So 14-07-24 Die Welt ist ein Werden

Sein oder Werden – das ist hier die Plage …

Neulich saß Bolle zu ganz unbürgerlich später Stunde unter dem Fernsehturm am Alexanderplatz. Panoramablick aus der Froschperspektive, kam es ihm in den Sinn. Zwar konnte er sich lebhaft vorstellen, wie fern man sehen kann vom Fernsehturm. Allein er saß ja schließlich nur bei Fuße. Buch und Bier hatten sich in jener Nacht in einem Gläschen Dornfelder trocken und Ralf Ludwigs ›Sternstunden der Religion‹ materialisiert.

Bolle glaubt ja grundsätzlich erst mal gar nichts – eine Haltung, die, wie er findet, einem Agnostiker nicht schlecht zu Gesichte steht. Gleichwohl: man wird und soll sich ja dürfen anregen lassen. Und so hieß es im Abschnitt über Gautama, der Buddha habe die Idee eines absoluten Seins zurückgewiesen – aber auch die Idee eines absoluten Nicht-Seins. Es sei das Werden, das die Welt ausmache.

Kurzum: die Welt ist ein Werden. Das kam Bolle sehr entgegen. Hält er doch jedwede Vorstellung von Absolutem, in welcher Form auch immer, für, gelinde gesagt, kognitiv unterbelichtet. Bolle glaubt ja nicht einmal an etwas so Vertrautes wie eine absolute Masse. Vgl. dazu So 30-06-24 Die Wirklichkeit, die Wirklichkeit trägt wirklich ein Forellenkleid).

Während also Descartes 1641 schon die Tatsache, daß er denkt, für einen unumstößlichen Beweis seiner Existenz hielt – cogito ergo sum (ich denke, also bin ich) –, meint Bolle, daß die Tatsache, ein Teil des Werdens dieser Welt zu sein, ein noch viel unumstößlicherer Beweis der eigenen Existenz sein sollte: accido ergo sum (ich komme darin vor – also bin ich).

Wenn aber Sein oder Nicht-Sein allein eine Frage der Perspektive ist, dann müssen und dürfen wir uns deutlich weniger Sorgen machen: Was einmal ist, bleibt Teil des Werdens – heute und für immerdar. Es kommt halt nichts weg in diesem Universum. Selbst das, was nicht ist, kann noch werden – wie der Volksmund scherzhaft weiß.

Warum dann die ganze Spannung? Weil es das Leben so spannend macht? Wohl kaum. Bolle glaubt eher, daß wir es hier mit einer regelrechten conditio universalis zu tun haben – einer Gegebenheit des Daseins an sich. Leben heißt Leiden – wie Buddha das schon in der allerersten seiner edlen vier Wahrheiten ausdrückt.

Wenn die Herdplatte zu heiß ist, zucken die meisten zurück. Wenn der Magen zu leer ist, stellt sich regelmäßig schlechte Laune ein. Das aber ist allein eine Frage der Homöostase. Physiologisch zeigt sich das darin, daß Lebewesen bestrebt sind, unerwünschte Wahrnehmungen zu vermeiden. Affektiv zeigt es sich darin, erfreuliche Dinge anzustreben und unerfreuliche möglichst zu meiden. Kognitiv schließlich zeigt es sich in einem Streben nach Ertrag und der Vermeidung von Aufwand – wie selbst Ökonomen wissen. Wer mag, mag sich unter diesem Aspekt noch einmal das Drei-Welten-Modell anschauen (vgl. So 07-07-24 Böse Buben). Wir reden hier von Welt II, der Welt der Wahrnehmung und Bewertung – also der spontanen und unmittelbaren Einordnung jedweder Wahrnehmung in erwünscht, W(+), bzw. unerwünscht, W(–).

Daraus erklären sich ohne weiteres auch die Versuche der verschiedensten Religionen bzw. philosophischen Richtungen bis hin zur Stoa, dem Leiden ein Schnippchen zu schlagen, indem man es einfach ignoriert.

Die gute Nachricht: Mit Sein oder Werden hat das alles wenig zu tun. Auch wer das Leiden nicht überwindet – wer von hinnen scheidet gar – ist unverbrüchlicher Teil des Werdens dieser Welt, und als solcher unkaputtbar, immerdar. Oder, um das Motto der Olympischen Spiele zu zitieren: Dabei sein – bzw. dabeigewesen zu sein – ist alles. Das stimmt zwar nicht ganz – ist an dieser Stelle aber bestmöglich tröstlich. Also entspannt Euch. Oder, um im Bilde zu bleiben: Wird schon … Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 02-06-24 Stramm auf Linie

Wahrlich ich sage Euch …

Heute können wir festhalten, daß der Wonnemonat Mai schon wieder zuende ist. Wir haben Juni. Das scheint – zumindest der üblichen Übereinkunft entsprechend – wahr zu sein. Allerdings handelt es sich hierbei auch um nichts Weltbewegendes. Heute ist halt der 2. Juni. So what?

Die Wahrheit, die ganze Wahrheit, und nichts als die Wahrheit – wie es bei Zeugenvernehmungen mitunter heißt, ist deutlich schwieriger zu fassen. Theoretisch streng genommen gar nicht (vgl. dazu unseren Beitrag von letzter Woche: So 26-05-24 Das bessere Argument). Was natürlich den Journalismus 2.0 – und hier in allererster Linie die sogenannten Faktenchecker – nicht davon abhält, sich selbst für im Inbegriff der reinen Wahrheit zu wähnen. Schließlich, so heißt es dann etwa, habe eine Studie selbiges ergeben. Ohne greifbare Studie tut es durchaus auch ein „Experte“, der im Gewande des Wissenschaftlers seine Meinung – mehr ist es meist nicht – als unumstößliches Faktum zum Besten gibt.

Wie wir ja wissen, gibt es immer vier Möglichkeiten. Man hält etwas für wahr – und die meisten anderen tun das auch (A1). Sozialpsychologisch unproblematisch. Ebenso verhält es sich mit B2. Interessant sind allein die Fälle A2 (Verschwörungsopfer) und B1 (Verblödungsopfer). Woher – das ist hier die Frage – nehmen die Linientreuen, also die A1-ler, ihre Zuversicht, daß sie im Vollbesitz der reinen Wahrheit sind und jeder, der die Dinge anders sieht, folglich (!) ein Verschwörungsopfer sein muß? Soviel Chuzpe muß man erst mal aufbringen. Bolle vermutet, daß das was mit kognitiver Kapazität zu tun hat. Aktuell etwa zeigt sich – langsam, aber immer sicherer –, daß so ziemlich alles, was uns während der Corönchen-Hysterie als reine Wahrheit aufgetischt wurde, sich als alles andere als wahr erwiesen hat. Die angeblichen Verschwörungsopfer hatten – leider kann man das kaum anders sagen – durch die Bank Recht.

Daraus könnte man was lernen. Könnte. Tut man aber nicht. Zur Zeit werden uns stramm linientreu die nächsten ultimativen Wahrheiten aufgetischt. Und jeder, der das nicht glauben mag, ist ein Verschwörungsopfer, of course.

Im Grunde könnten – beziehungsweise sollten sogar – an dieser Stelle irgendwann mal Lernprozesse einsetzen. Tun sie aber nicht. Das übrigens ist ein Punkt, der sehr für Bolles ›Mangelnde kognitive Kapazität‹-Theorem spricht.

Übrigens scheint es so zu sein, daß die Leute, die so verbissen an ihrem Zipfelchen Wahrheit hängen – beziehungsweise dem, was sie dafür halten –, genau die gleichen Leute sind, die völlig humorabstinent durchs Leben laufen. Beides nämlich scheint eine gewisse mentale Offenheit vorauszusetzen, die einem in diesem Universum leicht flötengehen kann. Um das zu erläutern, müßten wir unser Wirklich-Wahr-Schema allerdings auf 9 Felder erweitern (vgl. dazu etwa Fr 10-12-21 Das zehnte Türchen …). Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 26-05-24 Das bessere Argument

Die Welt in nuce

Man hat es wirklich nicht leicht. Aber umgekehrt kann es furchtbar leicht passieren, daß es, tout au contraire, einen hat. Wie nicht zuletzt in unserer kleinen Veranschaulichung der ganz grundsätzlichen Gegebenheiten einer Welt in nuce (im Nußschälchen, sozusagen) zu sehen ist.

Bei Welt I handelt es sich, in Wittgensteins Worten, um „alles, was der Fall ist“ – also wirklich einfach alles. Damit ist Welt I ebenso vollständig wie undurchsichtig. Eine black box also im besten Sinne des Wortes. Man kann handelnd auf sie einwirken und man kann, in Welt II, ihre Reaktionen wahrnehmen. Man kann aber nicht reingucken – und damit niemals wirklich wissen, wie es um sie steht. Im übrigen würde einem, wenn man es doch könnte, vermutlich unversehens der Schädel platzen.

