So 28-07-24 Mappa mundi vitiosa

Mappa mundi vitiosa.

Bei manchem, was die lieben Mitmenschen im allgemeinen und die politische Klasse im besonderen so treiben, könnte man glatt von schierer Bosheit ausgehen. Von finsterer Gesinnung, gar. Allein da ist Hanlons Heuristik vor – eine Finderegel zur Erkenntnisgewinnung, derzufolge man es regelmäßig erst einmal mit der Annahme von klassischer Dummheit probieren sollte. Erst, wenn Dummheit allein das Verhalten nicht hinreichend erklären kann, sollte man Bosheit in Betracht ziehen.

Als aufgeschlossene Agnostiker allerdings wollen wir zunächst die Begriffe klären. Dabei sei unter ›Dummheit‹, wie stets, das kognitive Unvermögen verstanden, Gegebenheiten bzw. Zusammenhänge zu erkennen. Man könnte auch sagen, Dummheit ist eher spärlich entwickelte prognostische Kompetenz: Jemand tut etwas, ohne vernünftig abschätzen zu können, wohin das führen wird. Hinterher, wenn das Kind dann im Brunnen liegt, gibt es regelmäßig die üblichen langen Gesichter: Das haben wir nicht gewollt – das haben wir nicht wissen können. Bolle meint: Hättet ihr wohl.

Bei ›Bosheit‹ gestalten sich die Dinge etwas schwieriger. Vom Wortstamm her hat Bosheit mit ›böse‹ zu tun. Da Bolle aber nicht so recht an Gut und Böse glauben mag (vgl. dazu etwa So 16-06-24 Ein Hauch von Hollywood), hilft uns das nicht weiter. Ergiebiger ist da Adam Smith. Gleich eingangs seiner ›Theorie der ethischen Gefühle‹ (1759) heißt es:

Mag man den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht, als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein.

Nennen wir dieses Vergnügen ›Wohlwollen‹, dann bietet sich als Gegenstück ›Übelwollen‹ geradezu an. Bosheit wäre demnach Übelwollen – das Vergnügen also, Zeuge davon zu sein, wie es anderen schlechtgeht – regelmäßig verbunden mit der Bereitschaft, dem gegebenenfalls ein wenig nachzuhelfen.

Noch viel weitreichender als schlichte Dummheit ist allerdings das, was Bolle Mappa mundi vitiosa, also kaputte Weltkarte, zu nennen pflegt. Dabei handelt es sich um nichts weiter als die Welt III, also das Weltbild, das sich einer (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) im Laufe der Zeit zu eigen gemacht hat und das er mit schönster Regelmäßigkeit mit Welt I, also der Welt, konfundiert. Dabei dürfen wir nie vergessen, daß Welt III handlungsleitend ist. Um dem geneigten Leser das virtuelle Blättern zu ersparen, sei das Drei-Welten-Modell hier noch einmal abgebildet.

Wer also – um nur ein einziges Beispiel herauszupicken – eine Aussage wie etwa „Die Vereinigten Staaten sind unser Freund“ mit einem überzeugten „Yes, of course“ beantworten kann, wird ein anderes Verhalten an den Tag legen als jemand, der das nicht so sieht. Statt sich also über Bosheit oder zumindest Dummheit zu echauffieren, macht sich Bolle zunehmend einen Spaß daraus zu erkunden, welche Glaubenssätze einem gegebenen Verhalten wohl zugrundeliegen mögen – weil es anderenfalls schlechterdings unerklärlich wäre.

In absoluten Härtefällen, wenn also die Erklärungskraft einer Mappa mundi vitiosa verblaßt, spricht Bolle auch gerne von Mappa mundi friata – also einem vollends zerkrümelten Weltbild. Das einzige, was eine solche Karte noch zusammenhält, ist der unerschütterliche Glaube der Personen oder Organisationen, die sich ihrer – aller Fehlschläge im wirklichen Leben zum Trotze – unverdrossen und beherzt bedienen. Schließlich läßt sich die Welt nicht nur schönsaufen, sondern geflissentlich auch schönsäuseln. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 21-07-24 Viva il bene – Es lebe das Gute!

Wenn der Milchmann zweimal klingelt.

Eigentlich sollte es uns heute ja um den möglicherweise künftigen Präsidenten der Vereinigten Staaten gehen und den geradezu filmreifen Schuß ins Ohr. Allein – was heißt hier filmreif? Jeder seriöse Drehbuchautor hätte so etwas, falls es ihm denn eingefallen wäre, wohl stante pede als zu unrealistisch in den Papierkorb geknüllt. Nun denn – ein andermal.

Dafür wollen wir ein Streiflicht auf ego-geboosterte Weltverbesserungsanmaßungen werfen, wie sie in den letzten Jahren zunehmend um sich greifen. Mehr als streifen wird dabei nicht möglich sein. Dafür ist das Thema zu monströs. Aber es ist ja noch nicht aller Tage Abend.

Wollte man – rein zur Orientierung – die hier gemeinte Entwicklung an einem Datum festmachen, dann wäre 1999 vielleicht nicht die schlechteste Wahl. Damals gab der seinerzeit amtierende Außenminister die Losung aus: „Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz.“ Also doch wieder Krieg! Zwar hat er das so nicht zu Ende gesagt – aber genau das war gemeint. Und schon waren wir im Namen des Guten in einen – heute würde man sagen – völkerrechtswidrigen Angriffskrieg im Kosovo verstrickt.

Muß man zuweilen böse sein, um Gutes zu bewirken? Oder kann man sich dabei nur böse in die Tasche lügen?

