So 08-09-24 Finden verboten – streng verboten

Lob der Linie.

Reden wir über Normen. Und fassen wir uns kurz und beschränken uns zunächst auf soziale Normen. Unter Normen versteht man anerkannte und als verbindlich geltende Verhaltensregeln, die sich in einer Gesellschaft herausgebildet haben.

Dabei beruhen soziale Normen im Wesentlichen auf Werten (im Sinne von ›Allgemeines Für-richtig-halten‹). Die Werte wiederum sind, grob gesagt, Ausfluß der Sozialisation, die einer (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) erfahren hat. Spötter meinen ja, Sozialisation sei, wenn man so wird wie die Leute um einen herum – wobei wir nicht vergessen wollen, daß oft der Scherz das Loch ist, durch das die Wahrheit pfeift. Kurzum: Man hält sich in der Regel an soziale Normen, weil man sie verinnerlicht hat. Man handelt, um es mit Max Weber zu sagen, traditional, also aus eingelebter Gewohnheit bzw., in Bolles Sprache, aus der Mappa mundi vitiosa heraus (vgl. dazu etwa So 25-08-24 Denkmal zur Wahl). So pinkelt man, um nur ein Beispiel herauszugreifen, als zivilisierter Mitteleuropäer üblicherweise nicht einfach an den nächsten Baum – auch dann nicht, wenn man ganz dringend mal muß.

Auch kann es nicht schaden, sich klarzumachen, daß soziale Normen recht regional sind. Sie reichen gerade mal so weit wie die relevante Gruppe, deren Zusammenhalt sie dienen. So ist es etwa in Bayern völlig „normal“ (im Sinne von normgerecht), gleich zum zweiten Frühstück ein Bierchen zu trinken. Auf dem Wochenmarkt hier im Dörfchen mußte Bolle sich exaktemente deswegen aber schon mal anpampen lassen – allerdings nur von einem Zugereisten, versteht sich. Natürlich hat sich Bolle ganz köstlich amüsiert.

Welche Norm ist nun die „richtige“? Nun, es liegt im Wesen des allgemeinen Für-richtig-haltens, daß es hier kein „richtig“ gibt – und auch nicht geben kann. Wenn die Leute in Bayern ein Bierchen zum Frühstück trinken und das allgemein in Ordnung finden, dann ist das ebensowenig zu beanstanden, wie wenn das in der Herkunftsregion unseres Zugereisten eben nicht so ist.

Dumm wird es nur, wenn die Zugereisten meinen, daß das, was sie allgemein für richtig halten, bitteschön auch für alle anderen zu gelten habe. Mehr noch: wenn die Zugereisten meinen, daß diejenigen, die nicht ihren Vorstellungen entsprechen, deswegen (!) schlechte Menschen seien, und folglich (!) abgekanzelt gehören. Die Briten übrigens haben hierfür eine sehr schöne Wendung: When in Rome, do as the Romans do – Wenn Du in Rom bist, benimm dich, wie ein Römer sich benimmt.

Nun wird man einen einzelnen Zugereisten verschmerzen können. Richtig dumm wird es allerdings, wenn sich im Zuge überschäumender Globalisierung die Völkerscharen schneller durchmischen als die sozialen Normen auch nur ansatzweise hinterherkommen können. Dabei geht der Trend dahin, alles zu verbieten, was nicht das Zeug zu einer weltumspannenden sozialen Norm hat – was allerdings nicht zuletzt unserer Grundannahme widersprechen würde. Aber was kümmert das ein Glühwürmchen mit heißem Herzen und hinkendem Hirn. Schaut Euch um auf der Welt. Genau das ist es, was zur Zeit passiert. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 01-09-24 Fanal zur Wahl

Was wo hingehört.

Zugegeben: Unser kleines Flußdiagramm letzte Woche (So 25-08-24 Denkmal zur Wahl) konnte in seiner schlichten Prägnanz durchaus ein wenig irritierend wirken. Gleichwohl wäre es nicht ganz einfach zu begründen, was daran denn so richtig falsch sein soll. Zumindest scheint es dieser Tage zum Leidwesen von manch etabliertem Polit-Professional (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) eine erhebliche Zahl von Wählern zu geben, die die Dinge exakt so sehen und sich auch anschicken, entsprechend zu wählen. Auch das wirkt auf gewisse Kreise durchaus irritierend.

Was Bolle für sein Teil irritiert, ist diese Melange aus gleichzeitiger Dickfelligkeit und Dünnhäutigkeit. Dickfelligkeit, was die über jeden Zweifel erhabene Überzeugung angeht, selber auf dem rechten Weg zu sein. Man müsse dem Volk das eigene Tun nur besser erklären – dann werde alles gut. Man müsse die Leute „mitnehmen“ – und sei es nach Utopia. Dünnhäutigkeit, was den Umgang mit abweichenden Ansichten angeht. Da nennt einer einen Politiker ›fett‹ – was ja mitunter durchaus stimmen mag – und schon hagelt es Strafanzeigen, als könne man die rechte Gesinnung juristisch erzwingen. Oder man findet sich, wenn das alles nichts nützt, auf einer Beobachtungsliste des Verfassungsschutzes für unbotmäßiges Verhalten „unterhalb der Strafbarkeitsschwelle“ wieder.