Bei Welt III handelt es sich um das Weltbild, das einer (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) mit sich durchs Leben trägt und das sein Handeln, also seinen Umgang mit der Welt, bestimmt. Das Ziel ist dabei regelmäßig eine Zustandsverbesserung bzw. zumindest die Vermeidung einer Verschlechterung. Ökonomen nennen derlei Nutzen- bzw. Gewinnmaximierung, Max Weber nennt es Gesinnungs- bzw. Verantwortungsethik, wieder andere nennen es neuerdings Self-Optimization, und so weiter, und so fort.

Wie kommt die Welt III zustande? Nun, im Grunde ist sie das Destillat aller jemals wahrgenommenen und in erwünscht (W+) bzw. unerwünscht (W) eingeteilten und bewerteten Sinneseindrücke in Welt II. Welt III ist also das Ergebnis einer Modellierung und verläuft obendrein überwiegend unbewußt. Gleichwohl neigen die meisten Leute dazu zu meinen, die Welt sei nun mal so – nur weil sie sie sich so ausgedacht haben.

Nehmen wir – weil es dieser Tage naheliegt – die Wahlen zum EU-Parlament. Die einen halten die EU für einen dysfunktionalen Hirnfurz, der von Anfang an nie hat funktionieren können, tatsächlich noch nie funktioniert hat und auch zukünftig niemals funktionieren wird. Andere wiederum halten, tout au contraire, die EU für eine hochwohllöbliche Angelegenheit, die es nach Kräften zu stärken gelte.

Da beide Positionen nur schwerlich in Einklang zu bringen sind, befehden sich die Vertreter beider Lager bis aufs sprichwörtliche Messer und sprechen einander wechselweise den nötigen Verstand ab beziehungsweise zumindest die Fähigkeit, derlei überhaupt beurteilen zu können.

Und? Wer hat Recht? Die Antwort ist ebenso schlicht wie ergreifend: Wir wissen es nicht. Bei Geschichte im Allgemeinen und der EU im Besonderen handelt es sich um einen Such- und Finde-Prozeß mit völlig offenem Ausgang. Was funktioniert, hat Recht. Was nicht funktioniert, mendelt sich aus – und sei es noch so moralisch hochstehend. Letzteres wiederum würden manche als „Sozialdarwinismus“ weit von sich weisen wollen. Auch hier also wieder: Welt III in voller Aktion.

Was die Leute allerdings nicht davon abhält, sich auf die Suche nach dem „besseren Argument“ zu begeben – als ob man jemanden, der nun mal in einer alternativen Welt III lebt, ausgerechnet mit Argumenten eines Besseren belehren oder gar bekehren könnte.

Neulich etwa hat eines dieser Faktenchecker-Portale – das sind Leute, die meinen, daß man die Wahrheit ausrechnen und erkennen kann, wenn einem nur genügend Fakten vorliegen – eine KI gefragt, ob ein gegebenes Land eine „Diktatur“ sei. Die Antwort der KI: das hänge von der Definition ab. Da war natürlich die Empörung groß. Man gibt sich alle Mühe und zimmert sich in seiner Welt III die Vorstellung zurecht, daß besagtes Land selbstverständlich eine Diktatur sei und bittet dann eine KI – wohl eher teils der Form, teils der Bestätigung halber – um entsprechende Rückmeldung. Und dann sowas. Das hänge von der Definition ab. Da muß man sich ja verärgert fühlen. Alternativ könnte man allerdings noch auf die Idee kommen, daß man selbst sich möglicherweise eine allzu schlicht gestrickte Welt III zusammengezimmert hat. Das aber wäre dann doch wohl viel zu schmerzlich. Also besser auf der KI rumhacken. Das fühlt sich zumindest besser an.

Bolle fühlt sich hier übrigens entfernt an Alan Turing erinnert, der seinerzeit meinte: Eine wirklich intelligente Maschine ist eine Maschine, die zu dem Schluß kommt, daß Menschen nicht denken können (vgl. dazu Fr 22-01-21 Vom Wollen und Verwirklichen). Furchtbar lange wird das kaum noch dauern können, bis es soweit ist. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 19-05-24 Stuck state oder abflußfrei …?

Lang ist der Weg und kurz das Streben …

Abflußfrei ist ein herrliches Wort. Zum einen – und meistens ist wohl das gemeint – kann es bedeuten, daß der Abfluß frei ist – daß also Sachen oder Dinge, die nicht länger gebraucht werden, sich flüssig flugs entfernen können.

