Sa 27-02-21 Wahrheit ohne Klarheit

Wahrheit ohne Klarheit.

Neulich hat Bolle gehört, daß Corönchen in den USA jetzt schon mehr Tote „gefordert“ hat als der 2. Weltkrieg insgesamt. Krass. Ein glattes Faktum, das. Aber ist es auch „wahr“? Nun, nach Angabe des US-Veteranenministeriums belaufen sich die Weltkriegs-Toten auf 405.399. Die Corönchen-Toten dagegen belaufen sich auf bislang 507.800. Also wahr. Aber sind die 405.399 Weltkriegs-Toten wahr? Möglich, aber unwahrscheinlich. Warum? Nun, je genauer eine Zahlenangabe, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß irgendein Statistiker an irgendeiner Stelle irgendein Häkchen falsch gesetzt hat. Also „Fake News“? Strenggenommen Ja. Aber kommt es darauf überhaupt an? Natürlich nicht. Das aber ist keine Frage der Fakten – es ist eine Frage der Einordnung.

Was Bolle damit sagen will: Selbst auf der Ebene schlichter, unverbundener Zahlen kommen wir ohne Einordnung nicht aus. Die „nackten Fakten“ vermitteln allenfalls eine erste, ungefähre Orientierung – und bedürfen dringend der Interpretation. Interpretation aber ist eine höhere kognitive Funktion, eine Kunst geradezu, und mit keinem Taschenrechner der Welt zu bewältigen. Die Wahrheit läßt sich nun mal nicht ausrechnen.

Noch bedenklicher wird es, wenn wir nicht auf der Ebene schlichter, unverbundener Zahlen bleiben, sondern zum Beispiel den kleinen, aber feinen Unterschied zwischen absoluten vs. relativen Zahlen einführen. Hier ergibt sich, daß bislang nur (?) 1,5 Promille der Amerikaner wegen Corönchen verschieden sind (507.800 geteilt durch 328 Millionen). Dem 2. Weltkrieg dagegen sind doppelt so viele, nämlich 3,0 Promille, zum Opfer gefallen (405.399 geteilt durch damals 132 Millionen). Wahr oder nicht wahr? Offenkundig wahr – paßt aber nicht zu unserem Ergebnis von oben. Was nun? Was tun? Wir kommen nicht drum rum: Schon wieder müssen wir einordnen bzw. interpretieren.

Mit den reinen „Fakten“ kommen wir keinen Schritt weiter. Und dabei haben wir erst die Ebenen „schlichte, unverbundene Zahlen“ bzw. „absolute vs. relative Zahlen“ abgehandelt – also voll die Froschperspektive.

Wie steht es um die „nackten Fakten“, wenn wir Attribution ins Spiel bringen – also die Neigung des menschlichen Gehirns, den Tatsachen Ursachen zuzuschreiben? Auch hierfür hat Bolle ein passendes Beispiel gefunden. In einem Beitrag einer an sich seriösen Zeitung heißt es, der Corönchen-Overkill, also der Zeitpunkt, da die Corönchen-Toten die Weltkriegstoten überschritten haben, sei justamente auf den Amtsantritt von Joe Biden gefallen. Fakt oder Fake? Könnte man als Fakt durchgehen lassen. Allerdings müßte man dann alles, was wir bislang gesehen haben, nonchalant ausblenden. Umgekehrt könnte man es also auch als subtile Form von Trump-Bashing durchgehen lassen. Das wäre nicht weniger wahr.

Richtig dumm wird es indes, wenn wir, viertens, „interessengeneigte Wahrheit“ ins Spiel bringen. Auch das ist alles andere als neu. Francis Bacon hat sich schon 1620, also vor nunmehr 400 Jahren, einschlägig geäußert: „Intellectus humanus luminis sicci non est; sed recipit infusionem a voluntate et affectibus, id quod generat Ad quod vult scientias.“ Übersetzen? Übersetzen. „Der menschliche Intellekt leuchtet nicht aus sich heraus. Vielmehr wird er von Wünschen und Leidenschaften gespeist – was dazu führt, daß wir es mit ›Wissenschaft ganz nach Wunsch‹ zu tun haben.“ Kurz und knapp: Wissenschaft wie’s g’rade paßt. Entsprechend können wir „Ad quod vult veritas“ (wörtlich: Wahrheit, wie man’s gerne hätte) knapp mit: „Wahrheit ohne Klarheit“ übersetzen.

Kurzum: Die nackten Fakten könnt Ihr knicken. Nice to have und als Grundlage unverzichtbar – aber ohne Einordnung bzw. Interpretation in keiner Weise zielführend. Warum dann das ganze doch eher unreflektierte „Fakten eintakten“? Nun, jeder tut, wie er kann, meint Bolle. Die solidere Erklärung: Menschliches Orientierungsbedürfnis, eines der kognitiven Grundbedürfnisse. Lieber irgendeinen Plan haben als gar keinen. Wer mag, mag dazu den kurzen Beitrag unter Sa 16-01-21 Wirklich wahr? nachlesen. Das aber ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

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