Daß zumindest der klügere Teil im Volke derlei so rein gar nicht zu goutieren weiß, sorgt dann wiederum für gehörige Irritation. Wie kann man nur so fehlgeleitet sein und die überschäumende Weisheit von „uns hier oben“ so rein gar nicht zu schätzen wissen? Bolle hält es an solchen Stellen mit Goethes Knopfloch-Theorem aus seinen ›Maximen und Reflexionen‹:

Wer das erste Knopfloch verfehlt,
kommt mit dem Zuknöpfen nicht zurande.

Ganz grundsätzliche Einsichten – etwa, daß das Volk der Souverän ist und nicht etwa, aller ›Helfen/Retten/Schützen‹-Rhetorik zum Trotze, der Schutzbefohlene der Regierung, den es gehörig zu erziehen gilt – können da leicht schon mal hintunterfallen.

Bolles jüngster Lieblings-Terminus für den ganzen Kladderadatsch ist übrigens ›hochkomplexe Gemengelage‹ – wobei sich Bolle ›komplex‹ mit „Blicke nicht mehr durch“ übersetzt, ›hochkomplex‹ mit „Blicke überhaupt nicht mehr durch“, und die ›Gemengelage‹ als albern-ironisches i-Tüpfelchen obendraufsetzt. Im übrigen wartet ein kluger Prophet die Ereignisse ab. Hinterher – in diesem Falle heute abend – ist man bekanntlich schlauer. Damit wären wir bei Plisch und Plum:

Aber hier, wie überhaupt,
Kommt es anders, als man glaubt.

Vielleicht ist alles aber ganz einfach und läßt sich leicht mit Professor Creys (alias Schnauz) schlichter Stellungnahme erklären:

Pfeiffer, sä send albern. Ehnen fählt die sittliche Reife.

Bolle meint: denkbar wär’s – auch und vor allem, was die Polit-Prominenz angeht. Will man sowas wirklich wählen? Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 25-08-24 Denkmal zur Wahl

Flußdiagramm — selbsterklärend.

Das Schildchen zeigt vom Prinzip her einen von Bolles jüngeren Netzfunden. Natürlich hat er das ganze sprachlich ein wenig geglättet und in ein ordentliches Flußdiagramm verwandelt, of course. Die Überschrift ergibt sich aus dem Umstand, daß nächste Woche schon in Sachsen und in Thüringen das Volk zur Wahl antreten soll und mehrheitlich wohl auch wird.

Allein, darum soll es uns hier gar nicht gehen. Vor allem könnte man im Vorfeld manches argumentativ so lange breittreten, bis der Inhalt vollends diffundiert – ganz nach Goethes Epigramm in seinem ›Buch der Sprüche‹ im ›West-östlichen Divan‹ (1819):

Getretner Quark
Wird breit, nicht stark.

So könnte man als geschulter Scholastiker naheliegenderweise mit ›Definiere Deutschland‹ und ›Definiere abschaffen‹ loslegen. Einschlägige Bestrebungen gibt es ja reichlich im Polit-Getümmel.

Ganz im Gegenteil – Bolle hält das Schildchen in seiner flußdiagrammatischen Verdichtung für hervorragend geeignet, sich seiner eigenen Mappa mundi, also dem tief verinnerlichten Weltbild (Welt III), das einer (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) als Päckchen mit sich trägt, etwas bewußter zu werden und weniger via Autopilot durchs Leben zu cruisen (vgl. dazu etwa So 28-07-24 Mappa mundi vitiosa).

Falls einer also beim flotten Überfliegen als erstes im Ergebnisfeld ›AfD‹ hängenbleiben sollte und dieses Ergebnis als allzu aversiv empfindet und daraus ableitet, daß ihm, im Flußdiagramm regelwidrig aufsteigend, bitteschön nichts anderes übrigbleibt als den linken Ast zu wählen – nur um sich dabei mit Widrigkeiten ganz anderer Art konfrontiert zu sehen: Nun, dann hat er ein Problem. Mehr als die Optionen ›Schnell abschaffen‹ und ›Ganz schnell abschaffen‹ bleiben da nämlich nicht – falls das Diagramm nicht lügt, of course.

Und so neigen, falls Bolle das richtig beobachtet, deprimierend viele Leute dazu, spätestens an dieser Stelle auszusteigen und sich nach innen in Wird-schon-nicht-so-schlimm-werden-Gefilde zu flüchten und nach außen in diverse Grobheiten im Umgang mit anderen: Alles Idioten! Verschwörungsopfer! Die Liste ließe sich wohl um einiges verlängern. Denken tut nun mal weh. Entscheiden sowieso: Wer die Wahl hat, hat die Qual – wie der Volksmund weiß. Und Klarheit füsiliert den schönsten Tran. Bolle ist übrigens, doch das nur am Rande, mit solchen Sprüchen aufgewachsen – was natürlich nicht heißen muß, daß da nichts dran wäre, of course.

Im übrigen wissen wir aus ungezählten Untersuchungen, daß die Leute nicht unbedingt die wählen, die ihren „eigentlichen“ inhaltlich-politischen Vorstellungen entsprechen. Max Weber hat das in seinem Hauptwerk Wirtschaft und Gesellschaft 1922 schon als traditionales Handeln bezeichnet – Handeln aus eingelebter Gewohnheit. Im Grunde ist das schlicht Handeln aus der Mappa mundi vitiosa heraus (vgl. auch hier So 28-07-24 Mappa mundi vitiosa). Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 18-08-24 Was ist da bloß los?

So dumm kann’s laufen …

Manchmal kann man sich wirklich nur wundern, was den höheren Schichten so alles einfällt beziehungsweise was sie so alles anrichten. Was ist da bloß los?

