
Manchmal ist eine Allegorie wirklich nicht das schlechteste, um sich selber die eine oder andere Einsicht noch deutlicher vor Augen zu führen. Und hat nicht auch der Erlöser der Christenmenschen stets in Gleichnissen gesprochen?
Neulich mußte Bolle an seine Fahrschulzeit denken. Das ist zwar schon ein Weilchen her – aber manches bleibt halt hängen. Insbesondere die folgende Szene steht Bolle heute noch klar vor Augen. Feierabendverkehr, die Straße vier- bis sechsspurig, eine topographisch etwas barocke Gabelung in Sicht.
„Vorausschauend fahren!“ mahnte der Fahrlehrer. „Sehen Sie denn nicht das Schild da vorne?“
In vielleicht 100 m Entfernung befand sich in der Tat ein riesiges blau-weißes Schild, quer über die Fahrbahnen gespannt. Auf dem Schild stand haargenau, wie die Spuren sich verteilen, welche Spur wohin führen wird – was also zu tun ist, um sich rechtzeitig richtig einzuordnen.
Bolle, seinerzeit schon durchaus faust-gestählt, meinte nur: „Das Schild da seh‘ ich wohl. Allein ich kann’s nicht lesen.“ In der Tat konnte Bolle das Schild an sich deutlich sehen. Auch konnte er Sinn und Zweck des ganzen klar erahnen. Die Feinheiten aber – also die eigentliche Beschriftung – wollte sich Bolle auf diese Entfernung durchaus noch nicht erschließen.
Was ist nun das Allegorische? Nun, vorausschauend zu fahren setzt voraus, daß einer hinreichend gut vorausschauen kann. Wenn einer (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) genau das aber eben nicht kann – und sei es aus dem schlichten Grunde, daß seine Äuglein nicht so scharf sind wie etwa die des Fahrlehrers, dann ist es Essig mit dem vorausschauenden Fahren.
Wir haben ›Dummheit‹ verschiedentlich umschrieben als ›unzureichende prognostische Kompetenz‹, also zum Beispiel das kognitive Unvermögen, die Konsequenzen seiner eigenen Entscheidungen gut genug überblicken zu können.
So etwas gilt natürlich als per se selbstwertbeschädigend. Erkläre jemandem, daß er dumm ist, oder erkläre ihm auch nur, daß Du an seiner prognostischen Kompetenz zweifelst, und er wird Dich hassen.
Aber wo, bitteschön, soll hier ein Unterschied sein, der einen Unterschied macht? Die einen können ihr Fahrzeug nicht so geschmeidig steuern, wie das aus der Sicht anderer wünschenswert wäre. Und zwar einfach deshalb nicht, weil sie nicht weit genug gucken können. Und manch andere können keine geschmeidigen Entscheidungen treffen – einfach deshalb nicht, weil sie die Konsequenzen nicht weit genug überblicken können.
Aus der Sicht der Talente – egal, ob wir hier von Sehkraft reden oder von so etwas wie Geisteskraft – mag derlei auf Unverständnis stoßen: „Das sieht man doch!“ Tut man ja auch – wenn man entsprechend scharfsichtig ist beziehungsweise scharfsinnig. Ansonsten aber eben nicht.
Und? Die Moral von der Geschicht? Erstens: Ihr Talente, laßt Milde walten. Die Luschen können schließlich nichts dafür, daß sie – in dieser Hinsicht (!) – relativ zu Euch minderbemittelt sind. Zweitens, und vor allem aber: Ihr – wiederum nur in dieser Hinsicht – relativen Luschen: Versucht nicht, Dinge zu tun, die andere nun mal besser oder sehr viel besser können als Ihr selbst. Ihr sollt nicht Rennfahrer werden wollen, wenn Ihr nicht scharfsichtig genug seid, und ihr sollt nicht Staaten lenken wollen, wenn Ihr nicht scharfsinnig genug seid.
Irgendwo wird wohl jeder ein gewisses relatives Talent haben – also etwas, das er besser kann als die Leute um ihn herum. Das gilt es zu pflegen und auszubauen. Versucht, umgekehrt, nach Möglichkeit zu vermeiden, Euch auf Gebieten zu tummeln, auf denen Ihr bestenfalls Mittelmaß seid. Das alles aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel …