssen. Aber für manchen ist offenbar selbst das schon „zu komplex“. Und so kommt es, daß im Namen der Einigkeit aller aufrechten Demokraten der Begriff an sich ad absurdum geführt wird.

Und überhaupt: als ob „Einigkeit“ eine originär „demokratische“ Tugend wäre. Übertriebene Einigkeit kennzeichnet wohl eher totalitäre Systeme. Und so berühren sich die Enden. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Mo 12-12-22 Das zwölfte Türchen …

Die Katze und der Schwanz.

Heute kommen wir – pünktlich zur Halbzeit unseres diesjährigen virtuellen agnostisch-kontemplativen Adventskalenders – zum letzten Teil unserer Trias.

Wir haben gesehen, daß das Beste, was man über ›Demokratie‹ sagen kann, ist, daß sie ein solides Partizipations-Surrogat liefert. Alle dürfen glauben, daß sie was zu sagen haben. Tatsächlich zu sagen haben sie aber wenig. Immerhin fühlt es sich besser an als die schiere Ohnmacht. Auch haben wir gesehen, daß ›Demokratie‹ schon deshalb nicht ›Herrschaft des Volkes‹ bedeuten kann, weil es „das Volk“ als Entität schlechterdings nicht gibt. Also bleibt nur ›Herrschaft der Mehrheit‹. In ›Bolles lästerlichem Lexikon‹ heißt es dazu:

Demokratie ist die Unterwerfung der Minderheit durch die Mehrheit.

Das ist wohl noch die ehrlichste Definition.

Was den ›Rechtsstaat‹ angeht – also die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive – haben wir gesehen, daß es eine solche Gewaltenteilung in Deutschland und den meisten europäischen „Demokratien“ einschließlich der EU schlechterdings nicht gibt. Vielmehr gilt das Prinzip „one fits all“. Die Regierung macht sich selber die Gesetze, nach denen sie sich dann ganz rechtsstaatlich richtet.

Beides zusammengenommen kann natürlich leicht dazu führen, daß sich ein ganzes Land samt seiner Verfassung in Windeseile weit von einem „Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“ (Merkel 2017), entfernt. Betrachten wir nur die Lässigkeit, mit der in den letzten Jahren praktisch sämtliche Grundrechte mal eben auf Eis gelegt wurden. Aber gab es nicht gute Gründe? Durchaus. Aber „gute Gründe“ gibt es immer. Wo ein Wille ist, ist schließlich immer auch ein Argument. Juristen lernen das schon in der Ausbildung. So heißt es etwa in § 28 IfSG (Infektionsschutzgesetz), daß „die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen“ trifft und daß dafür die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit (Art 2 II S. 1 GG), der Freiheit der Person (Art 2 II S. 2 GG), der Versammlungsfreiheit (Art 8 GG), der Freizügigkeit (Art 11 I GG) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art 13 I GG) „insoweit eingeschränkt“ werden.

Wie wir sehen können, ist alles rechtsstaatlich sauber geregelt. Die Regierung (einschließlich der Behörden) müssen sich an die Gesetzeslage halten. Dumm nur, daß so etwas wie „die notwendigen Schutzmaßnahmen“ eine sogenannte Generalklausel ist. Was immer die „zuständige Behörde“ für „notwendig“ halten mag, kann sie als „Schutzmaßnahme“ anordnen. Daß die Grundrechte dabei auf der Strecke bleiben, ist dann halt so: Excusez, mon ami, mais c’est la guerre – Entschuldige, mein Lieber, aber wir befinden uns im Krieg (Wilhelm Busch: ›Monsieur Jacques à Paris während der Belagerung im Jahre 1870‹).

›Verfassungsstaat‹ bedeutet, daß der Gesetzgeber an einen „Grundbestand überpositiven Rechts“ – also Recht, daß sich die Regierung in Gestalt des Gesetzgebers nicht mal eben so selber ausdenken kann – gebunden ist. So sieht es (oder so sah es zumindest) auch das Bundesverfassungsgericht. Auch dann nicht, wenn die Regierung die Mehrheit des Volkes hinter sich weiß? Auch dann nicht. Warum nicht? Weil das offenbar die einzige Möglichkeit ist, die stets drohende ›Unterwerfung der Minderheit durch die Mehrheit‹ zumindest in Grenzen zu halten.