Andererseits kann es aber, tout au contraire, auch bedeuten, daß ein System frei von Abflüssen jeglicher Art ist. Die Folge ist, schau, schau, ein Stau. Was tun, sprach Zeus? Nun, wenn es schon nicht gelingen will, den Abfluß frei zu kriegen, dann sollte man wenigstens versuchen, den Zulauf einzudämmen.

Letztlich ist es wohl eine Frage des Gleichgewichts, beziehungsweise es geht, wie eine chinesische Weisheit das auszudrücken pflegt, darum, seine Mitte nicht zu verlieren. Womit wir bei unserem Schildchen wären: Von der Gosse zu den Sternen ist’s kein bequemer Weg – wobei die Gosse gar nicht mal so schlecht zum Abfluß paßt.

Vor Jahren einmal hatte Bolle das Schnäuzchen gestrichen voll: Statt sich den ganzen Tag von wahnsinnig wichtigen Nuhs zudröhnen zu lassen, hatte er sich eine regelrechte Null-Diät auferlegt und gar keinen diesbezüglichen Input mehr zugelassen. Und? Hat er was versäumt? Wohl kaum. Bolle kann sich recht gut erinnern, wie ein Kommilitone beim Mensa-Plausch mit den krassesten Neuigkeiten rüberkam. Bolle konnte alles, wirklich alles, als entweder höchst absehbar oder recht trivial abtun – oft genug beides. Verpaßt hatte er offenbar nichts, rein gar nichts. Na also – geht doch, wird er sich damals gedacht haben.

Wirklich wirken in der Welt kann man demnach wohl nur, wenn man versucht, die Fülle der Erscheinungen auf ihren jeweiligen Nucleus granuli, den Kern vons Körnchen sozusagen, zurückzuführen. Das mag zwar anstrengender sein – Denken tut ja bekanntlich weh –, letztlich aber ist es wohl befriedigender.

Mit Meinungsfreiheit verhält es sich übrigens recht analog. Meinungsfreiheit kann bedeuten, daß einer (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) seine Meinung frei äußern kann, ohne übermäßige Repressalien fürchten zu müssen. Meinungsfreiheit könnte aber auch bedeuten, daß einer völlig frei von jeglicher Meinung ist – zumindest von einer in irgendeiner Weise abweichenden Meinung. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Ostermontag 01-04-24 Frohe Ostern, urbi et orbi!

Ab ovo.

Und schon wieder stellen sie sich ein, die letzten Reste vom Osterfeste. Höchste Zeit also für unsere diesjährigen Last-minute-Grüße an unsere ebenso treue wie geneigte Leserschaft. Überhaupt gibt es Zeiten, wo einem die Soll/Ist-Diskrepanzen mit momentanen Transformationsbarrieren – vulgo ›Probleme‹ – schneller zuwachsen wollen als Lösungen sich einzufinden gewillt sind. Aber will man es sich anders wünschen? Eigentlich doch nicht. Bolle jedenfalls hält es mit dem Motto ›Lose your streams and you will lose your mind‹.

Zur Vorbereitung auf das Osterfest der Christenmenschen hat sich Bolle einmal mehr und extra gründlich in die Bibel vertieft – und zwar gewissermaßen ab ovo. Angefangen mit der Genesis (1. Buch Mose), of course, weiter mit dem Exodus (2. Buch Mose), dem Leviticus (3. Buch Mose), und so weiter und so weiter. Rechtzeitig zum Feste hatte sich Bolle dann plangemäß immerhin bis zu den Evangelisten Matthäus und Markus einschließlich ihrer Ostergeschichten – oder muß es heute „Erzählungen“ heißen? – durchgehört.

Dermaßen gründlich alttestamentarisch gestählt konnte es Bolles Aufmerksamkeit kaum entgehen, daß Jesus von Nazareth einfach nur versucht hat, das religiöse Bollwerk ein wenig menschengerechter aufzufrischen. Man mag ja von dem Alten halten, was man will: Ein Motivationspsychologe war er ganz sicher nicht. Das ganze Alte Testament ist durchsetzt mit Vorschriften über Vorschriften, deren Sinn sich dem sprichwörtlichen Juden auf der Straße (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) unmöglich hat erschließen können. Da war das Wort der Würdenträger vor. Ein Beispiel soll genügen: Darf man am Schabbes Gutes tun? Oder soll man strikt rein gar nichts machen? Allgemeiner formuliert: Soll die Religion dem Menschen dienen – oder der Mensch der Religion?

