
Eigentlich sollte das heutige Schildchen ja schon in unseren agnostisch-kontemplativen Adventskalender vor zwei Jahren Eingang finden. Allein: ars longa vita brevis – lang ist die Kunst, kurz der Kalender. Diesmal aber paßt es aufs Feinste zu unseren Türchen der letzten Tage: Wer nicht schreit, der geit – wie wir uns veranlaßt gesehen hatten festzustellen. Zwar gilt lautes Lärmen nicht gerade als wissenschaftliche Kardinaltugend. Allein die Verhältnisse sind nun mal so.
Und soll nicht auch Martin Luther (1483-1546) schon, eine seiner vielen Reden einleitend, proklamiert haben: ›Mach’s Maul auf, tritt fest auf, hör bald auf‹? Namentlich die ersten beiden dieser Punkte scheinen sich bei manchem Wissenschaftler ins kollektive Credo eingefressen zu haben.
Bolle hatte sich als Oberstufenschüler schon gefragt, wie es sein kann, daß manche Wissenschaften, allen voran die Physik, von Erfolg zu Erfolge eilen, während andere Disziplinen – allen voran zum Beispiel Erziehungswissenschaften, Soziologie, und manches andere mehr – hilflos auf der Stelle oszillieren. Genderforschung und dergleichen – doch dies nur am Rande – gab’s damals noch nicht. Mehr als ephemere Moden vermochte Bolle in derlei schon damals nicht zu erkennen. Und daran hat sich nichts geändert. Im Gegenteil: schlimmer geht immer.
Woran wird’s wohl liegen? Heute unterscheidet man in Bolles Kreisen streng zwischen Repro- und Non-Repro-Disziplinen. Dabei sind Repro-Disziplinen solche, in denen man so lange und so hartnäckig ein und dieselbe Frage an die Natur stellen kann, bis sie geneigt ist nachzugeben. Wenn also jemand – wie Galileo (1564–1642) das getan hat – eine Kugel so lange schiefe Ebenen verschiedener Neigungswinkel herunterrollen läßt, dann wird irgendwann klar, wie die Dinge sich verhalten. Und wer’s nicht glauben mag, der kann das gerne überprüfen. Kurzum: wir reden hier von kurzen Feedbackschleifen.
In den Non-Repro-Disziplinen ist das anders. Hier ist es praktisch unmöglich, ein und dieselbe Versuchsbedingung jemals wieder zu reproduzieren. Wenn also, um mal ein ausgesprochen tragisches Beispiel herauszugreifen, ein Karl Marx (1818–1883) meinte, wenn dies oder jenes geschehe, dann werde sich dies oder jenes ergeben. Kaum war die Tinte trocken, hatte sich die Welt schon weitergedreht – und alles war vergebens. Vanitas – eitler Schein! Alles, bis auf die Wirkungsmacht solcher Ideen. Heute, fast 200 Jahre später, meint so manches Hülsenfrüchtchen immer noch, da müsse doch was dran sein an der Lehre.
Natürlich soll Karl Marx nur exemplarisch sein, of course. Am Prinzip – tröten, ohne wirklich was zu wissen – ändert sich aber nichts, wenn zum Beispiel jemand behauptet, das Licht sei verantwortlich für die Insomnie bei Vollmond oder Ballaststoffe seien reiner Ballast. Das Prinzip ist gleich – nur die Wirkungsmacht ist nicht so drastisch.
Obwohl: wenn Bolle die geradezu kultische Hingabe betrachtet, mit der manche – sagen wir: Veganer – im Labor angerührte Plempe goutieren oder weite Kreise meinen, ein Jahrmillionen altes Immunsystem mal eben flott „optimieren“ zu können, ist er sich da gar nicht mal mehr so sicher, was die Wirkungsmacht angeht. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.
