
Unser Bildchen heute zeigt original Ostberliner Industrie-Design, wie es sich nicht mehr allzu häufig findet in der Stadt. Vor zwanzig Jahren noch – ja damals – waren von Maschinengewehrfeuer gelöcherte Fassaden durchaus noch normal im Stadtbild. Immerhin: bei Bolle vor der Haustür gibt’s das noch.
Nun ist Bolle durchaus kein Architekturhistoriker. Aber da es sich hierbei erkennbar nicht um einen Plattenbau handelt, dürfte das Gebäude durchaus älter sein als die damalige DDR. Ob es aber im oder schon vor dem tausendjährigen Reich errichtet wurde, weiß Bolle nicht zu sagen. Die ästhetischen „Verfeinerungen“ an der Fassade allerdings dürften definitiv aus postsozialistischen Zeiten stammen.
Dabei sind am rechten Bildrand schon erste, zaghafte Modernisierungsbestrebungen zu erkennen: die Fenster wurden, so wie’s aussieht, durch energieeffizientere Plaste-Fenster ausgetauscht. Unter ästhetischen Gesichtspunkten wohl eher fraglich, findet Bolle. Aber wenn’s dem Fortschritt dient … Bolle – mit den hiesigen Verhältnissen durchaus einigermaßen vertraut –, vermutet, daß da einer den Energieeffizienz-Fördermitteln nebst Umlage-Möglichkeit auf die Mieter nicht widerstehen konnte.
Bei Thomas Manns ›Buddenbrooks‹ (1901) hatte sich folgendes zugetragen: Tony Buddenbrook – höhere Tochter aus dem eher calvinistischen Norden – hatte es ehestandshalber ins katholische München verschlagen. Dort war man weniger ehrgeizig – und dafür umso gemütlicher. Und so mußte sich Tony, kurz nach der Hochzeit schon, von ihrem Göttergatten folgendes anhören:
„Tonerl“ – er nannte sie Tonerl – „Tonerl, mir war’s gnua. Mehr brauchen mer nimmer. I hab’ mi allweil g’schunden, und jetzt will i mei Ruh, Himmi Sakrament. Mer vermieten’s Parterre und die zwoate Etasch, und dahier hamer a guate Wohnung und können a Schweinshaxen essen und brauchen uns net allweil gar so nobi z’sammrichten und aufdrahn … und am Abend hab’ i ‘s Hofbräuhaus. I bin ka Prozen net und mag net allweil a Göld z’ammscharrn; i mag mei G’müatlichkeit! Von morgen ab mach’ i Schluß und werd’ Privatier!“
Privatier! Sein ›Tonerl‹ –zuhause bekannt als ›Tony‹ beziehungsweise eigentlich ›Antonie‹ – war entsetzt. Wie kann man nur mit einem solch eklatanten Mangel an Ehrgeiz durchs Leben laufen?
Sind nun die hanseatischen Großbürger die besseren Menschen? Oder nicht doch eher die Münchner? Natürlich ist die Frage sinnlos. Sie sind einfach nur anders drauf. Seinerzeit bedurfte es offenbar durchaus noch einer gewissen „interkulturellen Kompetenz“, um sich auch nur zwischen nördlicheren und südlicheren Gefilden des Deutschen Bundes zurechtzufinden.
Einer der ersten, die deutlich auf diesen Umstand hingewiesen haben, war wohl Max Weber mit seinem ›Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus‹ (1904/05), der meinte, daß es neben rein ökonomischen Aspekten durchaus auch eines gewissen religiös „fundamentierten“ innerweltlich-asketischen Berufsethos bedürfe.
Kurzum: Es kommt doch sehr darauf an, wie die Leute – als Population – ticken. Unter dem gegenwärtigen multikulturell-ultraintegrativen Einheitsbrei-Paratickma haben derlei Ideen derzeit allerdings keine Chance. Gleichwohl wird Bolle den Verdacht nicht los, daß eine Gesellschaft ohne ein gewisses Maß an Gruppenkohäsion (vulgo: Wir-Gefühl) nicht funktionieren kann und wird – nicht einmal wirtschaftlich. Allein: wer steckt’s den herrschenden Schichten – die ja zu meinen scheinen, daß es lediglich einer gehörigen Portion „Sondervermögens“ nebst einer nicht minder gehörigen Portion Propaganda bedürfe, und alles werde gut. Bei den Buddenbrooks jedenfalls wurde noch in ehrlichen Kuranttalern gerechnet. Und wenn die alle waren, dann war eben Schicht im Schacht – und man mußte „Bankeröttchen“ machen, wie es seinerzeit hieß. In Bolles Kreisen nennt man derlei ›Kurze Feedback-Schleife‹. Deren reine Existenz hat den unschätzbaren Vorzug, einen vor übertrieben optimistischen Ambitionen – man könnte auch sagen: Traumtänzereien – zu bewahren. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.