Wer unten ist, bleibt unten. Nach Berechnungen der Industrieländerorganisation OECD ist der Aufstieg in Deutschland schwieriger als in fast allen anderen westlichen Staaten. Demnach dauert es bis zu sechs Generationen, bis die Nachkommen einer einkommensschwachen Familie das Durchschnittseinkommen des Landes erreichen. Das sind mehr als 150 Jahre.
So läßt Garbor Steingarts heutiges Morning-Briefing verlauten. Bolle ist entzückt. Da ist es wackeren Forschern doch glatt gelungen, Erwerbsbiographien bis in die Mitte des 19. Jhd. zurückzuverfolgen – und das ganze auch noch auf die Zukunft hochzurechnen. Respekt. Andererseits: Geologen ist es neuerdings ja auch gelungen, das Verhalten von Salzstöcken zwecks Endlagerung von Atommüll auf 1 Million Jahre hochzurechnen. Das ist noch sehr viel mehr als 150 Jahre. Um das ganze noch zu toppen, haben sie uns im Namen der Wissenschaft auch gleich noch erklärt, warum ihre Entscheidung für Gorleben von vor 50 Jahren heute nicht mehr gilt. Nun sind 50 Jahre sehr viel weniger als 1 Million Jahre. Bolle meint: Solche Berechnungen haben wohl mehr mit Voodoo zu tun als mit Wissenschaft. Die Botschaft hört er wohl. Allein: ihm fehlt der Glaube.
Weiterhin erfahren wir, daß „16 liberale Politiker, Wissenschaftler, Journalisten und Unternehmer“ ein Buch mit dem Titel „Aufstieg: 16 Vorschläge für die Zukunft Deutschlands“ vorgelegt haben.
16 Autoren, 16 Vorschläge: Das klingt ja richtig systematisch. Ein Glück, daß ick meine Lesebrille verlegt hab, meint Bolle. Dabei ist das alles doch nicht soo kompliziert:
Stellen wir uns eine kleine Volkswirtschaft mit 15 Personen vor, von denen sich 5 auf „Level V“ befinden, 4 auf „Level IV“, und so weiter bis ganz oben. Wenn jetzt einer, zum Beispiel A, aufsteigen will, Pfeil (1a), dann muß notwendigerweise jemand anderes Platz machen, Pfeil (1b), und jemand Drittes muß nachrücken, Pfeil (1c). So ist das bei einer sich nach oben verjüngenden Pyramide. Kurzum: Zwar ist es möglich, daß A aufsteigt – es ist aber mathematisch unmöglich, daß das gesamte Level V aufsteigt. Noch kürzer: Jeder kann aufsteigen. Aber es kann nicht jeder aufsteigen. Komplizierter ist es an dieser Stelle nicht. Allerdings wäre es möglich, Pfeil (2), daß man die Definition, was „oben“ ist und was „unten“, modifiziert. Wenn man also Level III zu „auch oben“ zählt, dann können sich manche, die vorher „unten“ waren, „oben“ zugehörig fühlen. Davon wurde ja auch reichlich Gebrauch gemacht, zunächst wohl von Helmut Schelsky mit seiner „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“. Das war 1953 und hat als ernstzunehmende Beschreibung auch nicht länger gehalten als die Berechnungen der Geologen, was Gorleben als Endlager angeht. Also Schwamm drüber. Was man aber, drittens, in der Tat machen könnte, wäre ein „Anbau nach unten“. Das wäre bei einer sich nach oben verjüngenden Pyramide in der Tat mathematisch durchaus möglich.
Zwar wäre Level V auf diese Weise in keiner Weise „aufgestiegen“. Gleichwohl könnten sich die Betroffenen damit trösten, daß sie jetzt nicht länger „ganz unten“ sind. Kurzum: Die perfekte Aufstiegs-Illusion. Das aber hat mehr mit Psychologie denn mit Mathematik zu tun. Klassische Kandidaten für Level VI sind dabei „Hartzer“, Aufstocker und nicht zuletzt auch sog. „Solo-Selbständige“.
Fassen wir zusammen: Möglichkeit #1, Aufstieg für alle, kann rein mathematisch nicht funktionieren. Bei Möglichkeit #3, der Aufstiegs-Illusion durch „Anbau nach unten“, dürfte es sich um einen klaren Fall von Zweckverfehlung handeln. Bleibt Möglichkeit #2: Die Absenkung der „Oben/Unten“-Grenze soweit nach unten, daß sich jeder, oder fast jeder, zumindest wirtschaftlich einigermaßen „auch oben“ fühlen kann — zumindest aber nicht allzu weit unten. Den meisten würde das ja schon reichen. Solange sich aber Leute wie etwa Friedrich Merz gerade mal eben zur „oberen Mittelschicht“ zählen, bleibt es wohl beim „Aufstiegserbrechen“. Nun ist Bolle doch ein ganz klein wenig gespannt, was die 16 Autoren auf immerhin 283 Seiten zum Besten gegeben haben mögen. Vermutlich die alte „Leistung muß sich wieder lohnen“-Leier — was bei Lichte betrachtet ja wohl auf eine „Verhöhnung“ (wie das neudeutsch gerne heißt) der braven Werktätigen hinausläuft. Vielleicht findet Bolle seine Brille ja bald wieder. Aber das ist ein anderes Kapitel.