Jürgen Habermas hat seinerzeit in der ZEIT einen Beitrag zum Thema verfaßt und kommt dabei fast notwendigerweise auf Carl Schmitt, den ebenso umstrittenen wie wirkungsmächtigen Staatsrechtler des 20. Jhd. Der meinte seinerzeit, der naturwüchsige Kampf der Nationen sei, wenn schon nicht schön, so doch unvermeidbar. Allerdings solle man darauf achten, daß das nicht auch noch in einen heillosen „Kampf gegen das Böse“ ausarte. Wenn man sich also aus rein naturgegebenen Gründen schon bekriegen muß, dann doch bitteschön wenigstens sine ira et studio (ohne Zorn und Eifer) – also jedenfalls ohne übertriebenes moralisches Gedöns.

In diesem Zusammenhang meint Habermas, wenn, so wörtlich, „terroristische Zweckentfremdung staatlicher Gewalt“ aus einem Bürgerkrieg ein Massenverbrechen mache, dann sei es nur gerecht, den jeweiligen Verantwortlichen ordentlich auf die Mütze zu geben – herkömmliches Völkerrecht hin oder her.

Und da, wo immer gehobelt wird, sprichwörtlich auch Späne fallen, ist der ein oder andere „Kollateralschaden“ natürlich nicht zu vermeiden. Immerhin waren die Leute damals noch auf einem zivilisatorischen Niveau, das ihnen nahelegte, selbiges zum Unwort des Jahres zu küren.

So richtig überzeugt ist Bolle von all dem bislang nicht. Im Gegenteil: Bolle fragt sich, was eigentlich passiert, wenn man den ganzen Schlamassel auf innenpolitische Zusammenhänge überträgt.

Darf ein Politiker (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course), der (zwar nicht wirklich, aber doch angeblich) vom Volke gewählt und damit eben nicht – wie manche meinen – dessen Häuptling ist, sondern vielmehr dessen Diener, und sich dabei verpflichtet fühlen sollte, des Volkes Nutzen zu mehren und Schaden von ihm zu wenden – darf ein solcher Politiker mit seinem Tun auch nur in die Nähe möglicher Zweckentfremdung staatlicher Gewalt geraten? Bolle meint ja eher Nein. Auch nicht im Namen des Guten – etwa um dem „Gedanken der Völkerverständigung“ Geltung zu verschaffen. Gutgemeinte Weltoffenheit kann nämlich sehr leicht umschlagen in regelrechte Welt b e s offenheit.

Der Weg zur Hölle ist nun mal nicht nur mit guten Vorsätzen, sondern wohl auch mit guten Absichten gepflastert. Und ungelernte Fachkräfte machen die Sache nun mal nicht gerade besser. Womit wir umstandslos bei Dörner wären (vgl. Fr 23-04-21: Vive la France!):

Meines Erachtens ist die Frage offen,
ob ›gute Absichten + Dummheit‹
oder ›schlechte Absichten + Intelligenz‹
mehr Unheil in die Welt gebracht haben.
Denn Leute mit guten Absichten
haben gewöhnlich nur geringe Hemmungen,
die Realisierung ihrer Ziele in Angriff zu nehmen.

Was Churchill hier Demokratie nennt, wäre nach unserer Begrifflichkeit allerdings eher ein Verfassungsstaat – also ein Staat, der nicht nur demokratisch und rechtsstaatlich organisiert ist, sondern auch wirksame Mechanismen gegen staatliche Übergriffigkeiten kennt – also in etwa das, was namentlich die Angelsachsen seit dem 18. Jhd. liberale Demokratie nennen. Zu wissen, es ist nur der Milchmann, wäre manchem schon so manches wert. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 14-07-24 Die Welt ist ein Werden

Sein oder Werden – das ist hier die Plage …

Neulich saß Bolle zu ganz unbürgerlich später Stunde unter dem Fernsehturm am Alexanderplatz. Panoramablick aus der Froschperspektive, kam es ihm in den Sinn. Zwar konnte er sich lebhaft vorstellen, wie fern man sehen kann vom Fernsehturm. Allein er saß ja schließlich nur bei Fuße. Buch und Bier hatten sich in jener Nacht in einem Gläschen Dornfelder trocken und Ralf Ludwigs ›Sternstunden der Religion‹ materialisiert.

Bolle glaubt ja grundsätzlich erst mal gar nichts – eine Haltung, die, wie er findet, einem Agnostiker nicht schlecht zu Gesichte steht. Gleichwohl: man wird und soll sich ja dürfen anregen lassen. Und so hieß es im Abschnitt über Gautama, der Buddha habe die Idee eines absoluten Seins zurückgewiesen – aber auch die Idee eines absoluten Nicht-Seins. Es sei das Werden, das die Welt ausmache.

Kurzum: die Welt ist ein Werden. Das kam Bolle sehr entgegen. Hält er doch jedwede Vorstellung von Absolutem, in welcher Form auch immer, für, gelinde gesagt, kognitiv unterbelichtet. Bolle glaubt ja nicht einmal an etwas so Vertrautes wie eine absolute Masse. Vgl. dazu So 30-06-24 Die Wirklichkeit, die Wirklichkeit trägt wirklich ein Forellenkleid).

Während also Descartes 1641 schon die Tatsache, daß er denkt, für einen unumstößlichen Beweis seiner Existenz hielt – cogito ergo sum (ich denke, also bin ich) –, meint Bolle, daß die Tatsache, ein Teil des Werdens dieser Welt zu sein, ein noch viel unumstößlicherer Beweis der eigenen Existenz sein sollte: accido ergo sum (ich komme darin vor – also bin ich).