Wenn aber – und wir meinen ausdrücklich wenn – Jesus Gottes lieber Sohn war, dann kann es sich bei der gesamten Oster-Inszenierung eigentlich nur um eine Art von mißglückter Imagekampagne gehandelt haben, um die jahrtausende alten Dauerspannungen zwischen dem Hirten und seinen auserwählten Schäfchen gründlich und nachhaltig zu entschärfen. Zuzutrauen wäre es dem Alten durchaus – siehe Altes Testament. Und hätte auch funktionieren können. Allein es sollte anders kommen. So machen die Christenmenschen heute ein Drittel der Weltbevölkerung aus, die Juden liegen so um die 0,1 oder 0,2 Prozent – womit natürlich keinerlei Aussage über die Qualität der jeweiligen Religion verbunden sein soll. Derlei stünde einem Agnostiker ohnehin ganz schlecht zu Gesichte und sei uns schon von daher furchtbar ferne. Gleichwohl darf das strategische Ziel – falls es denn eines gab – nach allem als durchaus verfehlt gelten.

Übrigens läßt sich die Bibel in der Hörbuchfassung in gerade einmal 87½ Stunden goutieren. Manchem mag das viel erscheinen. Allerdings ist es leicht zu schaffen, wenn man (nur zum Beispiel) einen dreiwöchigen Strandurlaub nutzt und sich dabei täglich 4 Stunden Lektüre gönnt – statt nur die Plauze bräsig nach der Sonne auszurichten. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Mi 20-12-23 Das zwanzigste Türchen …

Weniger mag manchmal mehr sein …

Neulich hatte Bolle ein vorweihnachtliches Telephongespräch mit einem befreundeten älteren Herrn, der langsam, aber sicher auf die 80 zugeht. In Bolles Jugendtagen waren es die Großväter (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course), die in einem solchen Alter waren – falls nicht längst von hinnen geschieden.

Nach einem einleitenden Bericht über altersbedingte Zipperlein und auch ernsthaftere Beschwerden fühlte sich Bolle veranlaßt zu fragen: Und? Was planst Du so für die nächsten 80 Jahre? Der ebenso freche wie subtile Humor – so war die Frage zumindest gemeint – blieb indessen vollends unerkannt, of course.

Bolle kann sich des Eindruckes nicht erwehren, daß es bei den meisten Leuten so eine Art eingebaute kognitive Sperre gibt gegen das Offenkundige: Wir werden geboren, wirbeln ein Weilchen mehr oder minder sinnlos durchs Leben – und verteilen uns dann ganz stieke wieder im Rest des Universums. Zum Glück, meint Bolle, kommt da nichts weg. Also kein Grund zur Panik. Das sehen in aller Regel selbst hartgesottene Agnostiker ein.

Technisch ausgedrückt: Manchen fehlt die Abbruchbedingung in der Kalkulation. Die Logik dahinter stellt sich Bolle in etwa wie folgt vor: Bis jetzt habe ich noch immer den jeweils folgenden Tag erlebt. Und weil das bislang immer so war, sehe ich keinen Grund anzunehmen, daß das heute anders sein sollte. Folglich werde ich den morgigen Tag erleben. Und morgen gilt nämliches. Folglich werde ich auch den auf morgen folgenden Tag erleben. Und so weiter, und so fort – ad infinitum. In Bolles Kreisen nennt man so etwas übrigens vollständige Induktion – ein bewährtes mathematisches Beweisverfahren, das allerdings außerhalb der Mathematik nur eingeschränkte Gültigkeit beanspruchen kann.

Bolle dagegen – um sich das alles besser vorstellen zu können – teilt das Leben anschaulich in vier Jahreszeiten ein, also Frühling, Sommer, Herbst und Winter, und ordnet jeder Jahreszeit pi mal Daumen 20 Jahre zu. Mit 60 wäre somit Winteranfang, sozusagen. Im Grunde Zeit, sich in seine Mupfel zurückzuziehen und ein wenig zu meditieren – statt zu sagen: Da geht doch noch mehr, eye! Mag ja sein. Muß aber nicht. Kurzum: bei solider kaufmännischer Kalkulation könnte man den Winter des Lebens als eine Art Draufgabe betrachten und als solche genießen, soweit der oft zunehmend erschlaffende Leib das zuläßt. Keinesfalls aber als etwas, auf das man einen wie auch immer gearteten Anspruch meint erheben zu können.

