So 29-06-25 Rechtes Rechnen

Mein Gott – Mathe …

Es ist noch gar nicht allzu lange her, da ging es uns um die Kunst vorausschauenden Fahrens nebst der Unmöglichkeit, es in selbiger zur Meisterschaft (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) zu bringen, wenn es einem an Scharfsicht gebricht (vgl. dazu So 27-10-24 Vorausschauend fahren! Können vor Lachen). Unser Fazit seinerzeit: Wer kurzsichtig ist – und sei es auch nur leicht – tut gut daran, selbiges zur Kenntnis zu nehmen und keine Karriere zum Beispiel als Rennfahrer anzustreben. Er wäre stets nur zweite Wahl – und auf die Dauer gar nicht glücklich.

Damals meinte Bolle, faustgestählt, in Anbetracht einer Rüge seines Fahrlehrers, das Schild da säh‘ er wohl, allein er könnt‘s nicht lesen – jedenfalls nicht auf die Entfernung. Damit hatte die Angelegenheit ihr Bewenden. Bolle hat seine Führerscheinprüfung anstandslos im ersten Anlauf bestanden, of course.

Was aber wäre gewesen, wenn Bolle anders reagiert hätte, etwa wie folgt: ›Schilder? Regeln überhaupt? Interessieren mich nicht.‹ Man nennt das wohl ›Aus der Not (der Kurzsichtigkeit) eine Tugend machen‹. Zugegeben, das klingt erst mal schrill. Allein, wenn man sich umguckt auf der Welt, scheint diese Masche, zumindest bei einigen Leuten, einigermaßen en vogue zu sein. Und, wie’s weiterhin scheint, durchaus auch mit gewissem Erfolg. Hier ein Beispiel, wie es Bolle vor Kurzem erst untergekommen ist.

Ein Mathelehrer wollte seine gymnasiale Oberstufe lehrplanmäßig mit der Familie der e-Funktionen vertraut machen. Als Anschauungsmaterial wählte er zwei Populationen – nennen wir sie Ping und Pong. Dabei ist Ping (rötliche Kurve) im Ausgangspunkt (auf der x-Achse Null) dreimal so stark wie Pong (blaue Kurve). Allerdings, so das Beispiel, vermehre sich Pong mit 3 Prozent jährlich, Ping dagegen nur mit 1 Prozent – also nur ein Drittel so sehr. Die zu lösende Aufgabe: Wie lange wird es dauern, bis Pong genauso stark ist wie Ping – und wie geht es dann weiter?

Nun, auch ohne uns mit der Familie der e-Funktionen vertraut machen zu müssen: Aus der Graphik läßt sich leicht ablesen, daß das schon nach 55 Jahren der Fall sein wird. Ab da schießt Pong (die blaue Kurve) buchstäblich durch die Decke. Und zwar so lange, wie sich an den Wachstumsraten nichts ändert.

Wie ging es weiter mit der Geschichte? Statt zu sagen: ›Potzblitz! Was sich alles rechnen läßt! Das ist ja interessant!‹ hieß es in Teilen der besorgten Elternschaft, das sei ja wohl sowas von rechter, wenn nicht gar rechtsextremer Mathematik. Unklugerweise nämlich hatte unser Mathelehrer die Aufgabe nicht an Ping und Pong, sondern an Einheimischen versus Zugereisten aufgezogen. Eine Zumutung! So etwas habe an einer höheren Lehranstalt natürlich nichts verloren. Der Lehrer müsse möglichst umgehend entlassen werden. Weg, weg, weg! Die armen Kinder! – und so weiter, und so fort.

Bolle sieht hier eine äußerst beunruhigende Parallele zu seiner fiktiven ›Was interessieren mich Regeln‹-Replik. Auch Regeln der Mathematik haben gefälligst politisch korrekt zu sein. Da sind Teile der Elternschaft offenbar selber nicht in der Lage zu rechnen – zumindest tun sie es nicht. Und wenn ihnen dann einer die Rechnung auf die sprichwörtliche Nase bindet, fühlen sie sich mitnichten bereichert – Heureka! – sondern in ihrem woken Weltbild aufgewühlt.