Eines der jüngsten, eher niedertrabenden Beispiele etwa sind Holzbriketts, denen plötzlich, Knall auf Fall, ein CO2-Wert „zugewiesen“ werden sollte – mit der Konsequenz, daß sie als „klimaschädlich“ deklariert worden wären. Das ist offenbar schon wieder vom Tisch – aber als Beispiel taugt es allemal.

Im Grunde hatte sich Bolle schon im Vorfeld schwer verwundert. Das Anpflanzen von Bäumen, so hieß es und so heißt es, kompensiere den CO2-Ausstoß und sei damit per se klimafreundlich. Ganze Branchen leben von dieser Art von Greenwashing. Ersteres mag ja sein – aber doch wirklich nur vorübergehend. Wenn ein Baum in die ewigen Jagdgründe eingeht – wie Bolles indianische Freunde (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) das nennen würden – Asche zu Asche, Staub zu Staub, dann gibt er exakt die gleiche Menge CO2 wieder frei, die er im Laufe seines Lebens „kompensiert“ hatte. Ja was denn sonst?

Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. (1. Mose 8, 22). Kennen wa ja. Und eben auch einatmen und ausatmen – und sei es CO2.

So geht der Kreislauf des Lebens. Ein Baum „entzieht“ der Atmosphäre also kein CO2 – er speichert es nur für eine gewisse, begrenzte Zeit. Eine wirklich „nachhaltige“ Lösung (i.S.v. ›funktioniert auf Dauer‹) ist das sicherlich nicht. Eher Voodoo-Ökologie. Aber macht das mal einem rechten Hülsenfrüchtchen klar. „Da muß sich doch was ‚optimieren‘ lassen“ ist noch mit das Beste, was einem als Antwort zuteilwerden kann.

Andererseits: Wenn man neuerdings Säuglingen bei der Geburt ein Geschlecht „zuweisen“ kann – warum dann nicht auch einem Baum einen CO2-Wert? Ist doch nur fair – und paßt im übrigen herrlich ins Weltbild von manch mehr oder weniger hochgestelltem Hülsenfrüchtchen.

Daß ein Baum auf lange Sicht einfach einen CO2-Wert hat – im Zweifel nämlich exakt Null, da gibt es nichts „zuzuweisen“ – und daß ein Neugeborenes einfach ein Geschlecht hat, nämlich (von seltensten Ausnahmen einmal abgesehen) männlich oder weiblich, ist im allgemeinen Durcheinander offenbar glatt untergegangen. Wenn aber alle – oder hinreichend viele – ganz dolle dran glauben, dann mag das wohl so sein. Überzeugend findet es Bolle trotzdem nicht.

Immerhin handelt es sich hierbei um ein hübsches Beispiel von umsichgreifender Hybris. Dabei ist Hybris Bolles agnostische Variante der guten alten Gotteslästerung. Des Frevels gar, des Nicht-wahrhaben-wollens, daß eben nicht alles möglich ist, was sich einer in den Kopf gesetzt haben mag. Und was wollen die nicht alles retten oder schützen. Klima und Demokratie sind dabei Bolles gegenwärtige „Top-Favoriten“. (Schon wieder so ein Wort wie Donnerhall übrigens – außen laut und innen hohl).

Und so kommt es denn heraus, daß sich Gedankenlos und Planlos einträchtig die Händchen reichen. Das Ergebnis ist fruchtlos, of course, und die übliche Reaktion seitens der Planer meist schamlos: „Das haben wir nicht wissen können“ oder, maximal-ignorant: „Wieso? Ist doch alles prima.“ Ein Eingeständnis der Planlosigkeit wäre aber auch zu peinlich. In Bolles Kreisen spricht man hier gerne von Selbstwertbeschädigung. Das Selbstwertgefühl – Ich bin ein ganz famoses Haus (Wilhelm Busch) – aber ist eines der vier kognitiven Grundbedürfnisse (SOSS) und will seinerseits unbedingt geschützt sein – egal wie albern die Ausflüchte im Einzelfall auch immer sein mögen. Tricky …

Eine schöne alte deutsche Wendung legt einem nahe, zuweilen doch mal wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren. Aber bei aller kontemporären, geradezu närrischen Liebe zu den Fakten: In diesem Rahmen werden Tatsachen, wie es scheint, durchaus höchst geringgeschätzt. Was bitteschön sind schon schnöde Tatsachen gegen hochfliegende Ambitionen? Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 11-08-24 Börsen-Crashli

Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; gelobet sei der Name des Herrn! (Hiob 1, 21)

In der vergangenen Woche war es so, daß ein veritabler Börsen-Crash durch den Blätterwald rauschte. Das mag dem Sommerloch geschuldet sein. Vielleicht aber liegt der Hase doch tiefer im Pfeffer.

So titelte etwa eine Zeitung, die große Stücke auf sich selber hält und dabei vor allem auf ihre Wirtschaftskompetenz: Angst an den Märkten – Das neue Gefühl der Anleger.

Abgesehen davon, daß Angst ein schlechter Ratgeber ist – vor allem, wenn man sich auf dem aalglatten Börsenparkett tummelt, hält Bolle es mit der Devise: Wenn Euch das hier zu heiß ist, dann bleibt doch bitteschön der Küche fern.