Im Grunde geht es also um Abrundung des Lebens als kontemplatives Ziel – statt kindisch zu quäken: Bääh! Will aber nicht! Gib mir mehr davon!

In eine wirklich feine epigrammatische Form gebracht – und dabei noch eins draufgesetzt – hat das übrigens Oscar Blumenthal (vgl. dazu Fr 24-12-21 Das vierundzwanzigste — und für dieses Jahr letzte — Türchen …)

Nun bin ich ledig aller Erdenplag‘ –
Mich kann kein Glück, kein Hoffen mehr betrügen.
Und wenn einst naht der Auferstehungstag –
Ich bleibe liegen.

Total so! Bolle meint: So geht gelungene Kontemplation, wenn nicht gar gelungene Integration in den Schöpfungsplan – für den sich Bolle im übrigen in keinster Weise verantwortlich fühlt. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Di 19-12-23 Das neunzehnte Türchen …

12chen (Suchbild)

Nach unseren recht ausführlichen Ausführungen gestern hier, rein nachfragebedingt, noch ein kleiner Nachtrag zum Thema. Diesmal wollen wir uns aber kurz fassen.

Ein Einwand lief auf die Bequemlichkeit hinaus: Es könne ja wohl nicht angehen, zu jeder vollen Stunde einmal unter den Schreibtisch zu krabbeln. Das allerdings war nur symbolisch gemeint – zumal unter Schreibtischen meist viel zu wenig Platz ist, um darunter aufrecht und bequem (sthira-sukham) sitzen zu können.

Ein zweiter Einwand lief auf das Zeitmanagement hinaus: Ob es denn nicht eine kolossale Zeitverschwendung sei, von jeder einzelnen Stunde 5 Minuten abzuknapsen? Schließlich habe man zu tun. Die Antwort in Kürze und ohne Anspruch auf argumentative Ausgefeiltheit: Ach, i wo. Eher ist das Gegenteil der Fall. Das aber will empirisch erprobt sein.

Ein dritter Einwand war schon schwerwiegender: Ob es denn wirklich immer genau zur vollen Stunde sein müsse. Natürlich nicht. Gewisse Vorteile hat es dann ja doch, Agnostiker zu sein. Auch geht die Welt nicht unter, wenn mal ein 12chen ausfällt – einfach weil Zeit und Umstände es nicht zulassen. Hauptsache, die Richtung stimmt – wie Bolle in solchen Fällen zu sagen pflegt.

Schließlich allerdings gibt es durchaus Betätigungsfelder, wo es wirklich schwierig wird, sich angemessen um seine 12chen zu kümmern. Vergleiche dazu nicht zuletzt unser Suchbild oben. Im übrigen sind die 12chen seit Oktober 1995 – mehr oder weniger getreulich eingehalten – Bestandteil von Bolles kontemplativem Alltag. Unmöglich ist es also nicht! Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Mo 18-12-23 Das achtzehnte Türchen …

Das 12chen (Symbolbild, of course …)

Wir hatten am letzten Mittwoch, eher beiläufig, die 12chen erwähnt (vgl. Mi 13-12-23 Das dreizehnte Türchen …). Nun ist es mit Andeutungen ähnlich wie mit Gerüchten: Sie wecken mitunter mehr Aufmerksamkeit als eigentlich beabsichtigt war. Dabei geht es hier mitnichten um Geheimes Know-How – auch nicht im weiteren Sinne. Und da wir ohnehin unter uns sind, soll es an ein paar klärenden Worten nicht fehlen.

Die 12chen heißen 12chen, weil sie den 12. Teil der wachen Lebenszeit in Anspruch nehmen. Das ergibt sich rein arithmetisch: 5 min pro voller Stunde (entsprechend 60 min) ergibt nun mal ein zwölftel. Demnach müßten sie eigentlich, wenn es nicht sinnlos sperrig wäre, Zwölftelchen heißen. Tun sie aber nicht. Allein das soll uns hier nicht weiter bekümmern, denn erstens kommt es darauf nicht an, und zweitens ist Sprache ohnehin selten sonderlich logisch.

Worauf es dagegen ankommt, ist, zumindest nach Bolles Ansicht, einen gewissen kontemplativen Abstand zu wahren zu der um einen herum wogenden Welt (vornehm: vita activa). Ansonsten nämlich kriegt man leicht einen Knall – zumindest auf Dauer.