Wenn aber Sein oder Nicht-Sein allein eine Frage der Perspektive ist, dann müssen und dürfen wir uns deutlich weniger Sorgen machen: Was einmal ist, bleibt Teil des Werdens – heute und für immerdar. Es kommt halt nichts weg in diesem Universum. Selbst das, was nicht ist, kann noch werden – wie der Volksmund scherzhaft weiß.

Warum dann die ganze Spannung? Weil es das Leben so spannend macht? Wohl kaum. Bolle glaubt eher, daß wir es hier mit einer regelrechten conditio universalis zu tun haben – einer Gegebenheit des Daseins an sich. Leben heißt Leiden – wie Buddha das schon in der allerersten seiner edlen vier Wahrheiten ausdrückt.

Wenn die Herdplatte zu heiß ist, zucken die meisten zurück. Wenn der Magen zu leer ist, stellt sich regelmäßig schlechte Laune ein. Das aber ist allein eine Frage der Homöostase. Physiologisch zeigt sich das darin, daß Lebewesen bestrebt sind, unerwünschte Wahrnehmungen zu vermeiden. Affektiv zeigt es sich darin, erfreuliche Dinge anzustreben und unerfreuliche möglichst zu meiden. Kognitiv schließlich zeigt es sich in einem Streben nach Ertrag und der Vermeidung von Aufwand – wie selbst Ökonomen wissen. Wer mag, mag sich unter diesem Aspekt noch einmal das Drei-Welten-Modell anschauen (vgl. So 07-07-24 Böse Buben). Wir reden hier von Welt II, der Welt der Wahrnehmung und Bewertung – also der spontanen und unmittelbaren Einordnung jedweder Wahrnehmung in erwünscht, W(+), bzw. unerwünscht, W(–).

Daraus erklären sich ohne weiteres auch die Versuche der verschiedensten Religionen bzw. philosophischen Richtungen bis hin zur Stoa, dem Leiden ein Schnippchen zu schlagen, indem man es einfach ignoriert.

Die gute Nachricht: Mit Sein oder Werden hat das alles wenig zu tun. Auch wer das Leiden nicht überwindet – wer von hinnen scheidet gar – ist unverbrüchlicher Teil des Werdens dieser Welt, und als solcher unkaputtbar, immerdar. Oder, um das Motto der Olympischen Spiele zu zitieren: Dabei sein – bzw. dabeigewesen zu sein – ist alles. Das stimmt zwar nicht ganz – ist an dieser Stelle aber bestmöglich tröstlich. Also entspannt Euch. Oder, um im Bilde zu bleiben: Wird schon … Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 07-07-24 Böse Buben

Wir schaffen das! Denkste!

Nach dem vielleicht etwas haarigen Beitrag vom letzten Sonntag wollen wir uns heute wieder etwas leichterer Lektüre widmen. Immerhin ist sie inhaltlich verdrießlich genug.

Mittlerweile ist es fast ein Jahrzehnt her, daß die damalige Bundeskanzlerin 2015 ein ebenso fröhliches wie unsubstantuiertes ›Wir schaffen das!‹ als Losung unters Volk geworfen hatte. Deutschland sei ein starkes Land, habe schon so vieles geschafft – und werde wohl noch viel, viel mehr schaffen, und dergleichen mehr. Dabei hatte sie – das läßt sich nicht leugnen – erhebliche demoskopische Rückendeckung beim Volke. Das Fußball-Sommermärchen von 2006 war seinerseits erst knapp ein Jahrzehnt her. Man feierte mit Wohlbehagen das Gefühl, endlich und endgültig auf der Seite der Guten angekommen zu sein: heiter, weltoffen und allgemein ganz lieb. Was paßt da besser ins Bild als eine kräftige Prise Willkommenskultur?

Manche meinen ja, die Deutschen seien übertrieben begeisterungsfähig. Angelsachsen nennen das zuweilen gar hysterisch. Wie so oft wird sich auch hier ein Körnchen Wahrheit finden lassen. Bolle für sein Teil erklärt sich das ja schlicht mit Glühwürmchen-Emphasis: großes Herz, nicht ganz so großes Hirn, zuweilen.

Andere dagegen haben sehr frühzeitig dagegengehalten. Auf den Punkt gebracht hat es wohl Peter Scholl-Latour: Wer halb Kalkutta aufnehme, werde nicht etwa Kalkutta retten, sondern selber zu Kalkutta werden. Bolle meint, die Mischung macht’s, und paraphrasiert dabei gerne Paracelsus: Die Dosis – und nicht etwa die Substanz – entscheidet über Wohl und Wehe. Vgl. dazu auch Mo 28-12-20 Corönchen-Portiönchen oder die Geschichte vom warmherzigen Samariter (Mo 11-11-19 Proportionen).

Hier und heute wird man sich fragen dürfen – oder gar fragen müssen: Wem ist ein höheres Maß an prognostischer Kompetenz – verstanden als die Fähigkeit bzw. das kognitive Vermögen, die wesentlichen Konsequenzen seiner Entscheidungen nebst allfälliger Nebenwirkungen zu überblicken – zuzugestehen? Der Alt-Kanzlerin oder dem weitgereisten alten weisen Mann?

Von krassen Entgleisungen wie Messerstechereien und Gruppenvergewaltigungen einmal abgesehen zeigen sich die „Nebenwirkungen“ auch im Kleineren: Wer in bislang ungekannt schneller Folge mehrere Einbrüche oder regelrechte Raubdelikte in seiner unmittelbaren Nachbarschaft bzw. Bekanntschaft erleben mußte, wird den üblichen Tilgungen bzw. Beschwichtigungen des Journalismus 2.0 nur noch wenig Glauben zu schenken geneigt sein.