Auch wollen wir uns nicht mit Börsengeschäften beschweren – im Grunde nicht einmal im weiteren Sinne. Allein das Beispiel zeigt sehr schön, was passieren kann, wenn man als Schreiber auf der Ebene der nackten Fakten klebenbleibt. Aufschlußreich dazu ist nach wie vor Cervantes‘ Don Quixote 1605/1615 (vgl. dazu etwa Sa 16-01-21 Wirklich wahr?).

Tatsachen, mein lieber Sancho,
sind die Feinde der Wahrheit.

Und Fakten – bei Cervantes hieß das noch schlicht Tatsachen – gibt es in diesem Metier nun mal reichlich. Die Börsenkurse stehen unumstößlich fest und lassen sich wohl auch nur recht schwierig „faken“. Werfen wir also einen Blick auf die nackten Fakten:

Voll der Börsen-Crash, eye!

Dabei müssen wir gar nicht allzu genau hinschauen, um das Wesentliche zu erfassen. Es reicht völlig, sich klarzumachen, wie sich der DAX grosso modo in den letzten 12 Monaten entwickelt hat. Tendenz: kommod steigend. Lag er vor einem Jahr noch bei knapp 16.000, hatte er um die Jahreswende einen Stand von knapp 17.000 erreicht, und in den letzten Wochen gut 18.000 (vgl. dazu die grünen Bälkchen). Kurzum: es ging – soweit das an der Börse möglich ist – mehr oder weniger stetig aufwärts.

Dann aber – in der vergangenen Woche nämlich – fiel der Kurs, wie unser Qualitätsblatt zu berichten weiß, auf den tiefsten Stand seit Mitte Februar (gestrichelte Linie). Bolle meint: Na und? Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; gelobet sei der Name des Herrn! Daß man mit einer solchen Einstellung an der Börse nicht wirklich reich werden kann, ist Bolle natürlich klar, of course. Doch das soll hier nicht unser Thema sein. Interessanter ist, daß Vergleiche wie „der tiefste bzw. der höchste Stand seit …“ recht wohlfeil zu haben sind. Das Internetz spuckt solche Daten auf Knopfdruck aus. Die muß man dann nur noch reinschreiben in die Zeitung. Man sollte sich dabei aber nicht ohne Not lächerlich machen. Wenn zum Beispiel jemand früh morgens vermelden würde: Booah! Ich bin so hungrig. Mein schlimmster Hunger seit vor dem Abendessen gestern – dann ist das nun mal lächerlich. Im günstigsten Falle ist es witzig.

Etwas anders liegen die Dinge, wenn unser Qualitätsblatt darauf hinweist, daß der Nikkei-Index seinen „größten Tagesverlust seit 1987“ erlebt hat. Hier reden wir von immerhin knapp 40 Jahren. Obwohl – auch das ist durchaus noch albern genug. Würde man sich als Journalist nämlich die Mühe machen, ein ganz klein wenig über den Tellerrand des Tages hinaus zu denken – statt gleich drauflos zu sensationalisieren, dann hätte man leicht ahnen können, daß die Ereignisse mit „Horrormeldung aus Japan“ oder einem „schwarzen Montag“ sogar doch eher reißerisch betitelt sind. Und in der Tat hatte sich das Börsenbarometer auch in Japan binnen weniger Tage wieder auf Normal eingepegelt. Soweit zum Börsen-Crashli.

Aber Journalismus kommt nun mal von le jour, der Tag, und da muß das womöglich so sein. Bolle indes, der sich mehr für Zusammenhänge interessiert als für Sensationen, hält das, und zwar wohl nicht ganz zu Unrecht, für einen Ausfluß des gemeinen A&O des Journalismus: Aufgeregtheit und Oberflächlichkeit. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 04-08-24 Fast fashion / Slow fashion

Sherlock Holmes im feinen Frack (Illustration im Strand von Sidney Paget 1901)

In letzter Zeit hat Bolle ja vermehrt auf die Mütze gekriegt: die Texte seien in der Tendenz zu überkandidelt, man müsse sich zu sehr reindenken, überhaupt seien die Modelle und die Graphiken zu schwer verständlich, und dergleichen mehr, of course. Bolle meint: Ihr habt ja Recht, und würde am liebsten mit Lessings ›Abschied an den Leser‹ (1751) parieren:

Wenn du von allem dem, was diese Blätter füllt,
Mein Leser, nichts des Dankes wert gefunden:
So sei mir wenigstens für das verbunden,
Was ich zurück behielt.

Kurzum: es hätte schlimmer kommen können. Es gibt nun mal Zusammenhänge, die sind vergleichsweise einfach, und es gibt Zusammenhänge, die eher schwierig zu verstehen sind. Daneben gibt es Erklärungen, die verständlich sind, und solche, die ziemlich kauderwelschig sind. Damit kommen wir, wie so oft, auf vier Möglichkeiten. Das dumme daran ist, daß es stets der Leser ist, der entscheidet, was verständlich ist und was nicht. Für heute ginge das also zu weit.

Folglich begnügen wir uns mit einer 4-Felder-Tafel am harmlosen Beispiel von Fashion. Wenn man sich traut, klare, harte Schnitte zu machen, dann können Klamotten minderwertig sein oder hochwertig. Andererseits können sie tiefpreisig sein oder hochpreisig. Tertium non datur – eine dritte Möglichkeit gibt es nun mal nicht in einer dichotomen Welt.

Damit sieht das ganze aus wie folgt:

Fashion dichotomisiert.