Technisch gesehen sind die 12chen alles andere als anspruchsvoll. Abstand nehmen – und nur das – ist der Dreh- und Angelpunkt. Das erreicht man, indem man in eben jenen 5 Minuten etwas grundsätzlich anderes macht als in der restlichen Stunde seines aktiven Lebens. Dabei empfiehlt es sich, zumindest einen Raum-Anker zu setzen (wie die NLP-Leute das nennen würden). Wer also beispielsweise den ganzen Tag am Schreibtisch verbringt, sollte sich – so viel Zeit muß sein – in einen Nebenraum begeben. Wer keinen Nebenraum zur Hand hat, könnte sich – das ist durchaus eine Möglichkeit –  zum Beispiel unter den Schreibtisch setzen. Hauptsache weg!

Und? Was tut man dann da unter dem Schreibtisch? Eigentlich nur Abstand nehmen. Wer unbedingt was zu tun braucht, mag es mit Atmen probieren. Atmen und zählen, zum Beispiel. Bolle für sein Teil würde bis 10 zählen – zehn mal einatmen, zehn mal ausatmen … Und schon sind die 5 Minuten um.

Wie sitzen? Eigentlich wie immer für solche Zwecke: aufrecht und bequem. Die Alten (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) übrigens nennen das seit jeher sthira-sukham-asanam. Aber auch darauf kommt es nicht weiter an. Sitzen, das kann der Fersensitz sein – mit oder ohne Yoga-Bänkchen –, der Schneidersitz oder auch ein halber Lotus (mit oder ohne Pölsterchen für das Popöchen). Wer auf diese Weise unmöglich bequem sitzen kann, mag sich notfalls mit einem Stuhl begnügen. Allerdings sollte das (siehe oben) nicht der Stuhl sein, auf dem man ohnehin die ganze Stunde gesessen hat – von wegen Abstand, Raum-Anker.

Wem nach einer Stunde am Schreibtisch nach ein wenig Recken und Strecken zumute ist: Bitteschön. Dann atmet man eben nur 5 mal, bis die 5 Minuten um sind.

Ach so: Eieruhr stellen nicht vergessen. Schließlich wollen wir wissen, wann es wieder Zeit ist für das aktive Leben, ohne zwischendurch auf eine Uhr schielen zu müssen. Aber wer ein Handy hat, hat auch eine Eieruhr.

Ein Moslem – die machen ganz ähnliche Dinge, wenn auch mit sehr viel mehr Vorgaben verbunden – hat es Bolle bei einer Taxifahrt durch Kairo einmal wie folgt erklärt: „Ich komme gar nicht so recht dazu, was Schlechtes zu tun. Kaum will ich damit anfangen, ist schon wieder Zeit für mein Gebet. Und danach kann ich unmöglich so weitermachen.“ Wie man sieht – Abstand hilft. In jeder Hinsicht. Egal, unter welcher Flagge. Warum also nicht auch agnostisch? Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Sa 16-12-23 Das sechzehnte Türchen …

Wer nicht fragt, bleibt dumm …

Und wieder gibt es Anlaß zu einer Jubelmeldung in eigener Sache: agenda 2028 feiert heute ihren 10. Geburtstag als juristisch vollwertiger Mensch, sozusagen. (vgl. dazu So 15-01-23 agenda 2028: 11 Jahre nun schon – and still going strong …).

Als Schildchen haben wir zur Feier des Tages einen Schnipsel gewählt, den Bolle vor einiger Zeit schon rein zufällig bei einem Party-Smalltalk aufgeschnappt hatte.

Zu einem solchen Anlaß sollte man vielleicht einmal mehr einen Schritt Abstand nehmen von der lauten und lärmenden Welt und sich fragen: Was tun wir hier eigentlich? Oder eben, deutlicher noch im Duktus: Wie verdödeln wir so unser Leben?

Die Frage nach dem guten, oder gar gottgefälligen Leben ist uralt, of course. Von Echnaton, der schon um 1.350 v. Chr. eine monotheistische Religion durchsetzen wollte – und damit womöglich Mose schwer beeindruckt hat – über Buddha (um 500 v. Chr.) bis zum Erlöser der Christenmenschen, of course, und weiter noch bis hin zu Mohammed (um 600 n. Chr.).

Von den vielen Philosophen, die sich parallel zu den Religionsstiftern einschlägig betätigt haben, wollen wir hier gar nicht erst anfangen. Es sind derer einfach zu viele.