Und? Was macht der Journalismus 2.0 …? Stets auf der Suche nach Sensationen stürzt er sich mit Schwunge drauf – und bestärkt die Paragonisten damit in ihrer gerechten Empörung. Bolle meint, vermutlich kennt man dort die e-Funktionen ohnehin auch nur vom Hörensagen.

Natürlich ist das Phänomen an sich nicht neu. 1976 schon sahen sich Politikdidaktiker (welch ein Wort, by the way) veranlaßt, sich als Handreichung für das Lehrpersonal auf einen Beutelsbacher Konsensus mit drei Punkten zu verständigen. Erstens das sogenannte Überwältigungsverbot: Keinem Schüler soll eine Meinung aufgezwungen werden. Allerdings, meint Bolle, kann es durchaus passieren, daß sich der eine oder andere Schüler (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) gleichwohl von Mathe überwältigt fühlt. Zweitens das Kontroversitätsgebot: Was strittig ist, soll strittig bleiben. Ziel ist auch hier die freie Meinungsbildung. Allerdings findet Bolle, daß das ja wohl ein wenig aus der Zeit gefallen sei. ›Eine Meinung muß genügen: mehr hältste ja im Kopp nich aus‹ – und verweist dabei gerne auf Hauke Arachs ›Mensch, lern das und frag nicht‹ aus dem Jahre 2013 (vgl. dazu etwa So 22-09-24 Opinio et Reactio). Seitdem ist diesbezüglich ja wohl so einiges den Beutelsbach runtergegangen – um mal ein wenig zu kalauern. Der dritte Punkt? Spielt hier keine Rolle.

Ist das jetzt alles übertrieben? Vermutlich leider nicht. Kaum einer kann rechnen – und falls doch, will es niemand wahrhaben. Immerhin würde das umstandslos so manch maroden Zustand im Lande erklären: von Schulen, Straßen und auch Schwimmbädern – bis hin zum vielbeklagten „jahrzehntelangen Investitionsstau“ überhaupt. Anscheinend aber kommt kaum einer auf die Idee, sich zu fragen, wie das alles überhaupt jemals so weit kommen konnte. Stattdessen scheißt man die Probleme lieber mit einem Riesenhaufen Knete zu – ganz nach dem Motto ›Was interessieren mich Regeln? Was interessiert mich Rechnen? Was Mathematik?‹. Kann man so machen – wenn auch vermutlich nicht auf Dauer. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 22-06-25 Der Faschismus ist tot – Es lebe der Schafismus!

🎶 Allons moutons de la folie // Le jour de noir est arrivé … 🎶

Der Faschismus ist tot. Mausetot. Substantiell war ihm ja ohnehin nur eine äußerst bescheidene Lebenspanne auf Erden beschieden. So nämlich hatte Benito Mussolini ab 1922 seine – wenn man das so sagen kann – Reformbewegung genannt. Was das mit einem Bündel, un fascio, zu tun haben sollte, war wohl schon damals nicht ganz klar. Auch war rund zwanzig Jahre später schon wieder Schluß mit der Reformbewegung und mit Mussolini überhaupt. Ursächlich dafür waren seinerzeit kommunistische Partisanen, die des Duce del Fascismo arg überdrüssig waren.