Fehlt nur noch, ein paar knackige Begriffe in die weiß unterlegten Felder zu füllen. Nennen wir minderwertig/tiefpreisig also ›Fast Fashion‹ und hochwertig/hochpreisig ›Slow Fashion‹. Natürlich können hochwertige Klamotten ggf. auch günstig zu haben sein – Fein! Umgekehrt können minderwertige Klamotten auch zu einem stolzen Preis vermarktet werden. Das wäre dann also Grrr! Obwohl: das ist nicht das Schlechteste für Leute, die das Bedürfnis haben, sich – wenn schon nicht über den Geschmack, so doch zumindest über den Preis – vom Rest des Volkes abzuheben. In der Werbung heißt es dann, unfreiwillig komisch: Es war schon immer etwas teurer, einen besonderen Geschmack zu haben.

Ursprünglich war Slow Fashion einmal „alternativlos“, wie man das heute nennen würde. So hat Bolle, vor vielen Jahren schon, in einem Benimm-Buch einmal gelesen, daß ein englischer Gentleman (ausdrücklich nicht beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) einen neuen Anzug zunächst jahrelang nur bei sich zuhause in den eigenen vier Wänden getragen hat. Sich mit einem nigelnagelneuen Anzug in die Öffentlichkeit zu begeben, hätte man als schockierend ungentlemanlike, nachgerade dandyhaft  empfunden.

Und im 5. Kapitel – dies nur als Beispiel – von Sir Arthur Conan Doyles ›Hund von Baskerville‹ (1901/1902) erfahren wir, daß Sir Henry, obwohl 740.000 Pfund schwer – das entspricht heute einem Vermögen im dreistelligen Millionenbereich – gerade mal drei Paar Schuhe sein eigen nannte: alte schwarze, neue braune, sowie ein Paar Lackschuhe – wenn es einmal darum ging, sich stadtfein zu machen (vgl. dazu etwa das Bildchen oben). Das jedenfalls ist gelebte Slow Fashion.

Daß derlei nicht nur in der Literatur vorkommt, können wir sehr schön am Beispiel Bolle beobachten: Seinen letzten Mantel – seinen einzigen, wohlgemerkt – hat er 20 Jahre lang getragen. Allerdings nur im Winter, of course. Und seinen neuen Mantel trägt er seit nunmehr 12 Jahren. Dabei geht es ihm, wie wir erfahren konnten, mitnichten um ethisch hochwertiges Verhalten – als solches nämlich wird Slow Fashion zur Zeit hochgejubelt bzw. (Branchen-Sprech) vermarktet. Bolle hat einfach Null Neigung, pausenlos was anderes anzuziehen. Wenn man aber umgekehrt bedenkt, daß Fast Fashion angeblich für 8–10 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich sein soll, kann einem schon etwas schwindelig zumute werden.

Manchmal wird Bolle wirklich ganz mulmig ums Herz, wenn er an die ganzen Hülsenfrüchtchen mit ihren wundgescheuerten Egos denken muß – an Leute also, die sich nur in neuer Klamotte wohlzufühlen meinen, auch wenn sie durchaus minderwertig ist. Dazu gibt es übrigens reichlich „Studien“. Insbesondere die sog. Generation Z steht in dem Ruf, hier eine ziemliche „Absichtslücke“ (intention-action-gap), wie rührige Soziologen das zuweilen nennen, aufzuweisen. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 28-07-24 Mappa mundi vitiosa

Mappa mundi vitiosa.

Bei manchem, was die lieben Mitmenschen im allgemeinen und die politische Klasse im besonderen so treiben, könnte man glatt von schierer Bosheit ausgehen. Von finsterer Gesinnung, gar. Allein da ist Hanlons Heuristik vor – eine Finderegel zur Erkenntnisgewinnung, derzufolge man es regelmäßig erst einmal mit der Annahme von klassischer Dummheit probieren sollte. Erst, wenn Dummheit allein das Verhalten nicht hinreichend erklären kann, sollte man Bosheit in Betracht ziehen.

Als aufgeschlossene Agnostiker allerdings wollen wir zunächst die Begriffe klären. Dabei sei unter ›Dummheit‹, wie stets, das kognitive Unvermögen verstanden, Gegebenheiten bzw. Zusammenhänge zu erkennen. Man könnte auch sagen, Dummheit ist eher spärlich entwickelte prognostische Kompetenz: Jemand tut etwas, ohne vernünftig abschätzen zu können, wohin das führen wird. Hinterher, wenn das Kind dann im Brunnen liegt, gibt es regelmäßig die üblichen langen Gesichter: Das haben wir nicht gewollt – das haben wir nicht wissen können. Bolle meint: Hättet ihr wohl.

Bei ›Bosheit‹ gestalten sich die Dinge etwas schwieriger. Vom Wortstamm her hat Bosheit mit ›böse‹ zu tun. Da Bolle aber nicht so recht an Gut und Böse glauben mag (vgl. dazu etwa So 16-06-24 Ein Hauch von Hollywood), hilft uns das nicht weiter. Ergiebiger ist da Adam Smith. Gleich eingangs seiner ›Theorie der ethischen Gefühle‹ (1759) heißt es:

Mag man den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht, als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein.

Nennen wir dieses Vergnügen ›Wohlwollen‹, dann bietet sich als Gegenstück ›Übelwollen‹ geradezu an. Bosheit wäre demnach Übelwollen – das Vergnügen also, Zeuge davon zu sein, wie es anderen schlechtgeht – regelmäßig verbunden mit der Bereitschaft, dem gegebenenfalls ein wenig nachzuhelfen.