Fassen wir unsere kleine Trias zusammen: Da haben wir es mit einer ›Demokratie‹ zu tun, die im Grunde nur für ein Partizipations-Placebo steht, einem ›Rechtsstaat‹, der der Idee der Gewaltenteilung spottet, und einem ›Verfassungsstaat‹ mit seiner Idee von „unverhandelbaren Werten“, die auch durch eine Mehrheit nicht gekippt werden können – von denen sich aber niemand traut, klar zu sagen, welche Werte genau das sein sollen. Kurzum: Wenn das System kippt, dann kippt es eben. Da helfen weder Demokratie noch Rechtsstaat und auch kein Verfassungsstaat. Damit wären wir bei Luhmann: Das System erzeugt die Elemente, aus denen es besteht, mittels der Elemente, aus denen es besteht.

Lohnt es sich, dafür zu sterben? Oder wenigstens zu frieren? Bolle findet: Thanks, I’m fine. Und welche Rolle spielt dabei die Presse, die sogenannte 4. Gewalt? Die knappe Antwort: Eine tragende – was durchaus alles andere als complimentary gemeint ist. Das aber sind dann doch schon wieder ganz andere Kapitel.

So 11-12-22 Das elfte Türchen – der dritte Advent …

Geh Er (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) nur brav zur Wahl …

Kommen wir heute zum 2. Teil unserer Trias ›Demokratie/Rechtsstaat/Verfassungsstaat‹ – dem Rechtsstaat. „Ein Rechtsstaat ist ein Staat, der einerseits allgemein verbindliches Recht schafft und andererseits seine eigenen Organe zur Ausübung der staatlichen Gewalt an das Recht bindet.“ So steht es gleich einleitend bei Wiki – und so ist es auch recht gut auf den Punkt gebracht.

Und so stellt man sich das auch gerne vor: Rechtsstaatlichkeit bedeutet demnach, daß die Regierung nur im Rahmen der bestehenden Gesetze handeln darf. Kurzum: Die Legislative begrenzt die Macht der Exekutive. Mal eben so par ordre du mufti zu regieren ist also ebenso ausgeschlossen wie Absolutismus-Allüren aller Art, allen vorweg Ludwig XIV (1643−1715) mit seinem Motto L’etat c’est moi. Im Grunde doch ein schöner Fortschritt!

Das Problem an dieser Stelle: Wer oder was hält die Regierung davon ab, zunächst die passenden Gesetze zu verabschieden, um dann im Anschluß völlig gesetzeskonform, also rechtsstaatlich zu agieren? Nach dieser Definition wäre wohl durchaus auch die DDR als Rechtsstaat einzustufen, ebenso wie heute beispielsweise China oder Nordkorea oder – let’s go crazy – etwa das Dritte Reich. Auch hier hatte alles seine gesetzliche Grundlage – dafür haben die Juristen schon gesorgt. Die Antwort fällt ausnahmsweise einmal leicht: Die Regierung ist für die Gesetzgebung nicht zuständig – sie hat sich lediglich an die Gesetze zu halten.

Dumm nur, wenn es sich – wie das in Deutschland regelmäßig der Fall ist – bei Legislative und Exekutive um dieselben Leute handelt. In der Tat werden in Deutschland die allermeisten Gesetzesvorlagen von der Regierung (!) eingebracht. Das kann man sich gar nicht klar genug machen!

Bolle war als junger Jura-Student Teilnehmer einer Veranstaltung einer parteinahen Stiftung einer großen Volkspartei. Dort meinte einer der Seminarleiter jovial, natürlich gebe es in Deutschland keine Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative im herkömmlichen Sinne. Vielmehr handele es sich bei Lichte betrachtet eher um eine „Funktionenteilung“. Bolle fand das damals schon listig formuliert. Gleichwohl war ihm dabei unwohl. Und so ist es heute noch.

Das einzige gewaltenteilerische Element in Deutschland ist die Zustimmungspflicht des Bundesrates bei manchen Gesetzen. Hier kann es durchaus sein, daß im Bundesrat andere parteipolitische Mehrheiten herrschen als im Bundestag – Regierungsvorlagen also nicht einfach so durchgewunken werden können. So etwas ist aus Regierungssicht natürlich lästig. Wie soll man da „durchregieren“ können? Und so begab es sich zum Beispiel 2017 allen Ernstes, daß die designierten Regierungsparteien in ihrem Koalitionsvertrag einen „Pakt für den Rechtsstaat“ vereinbart hatten – mit dem einzigen Zweck, einen womöglich widerspenstigen Bundesrat gleich im Vorfeld entsprechend einzubinden. Erklärter Sinn der Sache war natürlich, „den Rechtsstaat handlungsfähig [zu] erhalten“ und „das Vertrauen in die rechtsstaatliche Demokratie“ zu stärken. Bolle könnt‘ glatt kotzen. Aber wo ein Wille ist, da ist eben auch ein Argument.