Allein, als hohle Hülle hat der Begriff dann spektakulär Karriere gemacht. Totgesagte leben nun mal länger. Wohl alles eine Frage des Brandings. Und so kam der amerikanische Politologe Paul Gottfried nach gründlicher Sichtung des Forschungsstandes in seinem ›Fascism – The Career of a Concept‹ (2016) auch zu dem Ergebnis, daß ›Faschismus‹ im Grunde ja wohl alles meine, was einem gegebenen Paragonisten als „tief abstoßend“ aufstoßen mag. In einer der jüngsten Observanzen, die Bolle neulich erst zu Ohren gekommen ist, heißt es dann auch, so gesehen durchaus konsequent: Konservativ ist gleich rechts ist gleich Faschismus. So kann’s gehen, wenn Forscher abheben, kreisen, und niemals wieder landen – um hier mal ein Bonmot von Wassily Leontief (1905–1999), einem wirtschaftsweisen Nobelpreisträger, zu bemühen. In Bolles Kreisen spricht man auch vom Reziprozitätsgesetz der Sprachwissenschaften: Je vager und je platter ein Begriff (Intention), desto reichhaltiger seine potentielle Verwendungsfülle (Extention).

Bolle dagegen hat unter ›Faschismus‹ schon immer kaum mehr verstanden als eine Staatsorganisationsform, die dem Motto ›Alle sollen gleich sein wollen‹ huldigt. Dabei geht es also nicht nur darum, daß alle gleich sind – nein, sie sollen es auch wollen. Trefflich auf den Punkt gebracht hat das übrigens George Orwell in seinem finsteren ›Nineteen Eighty-Four‹ (London 1949), wo der Protagonist Winston Smith von seiner Renitenz, seinem Überhaupt-nicht-gleich-sein-Wollen, zunächst vollständig geheilt und dann erst gnaden- und einsichtsvoll erschossen wurde. Schließlich sollen alle mitgenommen werden – niemand soll zurückbleiben müssen.

Übrigens sind damit, in einem Abwasch gewissermaßen, auch alle angeblichen Unterschiede zwischen Rechts- und Linksfaschismus vom Tisch. Mit dem ganzen Lechts/Rinks-Gedöns (Bolle featuring Ernst Jandl 1966) konnte Bolle ja bekanntlich noch nie sonderlich was anfangen.

Auch ist der finstere Orwell’sche Faschismus ohnehin „sowas von 20. Jahrhundert“ – um es mal jugendsprachlich auszudrücken. Heute sind wir deutlich weiter, of course. Einen modernen, zeitgemäßen Faschismus hat Bolle sich schon immer eher so vorgestellt wie in Huxleys ›Schöne Neue Welt‹ (1932) – also lange nicht so verkniffen und auch längst nicht so letal. Schließlich gibt es mildere Mittel, die Schäfchen bei der Stange zu halten. Um sie auf dem rechten Weg zu führen, reicht es ja oft schon aus, ihnen gegebenenfalls die Scheckkarte oder das Handy wegzunehmen oder selbiges auch nur vage als Möglichkeit im Raume schweben zu lassen. Und wer partout nicht gleich sein will, wird (bei Huxley) eben auf irgendeine einsame Insel abgeschoben, auf daß er dort nach seiner Fasson glücklich werden möge – solange er nur die Harmonie der Schönen Neuen Welt, das Gleichgewicht der Gleichen, nicht länger stört. Noch ist es allerdings so, daß wir uns im richtigen Leben in der Tendenz mit Warnhinweisen begnügen müssen: „Die Lektüre dieses Buches kann Ihrem gesunden Gleichsein-Wollen schaden“ – oder so ähnlich.

Kurzum: das alles schreit nach einem trefflicheren Worte. Und so hatte es Bolle in Ermangelung eines besseren Einfalles zunächst mit ›Filigran-Faschismus‹ probiert. Allerdings hat sich das als noch längst nicht knackig genug erwiesen. Außerdem, findet Bolle, wird es nach einhundert Jahren allmählich hohe Zeit, sich endlich des leidigen Grundbegriffes endgültig zu entledigen. Des Bla-Bla ist genug gewesen …

Daher also der ›Schafismus‹. Schafismus statt Faschismus. Inspirieren lassen hat sich Bolle hier vom Verlan – einer französischen Jugendsprache, die neue Wörter produziert, indem sie Silben (oder andere Elemente) gegebener Wörter gekonnt und durchaus künstlerisch verdreht. So wurde eben aus ›l’envers‹ (das Umgekehrte) ›Verlan‹, die Jugendsprache. Bolle lieebt die Dichtkunst der Franzosen.