Noch viel weitreichender als schlichte Dummheit ist allerdings das, was Bolle Mappa mundi vitiosa, also kaputte Weltkarte, zu nennen pflegt. Dabei handelt es sich um nichts weiter als die Welt III, also das Weltbild, das sich einer (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) im Laufe der Zeit zu eigen gemacht hat und das er mit schönster Regelmäßigkeit mit Welt I, also der Welt, konfundiert. Dabei dürfen wir nie vergessen, daß Welt III handlungsleitend ist. Um dem geneigten Leser das virtuelle Blättern zu ersparen, sei das Drei-Welten-Modell hier noch einmal abgebildet.

Wer also – um nur ein einziges Beispiel herauszupicken – eine Aussage wie etwa „Die Vereinigten Staaten sind unser Freund“ mit einem überzeugten „Yes, of course“ beantworten kann, wird ein anderes Verhalten an den Tag legen als jemand, der das nicht so sieht. Statt sich also über Bosheit oder zumindest Dummheit zu echauffieren, macht sich Bolle zunehmend einen Spaß daraus zu erkunden, welche Glaubenssätze einem gegebenen Verhalten wohl zugrundeliegen mögen – weil es anderenfalls schlechterdings unerklärlich wäre.

In absoluten Härtefällen, wenn also die Erklärungskraft einer Mappa mundi vitiosa verblaßt, spricht Bolle auch gerne von Mappa mundi friata – also einem vollends zerkrümelten Weltbild. Das einzige, was eine solche Karte noch zusammenhält, ist der unerschütterliche Glaube der Personen oder Organisationen, die sich ihrer – aller Fehlschläge im wirklichen Leben zum Trotze – unverdrossen und beherzt bedienen. Schließlich läßt sich die Welt nicht nur schönsaufen, sondern geflissentlich auch schönsäuseln. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 21-07-24 Viva il bene – Es lebe das Gute!

Wenn der Milchmann zweimal klingelt.

Eigentlich sollte es uns heute ja um den möglicherweise künftigen Präsidenten der Vereinigten Staaten gehen und den geradezu filmreifen Schuß ins Ohr. Allein – was heißt hier filmreif? Jeder seriöse Drehbuchautor hätte so etwas, falls es ihm denn eingefallen wäre, wohl stante pede als zu unrealistisch in den Papierkorb geknüllt. Nun denn – ein andermal.

Dafür wollen wir ein Streiflicht auf ego-geboosterte Weltverbesserungsanmaßungen werfen, wie sie in den letzten Jahren zunehmend um sich greifen. Mehr als streifen wird dabei nicht möglich sein. Dafür ist das Thema zu monströs. Aber es ist ja noch nicht aller Tage Abend.

Wollte man – rein zur Orientierung – die hier gemeinte Entwicklung an einem Datum festmachen, dann wäre 1999 vielleicht nicht die schlechteste Wahl. Damals gab der seinerzeit amtierende Außenminister die Losung aus: „Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz.“ Also doch wieder Krieg! Zwar hat er das so nicht zu Ende gesagt – aber genau das war gemeint. Und schon waren wir im Namen des Guten in einen – heute würde man sagen – völkerrechtswidrigen Angriffskrieg im Kosovo verstrickt.

Muß man zuweilen böse sein, um Gutes zu bewirken? Oder kann man sich dabei nur böse in die Tasche lügen?

Jürgen Habermas hat seinerzeit in der ZEIT einen Beitrag zum Thema verfaßt und kommt dabei fast notwendigerweise auf Carl Schmitt, den ebenso umstrittenen wie wirkungsmächtigen Staatsrechtler des 20. Jhd. Der meinte seinerzeit, der naturwüchsige Kampf der Nationen sei, wenn schon nicht schön, so doch unvermeidbar. Allerdings solle man darauf achten, daß das nicht auch noch in einen heillosen „Kampf gegen das Böse“ ausarte. Wenn man sich also aus rein naturgegebenen Gründen schon bekriegen muß, dann doch bitteschön wenigstens sine ira et studio (ohne Zorn und Eifer) – also jedenfalls ohne übertriebenes moralisches Gedöns.

In diesem Zusammenhang meint Habermas, wenn, so wörtlich, „terroristische Zweckentfremdung staatlicher Gewalt“ aus einem Bürgerkrieg ein Massenverbrechen mache, dann sei es nur gerecht, den jeweiligen Verantwortlichen ordentlich auf die Mütze zu geben – herkömmliches Völkerrecht hin oder her.

Und da, wo immer gehobelt wird, sprichwörtlich auch Späne fallen, ist der ein oder andere „Kollateralschaden“ natürlich nicht zu vermeiden. Immerhin waren die Leute damals noch auf einem zivilisatorischen Niveau, das ihnen nahelegte, selbiges zum Unwort des Jahres zu küren.

So richtig überzeugt ist Bolle von all dem bislang nicht. Im Gegenteil: Bolle fragt sich, was eigentlich passiert, wenn man den ganzen Schlamassel auf innenpolitische Zusammenhänge überträgt.

Darf ein Politiker (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course), der (zwar nicht wirklich, aber doch angeblich) vom Volke gewählt und damit eben nicht – wie manche meinen – dessen Häuptling ist, sondern vielmehr dessen Diener, und sich dabei verpflichtet fühlen sollte, des Volkes Nutzen zu mehren und Schaden von ihm zu wenden – darf ein solcher Politiker mit seinem Tun auch nur in die Nähe möglicher Zweckentfremdung staatlicher Gewalt geraten? Bolle meint ja eher Nein. Auch nicht im Namen des Guten – etwa um dem „Gedanken der Völkerverständigung“ Geltung zu verschaffen. Gutgemeinte Weltoffenheit kann nämlich sehr leicht umschlagen in regelrechte Welt b e s offenheit.

