
In gewisser Weise hält Bolle einen kleinen Nachtrag zu unseren letzten beiden Türchen für angebracht: Schlafforscher, die nächtliche Insomnie bei Vollmondenschein mit der Helligkeit im Schlafgemach zu erklären versuchen, Ernährungsphysiologen, die Ballaststoffe erst für überflüssig halten und dann in höchsten Tönen hypen. Bolle findet: Is doch nicht seriös.
Grundsätzlich gesehen ist überhaupt nichts dagegen einzuwenden, daß Wissenschaft nicht alles weiß. So etwas erwarten wohl nur bildungsfernere Schichten. Bei Lichte betrachtet nämlich ist Nicht-Wissen sogar eine ihrer Existenzbedingungen. Sogar das Bundesverfassungsgericht hatte 1973 schon Wilhelm von Humboldts Wahrheitsbegriff als „etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes“ zitiert, um dann später (1994) noch einmal zu bekräftigen: „Konstitutiv ist die Wahrheitssuche und die prinzipielle Unabgeschlossenheit des Erkenntnisprozesses.“ Total so!
Eine alte Professoreneinsicht dagegen besagt: Wer schreibt, der bleibt! In der angelsächsischen Variante klingt das noch drastischer: publish or perish – schreibe oder gehe unter!
Die modernisierte Variante dieser Einsicht scheint dagegen zu lauten: Wer nicht schreit, der geit. Dabei übersetzt sich das norddeutsche ›geit‹ mit ›gehen‹, aber auch mit ›sterben‹ oder eben ›untergehen‹. Schreien statt schreiben, also. Ob das aber eine gottgefällige Entwicklung ist, wagt Bolle schwer zu bezweifeln. Heißt es doch bei Jesaja, dem ersten der prophetischen Bücher des Alten Testaments: Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen. (Jes. 42, 2). In ›De Bibl auf Bairisch‹ klingt selbiges noch eindringlicher: Dös ist kain sölcherner Schreier, der wo auf dyr Straass umaynanderplerrt. Einen Vers zuvor heißt es dort: Siehe, das ist mein Knecht – ich erhalte ihn – und mein Auserwählter, an welchem meine Seele Wohlgefallen hat. (Jesaja 42, 1). Bolle meint, aus all dem sollte man durchaus schließen dürfen, daß der Herr (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) wenig Gefallen an Schreihälsen findet.
Kurzum: Ein bißchen mehr Dehybrierung – Bolles neue Wortschöpfung: von Hybris ›frevelhafter Stolz, Übermut, frevelnde Selbstüberhebung‹ (DWDS) – stünde manchem Wissenschaftler prächtig zu Gesichte. Genaugenommen dem ganzen System einschließlich des gesamten angekoppelten Journalismus 2.0. Bolle sagt da nur: Corönchen! Allein in diesem Jammertale ist so manches nicht so, wie es sollte. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel – und soll uns nicht die Weihnachtszeit verdrießen.