Einmal im Schwunge, hat sich auch gleich ein passender Text zum Thema einfinden wollen – passenderweise mitten in der Marseillaise: 🎶 Allons moutons de la folie // Le jour de noir est arrivé … 🎶 – wobei Bolle seine Adaption ausdrücklich als Hommage an aufbruchsfrohere Zeiten verstanden wissen will. Der Rest der Hymne sei berufeneren Bänkelsängern überlassen.

Beim Umdichten der ersten Zeilen mußte Bolle lediglich ›enfants‹ (Kinder) durch ›moutons‹ (Schafe) ersetzen, ›Patrie‹ (Vaterland) durch ›folie‹ (Wahnsinn), und ›jour de gloire‹ (Tag des Ruhmes) durch ›jour de noir‹ (schwarzer Tag). Französisch ist einfach eine herrliche Sprache, wenn es dezidiert um Dichtkunst geht. Und so wird aus ›Auf, auf, Ihr Kinder dieses Landes // Der Tag des Ruhmes bricht heut‘ an‹ frei übersetzt – Französisch muß man frei übersetzen –  ›Auf, auf, Ihr derangierten Schafe // Von nun an geht es steil bergab‹.

Und schon paßt das alles auf deren Schöne Neue Zeit wie der sprichwörtliche Arsch auf den Eimer. Viva il schafismo! Ob sich das aber – nicht zuletzt auch im Italienischen – begrifflich wird durchsetzen können, bleibt natürlich abzuwarten. Immerhin weiß Bolle jetzt, was zu tun und was zu erwidern ist, wenn ihm das nächste mal einer dieser Ewiggestrigen (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course), womöglich nach dem dritten Bier, mit historisch heillos abgedroschenen, einhundert Jahre alten Etikett-Aufklebern (in Bolles Kreisen kurz ›Etas‹) kommt und dabei auch noch meint, damit was auch immer aussagen zu können. „Faschist!“ – „Selber Schafist!“ So entstehen geistreiche Gespräche – zumindest nach dem dritten Bier. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 15-06-25 Immer auffem Sprung

Immer auffem Sprung.

Unser Bildchen heute zeigt eine Szene aus Bolles derzeitiger Vogelwarte, die sich praktischerweise direktemang auf dem Balkon befindet. Die Entfernung von A nach B – also von Amsel nach Bolle – beträgt dabei gerade mal 2 Meter Luftlinie.

Warum machen Amseln – und auch andere Gefiederte, also Drossel, Fink und Star und der ganze Rest der Vogelschar – sowas? Von eher kitschigen Erklärungen wie „Die mögen halt die Menschen“ einmal abgesehen, haben wir es hier wohl mit dem unabänderlichen Spannungsverhältnis zweier elementarer Bedürfnisse zu tun: dem physiologischen Grundbedürfnis nach Nahrung einerseits und dem Bedürfnis nach Sicherheit andererseits. Beides sind wohl Aspekte des – letztlich natürlich sinnlosen – Versuches zu überleben. Wenn das Bedürfnis nach Nahrung Überhand nimmt, dann muß man das schützende Nest eben vorübergehend verlassen. Gleichwohl bleibt man tunlichst immer auf der Hut – jederzeit bereit, die Prios anzupassen. Was nützt das schönste Futter, wenn man am Ende selber zu Selbigem wird? Daß Bolle keine Katze hat, kann Amsel ja nicht ahnen.