Der Weg zur Hölle ist nun mal nicht nur mit guten Vorsätzen, sondern wohl auch mit guten Absichten gepflastert. Und ungelernte Fachkräfte machen die Sache nun mal nicht gerade besser. Womit wir umstandslos bei Dörner wären (vgl. Fr 23-04-21: Vive la France!):

Meines Erachtens ist die Frage offen,
ob ›gute Absichten + Dummheit‹
oder ›schlechte Absichten + Intelligenz‹
mehr Unheil in die Welt gebracht haben.
Denn Leute mit guten Absichten
haben gewöhnlich nur geringe Hemmungen,
die Realisierung ihrer Ziele in Angriff zu nehmen.

Was Churchill hier Demokratie nennt, wäre nach unserer Begrifflichkeit allerdings eher ein Verfassungsstaat – also ein Staat, der nicht nur demokratisch und rechtsstaatlich organisiert ist, sondern auch wirksame Mechanismen gegen staatliche Übergriffigkeiten kennt – also in etwa das, was namentlich die Angelsachsen seit dem 18. Jhd. liberale Demokratie nennen. Zu wissen, es ist nur der Milchmann, wäre manchem schon so manches wert. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 14-07-24 Die Welt ist ein Werden

Sein oder Werden – das ist hier die Plage …

Neulich saß Bolle zu ganz unbürgerlich später Stunde unter dem Fernsehturm am Alexanderplatz. Panoramablick aus der Froschperspektive, kam es ihm in den Sinn. Zwar konnte er sich lebhaft vorstellen, wie fern man sehen kann vom Fernsehturm. Allein er saß ja schließlich nur bei Fuße. Buch und Bier hatten sich in jener Nacht in einem Gläschen Dornfelder trocken und Ralf Ludwigs ›Sternstunden der Religion‹ materialisiert.

Bolle glaubt ja grundsätzlich erst mal gar nichts – eine Haltung, die, wie er findet, einem Agnostiker nicht schlecht zu Gesichte steht. Gleichwohl: man wird und soll sich ja dürfen anregen lassen. Und so hieß es im Abschnitt über Gautama, der Buddha habe die Idee eines absoluten Seins zurückgewiesen – aber auch die Idee eines absoluten Nicht-Seins. Es sei das Werden, das die Welt ausmache.

Kurzum: die Welt ist ein Werden. Das kam Bolle sehr entgegen. Hält er doch jedwede Vorstellung von Absolutem, in welcher Form auch immer, für, gelinde gesagt, kognitiv unterbelichtet. Bolle glaubt ja nicht einmal an etwas so Vertrautes wie eine absolute Masse. Vgl. dazu So 30-06-24 Die Wirklichkeit, die Wirklichkeit trägt wirklich ein Forellenkleid).

Während also Descartes 1641 schon die Tatsache, daß er denkt, für einen unumstößlichen Beweis seiner Existenz hielt – cogito ergo sum (ich denke, also bin ich) –, meint Bolle, daß die Tatsache, ein Teil des Werdens dieser Welt zu sein, ein noch viel unumstößlicherer Beweis der eigenen Existenz sein sollte: accido ergo sum (ich komme darin vor – also bin ich).

Wenn aber Sein oder Nicht-Sein allein eine Frage der Perspektive ist, dann müssen und dürfen wir uns deutlich weniger Sorgen machen: Was einmal ist, bleibt Teil des Werdens – heute und für immerdar. Es kommt halt nichts weg in diesem Universum. Selbst das, was nicht ist, kann noch werden – wie der Volksmund scherzhaft weiß.

Warum dann die ganze Spannung? Weil es das Leben so spannend macht? Wohl kaum. Bolle glaubt eher, daß wir es hier mit einer regelrechten conditio universalis zu tun haben – einer Gegebenheit des Daseins an sich. Leben heißt Leiden – wie Buddha das schon in der allerersten seiner edlen vier Wahrheiten ausdrückt.

Wenn die Herdplatte zu heiß ist, zucken die meisten zurück. Wenn der Magen zu leer ist, stellt sich regelmäßig schlechte Laune ein. Das aber ist allein eine Frage der Homöostase. Physiologisch zeigt sich das darin, daß Lebewesen bestrebt sind, unerwünschte Wahrnehmungen zu vermeiden. Affektiv zeigt es sich darin, erfreuliche Dinge anzustreben und unerfreuliche möglichst zu meiden. Kognitiv schließlich zeigt es sich in einem Streben nach Ertrag und der Vermeidung von Aufwand – wie selbst Ökonomen wissen. Wer mag, mag sich unter diesem Aspekt noch einmal das Drei-Welten-Modell anschauen (vgl. So 07-07-24 Böse Buben). Wir reden hier von Welt II, der Welt der Wahrnehmung und Bewertung – also der spontanen und unmittelbaren Einordnung jedweder Wahrnehmung in erwünscht, W(+), bzw. unerwünscht, W(–).

Daraus erklären sich ohne weiteres auch die Versuche der verschiedensten Religionen bzw. philosophischen Richtungen bis hin zur Stoa, dem Leiden ein Schnippchen zu schlagen, indem man es einfach ignoriert.