Sind also alle Zugereisten Verbrecher? Natürlich nicht. Wenn aber von, sagen wir, 1 Mio Leuten, die hier wirklich nichts zu suchen haben, nur winzige 1% zu den bösen Buben (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) zählen, dann sind das immerhin 10.000. Und wenn die nur 1 mal pro Woche unangenehm auffallen, dann macht das eine halbe Million schwere Straftaten pro Jahr. Mehr als genug, könnte man meinen. Womit wir wieder bei Paracelsus wären. Und irgendwann fallen die Leute halt vom Glauben ab. In der Presse heißt es dann: Sie radikalisieren sich – nur weil sie nicht willens sind, diejenigen, die diese Entwicklung nicht nur protegieren, sondern nachgerade klasse finden („Ich freu‘ mich drauf“), mit ihrer Stimme auch noch demokratische Legitimität zu verleihen, und dabei nicht träge genug, einfach zu Hause zu bleiben.

Damit aber entfernen wir uns von der prognostischen Kompetenz, die sich ja auf Prognosen und damit auf die Zukunft bezieht. Hier haben wir es schon mit einem veritablen Mangel an schierer Urteilsfähigkeit zu tun. Aber wie Bolle das zuweilen auszudrücken pflegt: Das Weltbild stirbt zuletzt. Damit meint er natürlich Welt III, of course.

Zunächst aber wird das, was einer wahrnimmt, nach Kräften ignoriert und idealisiert, was das Zeug hält. Erst wenn‘s gar nicht mehr geht, folgen die üblichen langen Gesichter: „Das haben wir nicht gewußt“ beziehungsweise, perfider noch, „Das haben wir nicht wissen können“. Bolle meint: hättet ihr wohl. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 30-06-24 Die Wirklichkeit, die Wirklichkeit trägt wirklich ein Forellenkleid

Theorie und Empirie — nicht ohne Interpretation.

Hier zur Abwechslung mal wieder ein Beitrag aus Bolles Bildungsprogramm. Man kann sich ja nicht immer nur um den Unfug kümmern, mit dem die Polit-Apparatschiks dieser Welt meinen, selbige in einen besseren Ort verwandeln zu müssen.

Keine Sorge. Wir müssen das Bildchen nicht völlig verstehen – vor allem nicht die Formel. Sie sagt einfach nur aus, daß die Masse eines Körpers mitnichten konstant ist, sondern daß sie mit der Geschwindigkeit, mit der der Körper sich bewegt, zunimmt. Das allein ist erstaunlich genug. Newton jedenfalls war das noch nicht klar. Demnach wäre jemand (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course), wenn er mit einem Affenzahn durch die Gegend düst, schwerer (i.S.v. massereicher) als wenn er nur bräsig im Liegestuhl läge. Allerdings – und da kommen wir schnell wieder auf den Boden der Alltagserfahrung – müßte sich derjenige schon mit 40% der Lichtgeschwindigkeit bewegen, um auch nur 10% schwerer zu werden (siehe das Pünktchen in der Graphik). Die meisten von uns werden ein solches Tempo allerdings kaum jemals erreichen, of course.

Aber von praktischen Erwägungen einmal ganz abgesehen. Hier soll es uns um die drei Hauptzutaten jeglicher Wissenschaft gehen. Da hätten wir als erstes die Empirie. Im Grunde handelt es sich dabei um ein Frage/Antwort-Spiel zwischen Welt I („alles, was der Fall ist“) und Welt II (die Welt der Wahrnehmung und Bewertung) mit der Erkenntnis der „Fakten“. Als nächstes hätten wir in Welt III (dem Weltbild, das einer für zutreffend hält) die Theorie als Destillat aus der Fülle der Fakten: So ist es nun mal! Ob das auch stimmt, wissen wir allerdings nicht. Zum Drei-Welten-Modell vgl. übrigens am besten So 26-05-24 Das bessere Argument.

Nun ist es so, daß der Zusammenhang zwischen Masse und Geschwindigkeit von Einstein schon 1905 in seinem Aufsatz ›Zur Elektrodynamik bewegter Körper‹ im Kern postuliert und seitdem auch tausendmal empirisch bestätigt wurde. Es ist also so!

Allein, was soll das bedeuten? Hier kommen wir zur dritten im Bunde, der Interpretation. Die Interpretation führt, wie’s scheint, ein geradezu stiefmütterliches Dasein in der Welt der Wissenschaften.

So geht die G’schicht, man könne leider, leider das Universum wegen der Gegebenheit Lichtgeschwindigkeit nicht so recht bereisen. Wenn nämlich ein Raumschiff sich der Lichtgeschwindigkeit nähere, dann – so die G’schicht – steigere sich dessen Masse ins Unendliche, und damit auch die zum Antrieb benötigte Energie. Unendlich viel Energie aufzubringen aber sei rein technisch nun mal unmöglich. Also auch Reisen in ferne Gefilde.

Soweit klingt das plausibel. Aber ist es auch wahr im weiteren Sinne? Ein Blick auf die Graphik zeigt uns – und hier sind wir bei der Interpretation von Empirie und Theorie –, daß wir ja mitnichten mit Lichtgeschwindigkeit fliegen müssen. Bei zum Beispiel „nur“ 87% Lichtgeschwindigkeit kommen wir gerade einmal auf die doppelte Masse (vgl. dazu wieder das Pünktchen in der Graphik). Das aber dürfte technisch ohne weiteres beherrschbar sein. Demnach würde eine Reise zu beispielsweise Proxima Centauri – dem nächsten Stern im Universum – nicht 4 Jahre und 3 Monate dauern, sondern eben 4 Jahre und 11 Monate. Bolle findet: die 8 Monate machen den Kohl dann auch nicht mehr fett.