Fassen wir zusammen: Nachdem wir gestern kaum ein gutes Haar an der Demokratie gelassen haben: Warum sollte es ausgerechnet dem Rechtsstaat besser ergehen? Bleibt noch der ›Verfassungsstaat‹, den wir uns für morgen aufheben wollen. Schließlich handelt es sich dabei wiederum um ein ganz anderes Kapitel.

Sa 10-12-22 Das zehnte Türchen …

Kurzdialog: — Bolle ist doof! — Definiere ›doof‹.

Hier also – wie vorgestern schon erahnt und gestern regulär angekündigt, der erste Teil unserer kleinen Trias ›Demokratie/Rechtsstaat/Verfassungsstaat‹.

›Demokratie‹ gehört – man kann das wohl kaum anders sagen – linguistisch gesehen zur Gruppe der meliorativen Blähwörter: Klingt gut bzw. soll gut klingen, ist dabei aber wenig trennscharf. In Bolles Kreisen spricht man auch von „Wünsch-Dir-was“-Wörtern. Die systematische Verwendung solcher Begriffe nennt man ›Waber-Laber‹. Dabei ist derartiger Sprachgebrauch gar nicht mal so selten: Prominente Beispiele wären etwa ›Leistung‹ (als Grundbegriff der „Leistungsgesellschaft“) oder auch ›Wettbewerbsfähigkeit‹ (als Grundbegriff wirtschaftspolitischer Ausrichtung).

Damit eignet es sich als Begriff hervorragend zur Errichtung quasi-staatsreligiöser Systeme. Wenn man der kontemporären Polit-Prominenz oder auch weiten Teilen der Presse so zuhört, könnte man meinen, ›Demokratie‹ sei so etwas wie die ›Herrschaft der Guten‹ (vgl. dazu auch So 06-12-20 Das sechste Türchen — Nikolausi …). So krass darf man das natürlich nicht sagen, of course – auch wenn „gefühlt“ genau das gemeint ist: Israel als einzige Demokratie im Nahen Osten, Indien als größte Demokratie in Fernost, etc. bla bla – immer im Gegensatz zu den weniger Guten.

Was aber meinen wir inhaltlich, wenn wir von ›Demokratie‹ reden? Ganz wörtlich die Herrschaft des Volkes, of course. Dabei gilt es als zulässig, wenn das Volk zumindest mittelbar herrscht, indem es seine Herrscher alle Jubeljahre einmal wählen geht.  Diese Lesart hat übrigens auch Popper überzeugt – der die Vorzüge einer Demokratie ganz bescheiden darin sieht, daß es möglich ist, die Herrschenden bei Mißfallen „ohne Blutvergießen“ abwählen zu können.

Dumm nur, daß nach dieser Definition Deutschland eben keine Demokratie wäre. In Deutschland kann man nur seine Legislative wählen – die dann wiederum aus ihren Reihen eine Regierung bildet. In den USA zum Beispiel ist das anders. Da wird der Präsident (fast) direkt vom Volk gewählt, und zwar jeweils zeitversetzt – so daß es nicht selten vorkommt, daß Regierung und Parlament verschiedenen Lagern entstammen. In Deutschland dagegen kann man seine Regierung nur abwählen, indem man zunächst andere Parteien in die Legislative wählt. Was die dann damit machen – von Koalitionsbildungen bis hin zur Bestimmung des Regierungschefs – steht weitestgehend in den Sternen.

Was ist dann der Inhalt? Das Zauberwort heißt ›Partizipation‹. Gib den Leuten um Dich herum – egal, ob wir hier von einem Staatswesen reden, einem Unternehmen oder auch nur einer Familie – das Gefühl, daß sie auch was zu sagen haben, und schon werden sie Dir sehr viel williger folgen. Das Gefühl reicht völlig – wirklich zu sagen haben müssen sie nichts. In Bolles Kreisen sind das elementare sozialpsychologische Einsichten. Die Frage ist: kann man auf ein so windiges und so leicht zu durchschauendes Konzept eine ganze Staatsreligion aufbauen? Die Antwort: man kann, wie’s scheint. Auf der „gefühlten“ Ebene liegt die intellektuelle Latte nun mal nicht allzu hoch. Dazu ein Kurzdialog zwischen den drei Königen aus dem Morgenlande – wie ihn Lilli Bravo aufs Feinste auf den Punkt gebracht hat:

Der erste König: „Ein fliegendes Kind im Nachthemd möchte, daß wir dem Baby einer Jungfrau Geschenke bringen.“ — Der zweite: „Crazy! Ich bin dabei!“ — Der dritte: „Klingt plausibel.“

Wie wir unschwer erkennen können – zumal jetzt zur Weihnachtszeit der Christenmenschen, stehen auch andere große Ideen kognitiv auf eher tönernen Füßen. Darauf also kommt es offenbar nicht an. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.