Die gute Nachricht: Mit Sein oder Werden hat das alles wenig zu tun. Auch wer das Leiden nicht überwindet – wer von hinnen scheidet gar – ist unverbrüchlicher Teil des Werdens dieser Welt, und als solcher unkaputtbar, immerdar. Oder, um das Motto der Olympischen Spiele zu zitieren: Dabei sein – bzw. dabeigewesen zu sein – ist alles. Das stimmt zwar nicht ganz – ist an dieser Stelle aber bestmöglich tröstlich. Also entspannt Euch. Oder, um im Bilde zu bleiben: Wird schon … Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 07-07-24 Böse Buben

Wir schaffen das! Denkste!

Nach dem vielleicht etwas haarigen Beitrag vom letzten Sonntag wollen wir uns heute wieder etwas leichterer Lektüre widmen. Immerhin ist sie inhaltlich verdrießlich genug.

Mittlerweile ist es fast ein Jahrzehnt her, daß die damalige Bundeskanzlerin 2015 ein ebenso fröhliches wie unsubstantuiertes ›Wir schaffen das!‹ als Losung unters Volk geworfen hatte. Deutschland sei ein starkes Land, habe schon so vieles geschafft – und werde wohl noch viel, viel mehr schaffen, und dergleichen mehr. Dabei hatte sie – das läßt sich nicht leugnen – erhebliche demoskopische Rückendeckung beim Volke. Das Fußball-Sommermärchen von 2006 war seinerseits erst knapp ein Jahrzehnt her. Man feierte mit Wohlbehagen das Gefühl, endlich und endgültig auf der Seite der Guten angekommen zu sein: heiter, weltoffen und allgemein ganz lieb. Was paßt da besser ins Bild als eine kräftige Prise Willkommenskultur?

Manche meinen ja, die Deutschen seien übertrieben begeisterungsfähig. Angelsachsen nennen das zuweilen gar hysterisch. Wie so oft wird sich auch hier ein Körnchen Wahrheit finden lassen. Bolle für sein Teil erklärt sich das ja schlicht mit Glühwürmchen-Emphasis: großes Herz, nicht ganz so großes Hirn, zuweilen.

Andere dagegen haben sehr frühzeitig dagegengehalten. Auf den Punkt gebracht hat es wohl Peter Scholl-Latour: Wer halb Kalkutta aufnehme, werde nicht etwa Kalkutta retten, sondern selber zu Kalkutta werden. Bolle meint, die Mischung macht’s, und paraphrasiert dabei gerne Paracelsus: Die Dosis – und nicht etwa die Substanz – entscheidet über Wohl und Wehe. Vgl. dazu auch Mo 28-12-20 Corönchen-Portiönchen oder die Geschichte vom warmherzigen Samariter (Mo 11-11-19 Proportionen).

Hier und heute wird man sich fragen dürfen – oder gar fragen müssen: Wem ist ein höheres Maß an prognostischer Kompetenz – verstanden als die Fähigkeit bzw. das kognitive Vermögen, die wesentlichen Konsequenzen seiner Entscheidungen nebst allfälliger Nebenwirkungen zu überblicken – zuzugestehen? Der Alt-Kanzlerin oder dem weitgereisten alten weisen Mann?

Von krassen Entgleisungen wie Messerstechereien und Gruppenvergewaltigungen einmal abgesehen zeigen sich die „Nebenwirkungen“ auch im Kleineren: Wer in bislang ungekannt schneller Folge mehrere Einbrüche oder regelrechte Raubdelikte in seiner unmittelbaren Nachbarschaft bzw. Bekanntschaft erleben mußte, wird den üblichen Tilgungen bzw. Beschwichtigungen des Journalismus 2.0 nur noch wenig Glauben zu schenken geneigt sein.

Sind also alle Zugereisten Verbrecher? Natürlich nicht. Wenn aber von, sagen wir, 1 Mio Leuten, die hier wirklich nichts zu suchen haben, nur winzige 1% zu den bösen Buben (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) zählen, dann sind das immerhin 10.000. Und wenn die nur 1 mal pro Woche unangenehm auffallen, dann macht das eine halbe Million schwere Straftaten pro Jahr. Mehr als genug, könnte man meinen. Womit wir wieder bei Paracelsus wären. Und irgendwann fallen die Leute halt vom Glauben ab. In der Presse heißt es dann: Sie radikalisieren sich – nur weil sie nicht willens sind, diejenigen, die diese Entwicklung nicht nur protegieren, sondern nachgerade klasse finden („Ich freu‘ mich drauf“), mit ihrer Stimme auch noch demokratische Legitimität zu verleihen, und dabei nicht träge genug, einfach zu Hause zu bleiben.

Damit aber entfernen wir uns von der prognostischen Kompetenz, die sich ja auf Prognosen und damit auf die Zukunft bezieht. Hier haben wir es schon mit einem veritablen Mangel an schierer Urteilsfähigkeit zu tun. Aber wie Bolle das zuweilen auszudrücken pflegt: Das Weltbild stirbt zuletzt. Damit meint er natürlich Welt III, of course.

Zunächst aber wird das, was einer wahrnimmt, nach Kräften ignoriert und idealisiert, was das Zeug hält. Erst wenn‘s gar nicht mehr geht, folgen die üblichen langen Gesichter: „Das haben wir nicht gewußt“ beziehungsweise, perfider noch, „Das haben wir nicht wissen können“. Bolle meint: hättet ihr wohl. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.