
Es ist noch gar nicht allzu lange her, da ging es uns um die Kunst vorausschauenden Fahrens nebst der Unmöglichkeit, es in selbiger zur Meisterschaft (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) zu bringen, wenn es einem an Scharfsicht gebricht (vgl. dazu So 27-10-24 Vorausschauend fahren! Können vor Lachen). Unser Fazit seinerzeit: Wer kurzsichtig ist – und sei es auch nur leicht – tut gut daran, selbiges zur Kenntnis zu nehmen und keine Karriere zum Beispiel als Rennfahrer anzustreben. Er wäre stets nur zweite Wahl – und auf die Dauer gar nicht glücklich.
Damals meinte Bolle, faustgestählt, in Anbetracht einer Rüge seines Fahrlehrers, das Schild da säh‘ er wohl, allein er könnt‘s nicht lesen – jedenfalls nicht auf die Entfernung. Damit hatte die Angelegenheit ihr Bewenden. Bolle hat seine Führerscheinprüfung anstandslos im ersten Anlauf bestanden, of course.
Was aber wäre gewesen, wenn Bolle anders reagiert hätte, etwa wie folgt: ›Schilder? Regeln überhaupt? Interessieren mich nicht.‹ Man nennt das wohl ›Aus der Not (der Kurzsichtigkeit) eine Tugend machen‹. Zugegeben, das klingt erst mal schrill. Allein, wenn man sich umguckt auf der Welt, scheint diese Masche, zumindest bei einigen Leuten, einigermaßen en vogue zu sein. Und, wie’s weiterhin scheint, durchaus auch mit gewissem Erfolg. Hier ein Beispiel, wie es Bolle vor Kurzem erst untergekommen ist.
Ein Mathelehrer wollte seine gymnasiale Oberstufe lehrplanmäßig mit der Familie der e-Funktionen vertraut machen. Als Anschauungsmaterial wählte er zwei Populationen – nennen wir sie Ping und Pong. Dabei ist Ping (rötliche Kurve) im Ausgangspunkt (auf der x-Achse Null) dreimal so stark wie Pong (blaue Kurve). Allerdings, so das Beispiel, vermehre sich Pong mit 3 Prozent jährlich, Ping dagegen nur mit 1 Prozent – also nur ein Drittel so sehr. Die zu lösende Aufgabe: Wie lange wird es dauern, bis Pong genauso stark ist wie Ping – und wie geht es dann weiter?
Nun, auch ohne uns mit der Familie der e-Funktionen vertraut machen zu müssen: Aus der Graphik läßt sich leicht ablesen, daß das schon nach 55 Jahren der Fall sein wird. Ab da schießt Pong (die blaue Kurve) buchstäblich durch die Decke. Und zwar so lange, wie sich an den Wachstumsraten nichts ändert.
Wie ging es weiter mit der Geschichte? Statt zu sagen: ›Potzblitz! Was sich alles rechnen läßt! Das ist ja interessant!‹ hieß es in Teilen der besorgten Elternschaft, das sei ja wohl sowas von rechter, wenn nicht gar rechtsextremer Mathematik. Unklugerweise nämlich hatte unser Mathelehrer die Aufgabe nicht an Ping und Pong, sondern an Einheimischen versus Zugereisten aufgezogen. Eine Zumutung! So etwas habe an einer höheren Lehranstalt natürlich nichts verloren. Der Lehrer müsse möglichst umgehend entlassen werden. Weg, weg, weg! Die armen Kinder! – und so weiter, und so fort.
Bolle sieht hier eine äußerst beunruhigende Parallele zu seiner fiktiven ›Was interessieren mich Regeln‹-Replik. Auch Regeln der Mathematik haben gefälligst politisch korrekt zu sein. Da sind Teile der Elternschaft offenbar selber nicht in der Lage zu rechnen – zumindest tun sie es nicht. Und wenn ihnen dann einer die Rechnung auf die sprichwörtliche Nase bindet, fühlen sie sich mitnichten bereichert – Heureka! – sondern in ihrem woken Weltbild aufgewühlt.
Und? Was macht der Journalismus 2.0 …? Stets auf der Suche nach Sensationen stürzt er sich mit Schwunge drauf – und bestärkt die Paragonisten damit in ihrer gerechten Empörung. Bolle meint, vermutlich kennt man dort die e-Funktionen ohnehin auch nur vom Hörensagen.
Natürlich ist das Phänomen an sich nicht neu. 1976 schon sahen sich Politikdidaktiker (welch ein Wort, by the way) veranlaßt, sich als Handreichung für das Lehrpersonal auf einen Beutelsbacher Konsensus mit drei Punkten zu verständigen. Erstens das sogenannte Überwältigungsverbot: Keinem Schüler soll eine Meinung aufgezwungen werden. Allerdings, meint Bolle, kann es durchaus passieren, daß sich der eine oder andere Schüler (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) gleichwohl von Mathe überwältigt fühlt. Zweitens das Kontroversitätsgebot: Was strittig ist, soll strittig bleiben. Ziel ist auch hier die freie Meinungsbildung. Allerdings findet Bolle, daß das ja wohl ein wenig aus der Zeit gefallen sei. ›Eine Meinung muß genügen: mehr hältste ja im Kopp nich aus‹ – und verweist dabei gerne auf Hauke Arachs ›Mensch, lern das und frag nicht‹ aus dem Jahre 2013 (vgl. dazu etwa So 22-09-24 Opinio et Reactio). Seitdem ist diesbezüglich ja wohl so einiges den Beutelsbach runtergegangen – um mal ein wenig zu kalauern. Der dritte Punkt? Spielt hier keine Rolle.
Ist das jetzt alles übertrieben? Vermutlich leider nicht. Kaum einer kann rechnen – und falls doch, will es niemand wahrhaben. Immerhin würde das umstandslos so manch maroden Zustand im Lande erklären: von Schulen, Straßen und auch Schwimmbädern – bis hin zum vielbeklagten „jahrzehntelangen Investitionsstau“ überhaupt. Anscheinend aber kommt kaum einer auf die Idee, sich zu fragen, wie das alles überhaupt jemals so weit kommen konnte. Stattdessen scheißt man die Probleme lieber mit einem Riesenhaufen Knete zu – ganz nach dem Motto ›Was interessieren mich Regeln? Was interessiert mich Rechnen? Was Mathematik?‹. Kann man so machen – wenn auch vermutlich nicht auf Dauer. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.