Das Problem ist also nicht die Unmöglichkeit, unendliche Energie aufzubringen, um ein bei Lichtgeschwindigkeit unendlich schweres Raumschiff anzutreiben. Das Problem ist vielmehr die Gegebenheit der Lichtgeschwindigkeit an sich. Das aber ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht. Soweit also zur Interpretation gegebener „Fakten“ bei gegebenem theoretischem Schliff. Die Welt ist voll von derlei, übrigens: Corönchen, Ukraine, Klima … – you name it. Überall führen die nackten Fakten zu nichts als Verwirrung.

Bolle hat sich nach einigem Hin und Her übrigens entschlossen, den schlichten Begriff ›G’schicht‹ zu verwenden, wo andere von ›Erzählung‹ oder gar von ›Narrativ‹ fabulieren. Gemeint ist damit stets das gleiche: Ein Deutungsmuster aus der unübersichtlichen Fülle der Erscheinungen. Thomas S. Kuhn hat in seinem Werk ›Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen‹ dafür übrigens 1962 schon den Begriff ›Paradigma‹ verwendet. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 23-06-24 Vertrauenskrise? Schaffenskrise!

Ranking.

Um unsere Europa-Wahlen langsam, aber sicher ausklingen zu lassen, hier ein vorläufig letzter Schweif ins Thema. Diese Woche untertitelte eine Qualitätszeitung: Die Deutschen haben kaum noch Vertrauen in die Ampelregierung. Das „kaum“ übrigens hält Bolle für einen regelrechten Euphemismus. Doch das nur am Rande. Interessanter ist das Vertrauen an sich.

Technisch gesehen handelt es sich bei ›Vertrauen‹ um ein Element aus Welt III (vgl. dazu So 26-05-24 Das bessere Argument): Mangels besserer Möglichkeiten modelliert man sich ein Bild – in diesem Falle von der Regierung. Ob das halbwegs stimmt? Wer weiß. Allein das Bedürfnis nach Orientierung als Motiv jedweder Modellierung können wir sicher unterstellen. Schließlich handelt es sich dabei um eines der kognitiven Grundbedürfnisse. Auch können wir davon ausgehen, daß ein einmal modelliertes Bild zur Selbststabilisierung neigt: Informationen, die nicht ins Bild passen, werden entweder gar nicht erst wahrgenommen – oder weltbildstützend gedeutet bzw. umgedeutet.

Eine tatsächliche Weltbild-Änderung dagegen braucht entsprechend Zeit. Zumindest geschieht sie nicht über Nacht: Das Wahlvolk ist träge. Bolle fühlt sich hier an ein Bonmot erinnert, das verschiedensten Autoren zugeschrieben wird. Vermutlich handelt es sich dabei einfach nur um eine schlichte Volksweisheit:

Man kann alle Leute für einige Zeit, und einige Leute für alle Zeit an der Nase herumführen – aber nicht alle Leute für alle Zeit.

Unsere Qualitätszeitung jedenfalls fragt: Wer also stellt das Vertrauen in das System wieder her, dem die Deutschen Freiheit, Demokratie und Wohlstand verdanken?

Dahinter steckt zunächst einmal die Grundannahme, daß „das System“ im Kern ja wohl gut ist – und schon von daher bewahrenswert. Zweitens, und zwar versteckter, steckt dahinter die Idee, daß man so etwas wie ›Vertrauen‹ einfach nur „wiederherstellen“ muß – und schon wird alles wieder gut.

Bolle vermutet allerdings eher eine veritable Schaffenskrise. Schaffenskrise statt Vertrauenskrise. Das Problem wäre demnach weniger, daß dem Volke (empfängerseitig) sein Vertrauen flöten geht. Das Problem wäre eher, daß der Regierung (senderseitig) nicht genug einfällt, um das Volk von sich und ihren Vorhaben zu überzeugen.

Zugegeben: Die Idee, man müsse dem Volk das eigene Tun nur gut genug erklären, und alles würde gut, hat sich in gewissen Kreisen ziemlich breitgemacht. Angefangen hat das wohl 2015 mit Merkels seinerzeit frisch eingerichtetem „Nudging“-Team. Dabei ist Nudging – wörtlich anstupsen – nur ein freundlicher klingendes Wort für regierungsseitig angestoßene gezielte Manipulation. Erklärtes Ziel dabei ist natürlich, das Glück der Bürger zu steigern, of course.  Bolle meint gleichwohl: Thanks, I’m fine.

In der Lutherbibel 1912 heißt es übrigens wörtlich: Also werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein (Matth. 20, 16). Allerdings nicht ohne hinzuzufügen: Denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt. Daß sich so mancher (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) zu hohen und höchsten Taten zumindest berufen fühlt, liest man täglich in der Zeitung. Ob dieses Gefühl, in welcher Weise auf immer, allerdings auch nur halbwegs hinreichend substantuiert ist, wird man schwer bezweifeln dürfen. Beim gegenwärtigen Zustand des Journalismus 2.0 muß man dazu allerdings schon schwer zwischen den Zeilen lesen – oder andere Quellen hinzuziehen. Darf man das denn? Aber Ja doch. Immerhin heißt es in Art. 5 I GG, daß jedermann das Recht habe, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Bolle sieht da allerdings noch mächtig Spielraum, was das „allgemein zugänglich“ angeht. Schließlich arbeitet man schon seit einiger Zeit – nicht zuletzt auf EU-Ebene – mit Fleiß daran, die Grenzen des Säglichen in einem als demokratie-kompatibel erachteten Rahmen zu halten – Verfassung hin oder her. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 16-06-24 Ein Hauch von Hollywood

Entrückt zerpflückt …

Nachdem wir letzten Sonntag auf das Wahlspektakel eingegangen waren, kann es nicht schaden, einen Blick auf das Ergebnis zu werfen. Erst wurde gewählt, dann wurde gezählt – und schließlich gab es lange Gesichter.