Wie friedlich und wie harmonisch aber könnte die Welt doch sein – ein alternatives Grundkonzept vorausgesetzt. So findet sich als Umschlagsillustration auf Bolles alter Kinderbibel eine Szene, die wohl das Paradies darstellen soll. Löwen und Gazellen liegen da friedlich und einträchtig Seit‘ an Seit‘ im Grase, zusammen mit manch Blümelein. Hosianna, Hallelujah, halt. Selbst in Bolles Kinderaugen schien das damals schon nicht das realistischste aller Konzepte – und zwar lange, bevor er je etwa von Ludwig Thomas ›Der Münchner im Himmel‹ (1911) gehört hatte: „Luja sog i.“

O nein, die Welt ist weiß Gott kein friedlicher Ort. Und das wird sich auch nicht ändern, solange Leute was zu futtern brauchen oder sonstige Interessen meinen verfolgen zu müssen: big fish eats small fish. Oder, wie Woody Allen in seinem ›Die letzte Nacht des Boris Gruschenko‹ (USA 1975 / Originaltitel: Love and Death) im Rahmen einer tiefschürfenden philosophischen Debatte über den Sinn des Lebens und den ganzen Rest zu seiner angehimmelten Sonja meinte: „Mir kommt das alles vor wie ein großes Restaurant.“

Allein auf diesen Umstand hinzuweisen kann einem in Deutschland allerdings schon mal leicht als Billigung eines Angriffskrieges ausgelegt werden und, wenn’s dumm läuft, bis zu 3 Jahren Knast einbringen (§§ 140 Nr. 2, 138 I Nr. 5 StGB i.V.m. § 13 VStGB). Dabei kann eine vergleichsweise harmlose Aufmunterung wie zum Beispiel „Bravo Putin“ – zumindest, wenn es nach dem LG München I gegangen wäre (Urteil vom 2. August 2023) – durchaus schon genügen, um ernstlich mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten.

Interessant wird es indessen, wenn man anfängt, Parallelen zu ziehen – was nach Hülsenfrüchtchens Heuristik natürlich strikt verboten ist und gerne mit der Argumentationsattrappe ›Whataboutism‹ pariert zu werden pflegt. Parallelen zu ziehen, Dinge einzuordnen überhaupt, ist nach dieser Vorstellung tunlichst zu unterlassen – zumindest aber höchst unerwünscht. Derlei mache die Dinge nur unnötig „komplex“ – im Sinne von ›dann blick ich nicht mehr durch‹.

Beispiel gefällig? Eines für alles mag hier genügen. Da bombt seit längerem schon ein Land auf ein anderes ein – und Politik und Presse überschlagen sich förmlich und unaufhörlich mit „Kriegsverbrecher“-Krakeele. Nun bombt neuerdings ein anderes Land auf ein anderes ein, nur weil ihm dessen Politik nicht paßt – und schon heißt es, das sei schließlich vorbeugende Selbstverteidigung beziehungsweise, vornehmer formuliert, Präventivnotwehr. Schließlich habe man ein Existenzrecht zu verteidigen – und im übrigen sei das eine Demokratie. Bolle meint nur: Ach herrje!

Völkerrecht ist, allem gutgemeinten Gedusel zum Trotze, im Wesentlichen noch immer Faustrecht – mit Betonung auf Faust und weniger auf Recht. Das war eines der ersten Dinge, die Bolle beim Studium dieses Faches helle wurden. Und allen Bestrebungen, das zum Besseren zu wenden, war bislang nur höchst mäßiger Erfolg beschieden. Hinzu kommt: Recht ist, nach allem, im Wesentlichen ja kaum mehr als geronnene Macht. Folglich empfiehlt Bolle, lieber die Füße ein wenig stiller zu halten, gleichwohl aber auf dem Sprung zu bleiben. Klingt doch fast schon nach Zen – und damit vielleicht nicht ganz unrealistisch. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 08-06-25 Wenn Glocken richtig rocken

Ei, der Gauß …

Nach den doch eher etwas fluffigeren Sujets der letzten Sonntagsfrühstückchen wollen wir uns diesmal wieder einem strikteren Gegenstand zuwenden. Kenner werden es sogleich erkannt haben: Wir reden hier von der Gauß’schen Glockenkurve. Ersonnen hat sie Carl Friedrich Gauß (1777–1855), der zu Lebzeiten schon als Princeps mathematicorum, also Erster seiner Zunft galt, seinerzeit im Jahre 1809.

