So 09-06-24 Erst wählen, dann zählen

Auf, auf, Marsch, Marsch!

Gestern war Bolle bummeln zwischen Wochenmarkt und Konsumtempel. Derlei bietet sich schließlich an – des Sonnabends in der Früh. „Hier“ – streckte sich ihm eine Hand entgegen. In der Hand eine Handreichung zur heutigen Europawahl von irgendeiner Partei. Last-minute-Wahlkampf, ging es Bolle durch den Kopf, noch ehe die Hand ganz ausgestreckt war. Auch an Rilkes Herbsttag (1902) mußte er kurz denken: Wer jetzt gemein ist, wird es lange bleiben. „Mit Verlaub, junger Mann, aber Ihre Partei ist so ziemlich das letzte, was ich wählen würde.“ Der junge Mann indes zeigte sich professionell: „Das mag ja sein. Aber wichtig ist, daß Sie überhaupt wählen gehen.“ Dabei sind solche Empfehlungen zur rechten demokratischen Gesinnung natürlich nicht gerade das, was Bolle am frühen Morgen zu goutieren weiß – noch dazu von einem jugendlichen Jungspund. Aber Schwamm drüber. Immerhin wurde er nicht aufdringlich.

Zwei Dinge gingen Bolle durch den Kopf. Erstens: Wer am Vorabend einer Wahl noch nicht weiß, was er wählen wird, ist im demokratischen Gefüge vermutlich völlig falsch. Die Parteien – egal welche – hatten jahrelang Zeit, die Welt und vor allem die Wähler davon zu überzeugen, daß ihre Richtung die richtige ist. Wozu dann Wahlkampf auf den letzten Drücker? Umgekehrt gewendet: Wer am Vorabend einer Wahl immer noch umworben werden will, der sollte sich vielleicht fragen, ob er das nächste mal nicht vielleicht besser aufpassen mag und sich im Laufe der Zeit eine fundierte Meinung bilden möchte? Zweitens: Die aufrechten Demokraten brauchen ihr Wahlvolk wie der Pfaffe (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) seine Schäfchen. Schließlich muß alles seine gute Ordnung haben. Määh! Und in der Tat hat sich ›Demokratie‹ im Laufe der Zeit derart moralisch aufgeladen, daß sie nachgerade das Unterscheidungsmerkmal geworden ist zwischen den Guten und den Bösen. Schließlich gilt so manchem Hülsenfrüchtchen: Demokratie ist die Herrschaft der Guten (vgl. dazu So 06-12-20 Das sechste Türchen — Nikolausi …). Also tut man gut daran, ganz dolle daran festzuhalten. Also Hauptsache wählen gehen, wie der Jungspund meinte. Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel: So gilt etwa die Deutsche Demokratische Republik bis heute manchem als nicht wirklich demokratisch – obwohl der Name doch Programm sein sollte. Auch so manche „lupenreine Demokratie“ hat es wahrlich nicht immer leicht, von manchen als solche anerkannt zu werden. Umgekehrt sei hier an Jonas Jonassons ›Der Hundertjährige‹ (2009) erinnert und dabei an Amanda Einsteins ›Liberaldemokratische Freiheitspartei‹ – wo sich ihrer Ansicht nach die drei Begriffe „liberal“, „demokratisch“ und „Freiheit“  in einem solchen Zusammenhang doch sehr gut machten. Wer es etwas gründlicher mag, sei auf unsere fünfteilige Trilogie unter dem Schlagwort ›Schrat und Staat‹ verwiesen. Dabei empfiehlt es sich, chronologisch aufsteigend zu lesen – also umgekehrt wie angezeigt. Dort steht eigentlich alles, was man zur Vorbereitung auf die Stimmabgabe wissen muß – nicht zuletzt zum Stichwort ›Partizipations-Placebo‹.

Abschließend unterbrochen und ins zen-mäßige gewendet wurde der Gedanken Blässe schließlich am Erdbeerstand. Wie süß sie schmeckten! Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

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