Unser Schildchen heute bezieht sich übrigens auf Josua Eiseleins ›Sprichwörter und Sinnreden‹ (1840). Dort heißt es: Mancher auf Stelzen ist für die Sache dennoch zu kurz (vgl. dazu Sa 02-01-21 Hype und Hybris).

Bolle meint, das läßt sich noch toppen. Für eine Sache „zu kurz“ zu sein, läßt sich ja durchaus noch sachlich verstehen: Einer (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) kann es einfach nicht. Das allein dürfte mächtig am Selbstwertgefühl kratzen. Ein kluger Mensch würde es mit Jesus Sirach halten und nicht nach dem streben, was nun mal zu hoch für ihn ist. Weniger kluge Leute – oder Leute, die gerade keine katholische Bibel zur Hand haben – reagieren anders: sie entrücken.

Was ist der Unterschied? Entrückt zu sein, heißt nicht nur, daß man für die Sache zu kurz ist – daß man es also schlichtweg nicht kann. Zudem schwebt der Geist des Entrückten in höheren Sphären und glaubt ganz dolle daran, daß doch alles seine Richtigkeit habe mit den Bestrebungen. Allein das Volk könne dem noch nicht ganz folgen. Folglich müsse man ihm die Dinge besser erklären, man müsse „die Menschen draußen im Lande“ mitnehmen in die Schöne Neue entrückt-verzückte Welt. Die Talkshows sind voll von derlei.

Übertrieben? Leider wohl nicht. Vor knapp einem viertel Jahrhundert war die Polit-Prominenz auf die grandiose Idee verfallen, die EU binnen zehn Jahren zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Passiert ist seitdem wenig – wenn überhaupt. Bolle war seinerzeit allein das „binnen zehn Jahren“ süß-säuerlich aufgestoßen. In dem Zeitraum kriegen die üblicherweise nicht mal eine Kita geplant und gebaut.

Bolle muß da immer an Churchill denken, der seinerzeit gemeint haben soll: Wie toll auch immer Deine Pläne sein mögen. Gelegentlich solltest Du einen Blick auf die Ergebnisse werfen.

Das allerdings geht sehr viel leichter, wenn man seiner Sache nicht allzu entrückt ist. Ansonsten bleibt wohl nur die Flucht ins Manichäische: Es gibt die Guten – zu denen man selbst selbstredend gehört. Und es gibt die Bösen, die einfach nicht hören wollen, was die Guten sagen, und die nicht folgen wollen, wenn die Guten munter voranpreschen. Dazwischen gibt es wenig – beziehungsweise rein gar nichts. Bolle findet in der Tat, das hat was von Hollywood.

Und so ist es nur natürlich, wenn sich die Guten unverbrüchlich gut finden, von den Bösen aufs Übelste bedroht und sie, falls nötig, „mit der ganzen Härte des Rechtsstaates“ zu bekämpfen trachten. Daß aber das Volk der Souverän ist – und nicht etwa die Guten im Lande – kann dabei leicht in Vergessenheit geraten. Das zeigt sich übrigens nicht zuletzt in so verräterischen Wendungen wie „unsere Demokratie“. Here’s a flash: Das ist mitnichten Eure Demokratie. Die Demokratie gehört – falls überhaupt irgendwem – dem Volk. Und was das Volk damit macht, ist ganz und gar nicht Euer Bier. Ihr seid Diener des Volkes – und keine Häuptlinge. Das hat schon Friedrich Zwo so gesehen. Und so steht es übrigens auch in der Verfassung (Art. 20 II S. 1 GG), sogar mit „Ewigkeitsgarantie“ (Art. 79 III GG). Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 09-06-24 Erst wählen, dann zählen

Auf, auf, Marsch, Marsch!

Gestern war Bolle bummeln zwischen Wochenmarkt und Konsumtempel. Derlei bietet sich schließlich an – des Sonnabends in der Früh. „Hier“ – streckte sich ihm eine Hand entgegen. In der Hand eine Handreichung zur heutigen Europawahl von irgendeiner Partei. Last-minute-Wahlkampf, ging es Bolle durch den Kopf, noch ehe die Hand ganz ausgestreckt war. Auch an Rilkes Herbsttag (1902) mußte er kurz denken: Wer jetzt gemein ist, wird es lange bleiben. „Mit Verlaub, junger Mann, aber Ihre Partei ist so ziemlich das letzte, was ich wählen würde.“ Der junge Mann indes zeigte sich professionell: „Das mag ja sein. Aber wichtig ist, daß Sie überhaupt wählen gehen.“ Dabei sind solche Empfehlungen zur rechten demokratischen Gesinnung natürlich nicht gerade das, was Bolle am frühen Morgen zu goutieren weiß – noch dazu von einem jugendlichen Jungspund. Aber Schwamm drüber. Immerhin wurde er nicht aufdringlich.