Apropos viele: Ob viel dabei herausgekommen ist bei all diesen Bestrebungen, mag wohl im Auge des Betrachters liegen. Bolle jedenfalls beschleicht regelmäßig der Verdacht, daß selbst über Ziel und Zweck des guten Lebens bislang wenig Einigkeit besteht. Soll es darum gehen, möglichst munter und recht froh durchs Leben zu laufen – ganz viel Spaß zu haben, wie das heutzutage heißt? Hören wir, wie Mephistopheles das sieht:

Den schlepp ich durch das wilde Leben,
Durch flache Unbedeutenheit,
Er soll mir zappeln, starren, kleben,
Und seiner Unersättlichkeit
Soll Speis und Trank vor gier’gen Lippen schweben;
Er wird Erquickung sich umsonst erflehn,
Und hätt er sich auch nicht dem Teufel übergeben,
Er müßte doch zugrunde gehn!

Oder soll es, glühwürmchen-like, darum gehen, die jeweiligen Werte – etwa Friede, Freude, Eierkuchen, Demokratie und Fortschritt – mit aller Macht zu verteidigen? Kurzum: das Böse in der Welt nach Kräften auszurotten? Sancta simplicitas, meint Bolle da nur.

Oder geht es gar darum, ein Leben für die Ewigkeit zu leben? Etwa indem man wichtige Werke hinterläßt? Möglichst hochbegabte Kinder? Oder zumindest ewige Höllenqualen vermeidet? Die Menschheit nachhaltig beglücket? Wir wissen es nicht.

Wenn’s zum Schwur kommt, neigt Bolle ja dazu, mit den drei Töchtern der Philosophie zu flirten:

Die Wahrheit liegt –
kaum anders als die Schönheit –
im Auge des Betrachters.
Und so nach allem auch die Ethik.

Kurzum: Die Welt ist letztlich ein Gefühl. Umgekehrt bedeutet das: Gar nichts, oder nur sehr wenig fühlen kann es demnach auch nicht sein. Darum ja der gelegentliche Abstand, die Kontemplation – was immer auch dabei herauskommen mag. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Do 14-12-23 Das vierzehnte Türchen …

Schöner scheißen.

Gestern war Bolle bummeln. Und wie es manchmal so gehen mag, entdeckt man Dinge, die kannte man bislang noch nicht. Zum Beispiel einen Basketball-Korb fürs Häusl (wie man das in Österreich zu nennen pflegt).

Als erstes kam Bolle natürlich Sokrates in den Sinn: „Ich finde es immer wieder erstaunlich, was die Athener alles brauchen.“ (vgl. dazu auch Sa 10-04-21 Wir müssen leider draußen bleiben). Dann, gewissermaßen on second thought, mußte Bolle an Moshé Feldenkrais denken. Der meinte seinerzeit in seinem ›Bewußtheit durch Bewegung – Der aufrechte Gang‹ (1967), daß sich so ziemlich alle menschlichen Betätigungen in drei Stufen unterteilen lassen: die natürliche Art und Weise, wie einer etwas macht, die individuelle Herangehensweise und schließlich die systematische, professionalisierte Methode. Dabei, so Feldenkrais weiter, sei es so, daß je fundamentaler eine Tätigkeit sei, desto später gelange sie in das systematische Stadium. Als Beispiel nennt er dabei „Gehen, Stehen und andere fundamentale Tätigkeiten“. Wenn Bolle das richtig verstanden hat, wäre hier ›scheißen‹ unbedingt noch anzufügen.

Unter kontemplativen Gesichtspunkten will es Bolle mehr als fraglich erscheinen, das stille Örtchen in eine Mini-Basketball-Arena zu verwandeln. Auf daß man ja nie jemals zu sich kommen möge.

Entschiedener noch sind da, einmal mehr, die Zen-Leute. Hier die einschlägige Szene aus Janwillem van de Weterings ›Der leere Spiegel – Erfahrungen in einem japanischen Zen-Kloster‹ (1972). Dort meinte der Vorsteher (also so eine Art Obermönch):

„Was du auch tust, tu es, so gut du kannst. Und sei dir bewußt, was du tust. Tu nicht zwei Dinge auf einmal, zum Beispiel pissen und dir die Zähne putzen.“

Nun, Zen-Geist ist Anfänger-Geist. Und so ließe sich das Tun auf dem Häusl wohl ohne weiteres als Vorstufe zu den 12chen auffassen. (vgl. dazu den Eintrag von gestern, Mi 13-12-23 Das dreizehnte Türchen …). Rein zeitlich – und möglicherweise auch vom Kontemplationspotential her – kommt es ja so ziemlich hin. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.