Zwei Dinge gingen Bolle durch den Kopf. Erstens: Wer am Vorabend einer Wahl noch nicht weiß, was er wählen wird, ist im demokratischen Gefüge vermutlich völlig falsch. Die Parteien – egal welche – hatten jahrelang Zeit, die Welt und vor allem die Wähler davon zu überzeugen, daß ihre Richtung die richtige ist. Wozu dann Wahlkampf auf den letzten Drücker? Umgekehrt gewendet: Wer am Vorabend einer Wahl immer noch umworben werden will, der sollte sich vielleicht fragen, ob er das nächste mal nicht vielleicht besser aufpassen mag und sich im Laufe der Zeit eine fundierte Meinung bilden möchte? Zweitens: Die aufrechten Demokraten brauchen ihr Wahlvolk wie der Pfaffe (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) seine Schäfchen. Schließlich muß alles seine gute Ordnung haben. Määh! Und in der Tat hat sich ›Demokratie‹ im Laufe der Zeit derart moralisch aufgeladen, daß sie nachgerade das Unterscheidungsmerkmal geworden ist zwischen den Guten und den Bösen. Schließlich gilt so manchem Hülsenfrüchtchen: Demokratie ist die Herrschaft der Guten (vgl. dazu So 06-12-20 Das sechste Türchen — Nikolausi …). Also tut man gut daran, ganz dolle daran festzuhalten. Also Hauptsache wählen gehen, wie der Jungspund meinte. Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel: So gilt etwa die Deutsche Demokratische Republik bis heute manchem als nicht wirklich demokratisch – obwohl der Name doch Programm sein sollte. Auch so manche „lupenreine Demokratie“ hat es wahrlich nicht immer leicht, von manchen als solche anerkannt zu werden. Umgekehrt sei hier an Jonas Jonassons ›Der Hundertjährige‹ (2009) erinnert und dabei an Amanda Einsteins ›Liberaldemokratische Freiheitspartei‹ – wo sich ihrer Ansicht nach die drei Begriffe „liberal“, „demokratisch“ und „Freiheit“  in einem solchen Zusammenhang doch sehr gut machten. Wer es etwas gründlicher mag, sei auf unsere fünfteilige Trilogie unter dem Schlagwort ›Schrat und Staat‹ verwiesen. Dabei empfiehlt es sich, chronologisch aufsteigend zu lesen – also umgekehrt wie angezeigt. Dort steht eigentlich alles, was man zur Vorbereitung auf die Stimmabgabe wissen muß – nicht zuletzt zum Stichwort ›Partizipations-Placebo‹.

Abschließend unterbrochen und ins zen-mäßige gewendet wurde der Gedanken Blässe schließlich am Erdbeerstand. Wie süß sie schmeckten! Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 02-06-24 Stramm auf Linie

Wahrlich ich sage Euch …

Heute können wir festhalten, daß der Wonnemonat Mai schon wieder zuende ist. Wir haben Juni. Das scheint – zumindest der üblichen Übereinkunft entsprechend – wahr zu sein. Allerdings handelt es sich hierbei auch um nichts Weltbewegendes. Heute ist halt der 2. Juni. So what?

Die Wahrheit, die ganze Wahrheit, und nichts als die Wahrheit – wie es bei Zeugenvernehmungen mitunter heißt, ist deutlich schwieriger zu fassen. Theoretisch streng genommen gar nicht (vgl. dazu unseren Beitrag von letzter Woche: So 26-05-24 Das bessere Argument). Was natürlich den Journalismus 2.0 – und hier in allererster Linie die sogenannten Faktenchecker – nicht davon abhält, sich selbst für im Inbegriff der reinen Wahrheit zu wähnen. Schließlich, so heißt es dann etwa, habe eine Studie selbiges ergeben. Ohne greifbare Studie tut es durchaus auch ein „Experte“, der im Gewande des Wissenschaftlers seine Meinung – mehr ist es meist nicht – als unumstößliches Faktum zum Besten gibt.

Wie wir ja wissen, gibt es immer vier Möglichkeiten. Man hält etwas für wahr – und die meisten anderen tun das auch (A1). Sozialpsychologisch unproblematisch. Ebenso verhält es sich mit B2. Interessant sind allein die Fälle A2 (Verschwörungsopfer) und B1 (Verblödungsopfer). Woher – das ist hier die Frage – nehmen die Linientreuen, also die A1-ler, ihre Zuversicht, daß sie im Vollbesitz der reinen Wahrheit sind und jeder, der die Dinge anders sieht, folglich (!) ein Verschwörungsopfer sein muß? Soviel Chuzpe muß man erst mal aufbringen. Bolle vermutet, daß das was mit kognitiver Kapazität zu tun hat. Aktuell etwa zeigt sich – langsam, aber immer sicherer –, daß so ziemlich alles, was uns während der Corönchen-Hysterie als reine Wahrheit aufgetischt wurde, sich als alles andere als wahr erwiesen hat. Die angeblichen Verschwörungsopfer hatten – leider kann man das kaum anders sagen – durch die Bank Recht.

Daraus könnte man was lernen. Könnte. Tut man aber nicht. Zur Zeit werden uns stramm linientreu die nächsten ultimativen Wahrheiten aufgetischt. Und jeder, der das nicht glauben mag, ist ein Verschwörungsopfer, of course.

Im Grunde könnten – beziehungsweise sollten sogar – an dieser Stelle irgendwann mal Lernprozesse einsetzen. Tun sie aber nicht. Das übrigens ist ein Punkt, der sehr für Bolles ›Mangelnde kognitive Kapazität‹-Theorem spricht.

Übrigens scheint es so zu sein, daß die Leute, die so verbissen an ihrem Zipfelchen Wahrheit hängen – beziehungsweise dem, was sie dafür halten –, genau die gleichen Leute sind, die völlig humorabstinent durchs Leben laufen. Beides nämlich scheint eine gewisse mentale Offenheit vorauszusetzen, die einem in diesem Universum leicht flötengehen kann. Um das zu erläutern, müßten wir unser Wirklich-Wahr-Schema allerdings auf 9 Felder erweitern (vgl. dazu etwa Fr 10-12-21 Das zehnte Türchen …). Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 26-05-24 Das bessere Argument

Die Welt in nuce

Man hat es wirklich nicht leicht. Aber umgekehrt kann es furchtbar leicht passieren, daß es, tout au contraire, einen hat. Wie nicht zuletzt in unserer kleinen Veranschaulichung der ganz grundsätzlichen Gegebenheiten einer Welt in nuce (im Nußschälchen, sozusagen) zu sehen ist.

Bei Welt I handelt es sich, in Wittgensteins Worten, um „alles, was der Fall ist“ – also wirklich einfach alles. Damit ist Welt I ebenso vollständig wie undurchsichtig. Eine black box also im besten Sinne des Wortes. Man kann handelnd auf sie einwirken und man kann, in Welt II, ihre Reaktionen wahrnehmen. Man kann aber nicht reingucken – und damit niemals wirklich wissen, wie es um sie steht. Im übrigen würde einem, wenn man es doch könnte, vermutlich unversehens der Schädel platzen.

Bei Welt III handelt es sich um das Weltbild, das einer (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) mit sich durchs Leben trägt und das sein Handeln, also seinen Umgang mit der Welt, bestimmt. Das Ziel ist dabei regelmäßig eine Zustandsverbesserung bzw. zumindest die Vermeidung einer Verschlechterung. Ökonomen nennen derlei Nutzen- bzw. Gewinnmaximierung, Max Weber nennt es Gesinnungs- bzw. Verantwortungsethik, wieder andere nennen es neuerdings Self-Optimization, und so weiter, und so fort.

Wie kommt die Welt III zustande? Nun, im Grunde ist sie das Destillat aller jemals wahrgenommenen und in erwünscht (W+) bzw. unerwünscht (W) eingeteilten und bewerteten Sinneseindrücke in Welt II. Welt III ist also das Ergebnis einer Modellierung und verläuft obendrein überwiegend unbewußt. Gleichwohl neigen die meisten Leute dazu zu meinen, die Welt sei nun mal so – nur weil sie sie sich so ausgedacht haben.

Nehmen wir – weil es dieser Tage naheliegt – die Wahlen zum EU-Parlament. Die einen halten die EU für einen dysfunktionalen Hirnfurz, der von Anfang an nie hat funktionieren können, tatsächlich noch nie funktioniert hat und auch zukünftig niemals funktionieren wird. Andere wiederum halten, tout au contraire, die EU für eine hochwohllöbliche Angelegenheit, die es nach Kräften zu stärken gelte.

Da beide Positionen nur schwerlich in Einklang zu bringen sind, befehden sich die Vertreter beider Lager bis aufs sprichwörtliche Messer und sprechen einander wechselweise den nötigen Verstand ab beziehungsweise zumindest die Fähigkeit, derlei überhaupt beurteilen zu können.

Und? Wer hat Recht? Die Antwort ist ebenso schlicht wie ergreifend: Wir wissen es nicht. Bei Geschichte im Allgemeinen und der EU im Besonderen handelt es sich um einen Such- und Finde-Prozeß mit völlig offenem Ausgang. Was funktioniert, hat Recht. Was nicht funktioniert, mendelt sich aus – und sei es noch so moralisch hochstehend. Letzteres wiederum würden manche als „Sozialdarwinismus“ weit von sich weisen wollen. Auch hier also wieder: Welt III in voller Aktion.

Was die Leute allerdings nicht davon abhält, sich auf die Suche nach dem „besseren Argument“ zu begeben – als ob man jemanden, der nun mal in einer alternativen Welt III lebt, ausgerechnet mit Argumenten eines Besseren belehren oder gar bekehren könnte.

Neulich etwa hat eines dieser Faktenchecker-Portale – das sind Leute, die meinen, daß man die Wahrheit ausrechnen und erkennen kann, wenn einem nur genügend Fakten vorliegen – eine KI gefragt, ob ein gegebenes Land eine „Diktatur“ sei. Die Antwort der KI: das hänge von der Definition ab. Da war natürlich die Empörung groß. Man gibt sich alle Mühe und zimmert sich in seiner Welt III die Vorstellung zurecht, daß besagtes Land selbstverständlich eine Diktatur sei und bittet dann eine KI – wohl eher teils der Form, teils der Bestätigung halber – um entsprechende Rückmeldung. Und dann sowas. Das hänge von der Definition ab. Da muß man sich ja verärgert fühlen. Alternativ könnte man allerdings noch auf die Idee kommen, daß man selbst sich möglicherweise eine allzu schlicht gestrickte Welt III zusammengezimmert hat. Das aber wäre dann doch wohl viel zu schmerzlich. Also besser auf der KI rumhacken. Das fühlt sich zumindest besser an.

Bolle fühlt sich hier übrigens entfernt an Alan Turing erinnert, der seinerzeit meinte: Eine wirklich intelligente Maschine ist eine Maschine, die zu dem Schluß kommt, daß Menschen nicht denken können (vgl. dazu Fr 22-01-21 Vom Wollen und Verwirklichen). Furchtbar lange wird das kaum noch dauern können, bis es soweit ist. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.