Was will uns Gauß damit sagen?

Stellen wir uns ein Weizenfeld vor (etwaige Allergiker, beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course, mögen sich mit einem Dinkelfeld begnügen). Nehmen wir an, die Halme seien im Mittel 100 cm hoch (in der Graphik entspricht das der 0) und hätten eine sogenannte Standardabweichung von ±10 cm (in der Graphik entspricht das dem Bereich zwischen –1 und +1). Das bedeutet, daß wir erwarten können, daß 2/3 der geernteten Halme zwischen 90 und 110 cm lang sein werden und damit „Mittelmaß“. Natürlich werden sich auch Halme finden, die zwischen 110 cm und 120 cm hoch sein werden. Allerdings, das sagt uns die Glockenkurve, wird das nur rund 1/7 der Halme sein. Noch größer als 120 cm – auch das kommt vor – werden nur noch 1/44, also knapp 2,5% der Halme sein (in der Graphik das Feld ›top‹). Das Gegenstück ›ui‹ übrigens steht für ›unterirdisch‹ – obwohl das, zugegebenermaßen, bei Halmlängen ein schiefes Bild ergibt. Oder – auch das sagt die Graphik aus – um zum oberen Drittel zu gehören, müßte ein Halm wenigstens gut 104 cm lang sein (rote Linie). Damit wäre er zwar immer noch Mittelmaß – allerdings schon leicht überdurchschnittlich.

Wer nun meint, was interessieren mich Weizen- oder Dinkelfelder? Mehl kommt mir aus der Tüte beziehungsweise Brot gibt’s beim Bäcker – dem sei gesagt, daß sich die Gauß’sche Glockenkurve auf erstaunlich viele Bereiche im wirklichen Leben anwenden läßt – unter anderem auf so weizenferne Felder wie Leistungsfähigkeit und -bereitschaft (also etwa Schulnoten, wenn sie denn gerecht vergeben würden) oder eben auch auf das, was wir hier politische Urteilskraft nennen wollen.

Übertragen bedeutet das: Unter den Bedingungen einer Demokratie werden Leute mit guter oder sehr guter politischer Urteilskraft schwerlich regieren können – einfach, weil sie nicht in der Mehrheit sind. Selbst für eine sogenannte Sperrminorität (rote Linie) wird es absehbar eng, weil es dafür nötig wäre, einen gehörigen Teil des Mittelmaßes zu gewinnen. Die Vorzüge einer Demokratie können also nur woanders liegen. In der Gauß’schen Glockenkurve jedenfalls liegen sie nicht.

Was aber soll das überhaupt sein, politische Urteilskraft? Die einfachste und ganz naheliegende Antwort wäre wohl: Politische Urteilskraft hat in meinen Augen, wer die Partei wählt, die ich selber auch wählen würde. Easy – aber führt zu nichts. Drehen wir den Spieß also um: Was würde nahelegen, daß es einem (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) an selbiger mangelt? Im Wesentlichen wohl, daß er nicht wirklich in der Lage ist, sich ein Bild zu machen von den jeweiligen Paragonisten (neudeutsch: Akteuren) oder Gegebenheiten. Da bricht einer alle Wahlversprechen, gelobt kurz vor der Wahl Besserung – er habe es schließlich nicht besser wissen können – und wirbt treuherzig um „Vertrauen“. Und die Leute wählen ihn wieder. Da werden im Vorfeld einer Wahl regelmäßig regelrechte Plakatschlachten veranstaltet – und mancher Wähler läßt sich, wie’s scheint, davon dann doch irgendwie beeindrucken. Da postet einer schicke Reels auf Insta – und kriegt dafür (!) die Stimme. Da gibt es Last-Minute-Wähler, die zehn Minuten vor der Stimmabgabe noch immer nicht wissen, was sie wählen wollen – als hätten sie nicht Monate und Jahre Zeit gehabt, sich ein solides Bild zu machen und zu einem fundierten politischen Urteil zu kommen. Schließlich gibt es auch noch Wähler, die wählen sowieso immer, was sie schon immer gewählt haben – egal, was auch immer die Paragonisten veranstalten mögen: Traditionales Verhalten, halt. Kurzum: Mangelnde politische Urteilskraft scheint ein Spezialfall von mangelnder prognostischer Kompetenz zu sein: Die Unfähigkeit zu erahnen, was passieren wird, wenn dieses oder jenes so weitergeht. Kognitive Kurzsichtigkeit also. Oder, wie Bolle das womöglich resümieren würde:

Kurzum –
Und dabei völlig ohne Hohn:
Ein klitzekleines bißchen dumm
Wirkt das alles dann doch schon.

Und so sucht, entgegen dem völlig anderslautenden Paratickma, auch kein Aas das angeblich bessere Argument, sondern lediglich die bessere Agitation. Auch hier scheint, einmal mehr, ›Luhmanns Law‹ zu gelten. In Bolles Fassung lautet es (vgl. dazu Mo 12-12-22 Das zwölfte Türchen …):

Das System erzeugt die Elemente,
aus denen es besteht,
mittels der Elemente,
aus denen es besteht.

Wir haben es hier also wohl einfach nur mit zielgruppengerechter Ansprache zu tun – wobei die Zielgruppe das Mittelfeld ist, also der Bereich zwischen –1 und +1. Und die Medien mischen munter mit. Daher womöglich auch der geradezu heilige Zorn gegen alles, was sich davon nicht einfangen lassen will, geschweige denn unterhaken – und damit das Idyll einer Schönwetter-Demokratie trübt. Im Überschwange geht das dann so weit, daß manche ernstlich meinen, Einigkeit sei eine demokratische (!) Tugend. Hört, hört! Mit derlei wird man leben müssen – und gegebenenfalls auch leiden. Abhilfe ist nicht in Sicht – und zwar aus rein mathematischen Gründen nicht. Was aber rein mathematisch nicht funktioniert, kann auch in der besten aller möglichen Welten (Voltaire 1759) nicht funktionieren. Eine damit oft verbundene regelrechte ideologische Überhöhung aber – 🎶 Im Westen, im Westen, da ist‘s ja wohl am besten, Fidirallala, … 🎶 – können wir getrost den Hülsenfrüchtchen überlassen.

Eines aber wollen wir dabei – Bolle featuring Marx/Engels 1848 – nicht vergessen: Die Parlamentarier haben nichts zu verlieren als ihre Buletten. Sie haben ihre Welt zu gewinnen. Parlamentarier aller Länder, vereinigt Euch! – namentlich gegen Wahlvolk mit mittelmäßiger politischer Urteilskraft. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 01-06-25 Rauchen wie Gott in Frankreich

Twins – Zwillinge (1988).

Um es mal mit Obelix zu sagen: Die spinnen, die Franzosen. Aber nicht nur die. Bei Lichte betrachtet sind es wohl eher die Zeiten an sich, die spinnen. Bolle meint ja, wie so oft, als erstes: Definiere ›spinnen‹. Probieren wir es mit einer Umschreibung: Vielleicht ist ›Spinnen‹ ja nur so eine Art „Realitätsunwilligkeit“ – wie Roger Köppel, der große Journalist der kleinen Schweizer Zeitung, das neulich mal genannt hat.

Was ist passiert? Die Grande Nation hat sich zu der Idee verstiegen, Rauchen ab demnächst nicht nur mehr in geschlossenen Räumen verbieten zu wollen, sondern weitestgehend auch unter freiem Himmel – also in Parks und öffentlichen Gärten, aber auch an Bushaltestellen, bei Sport und Spiel auf den Tribünen, und natürlich in der Nähe von Schulen, of course.

Wo Kinder sind, da muß der Tabak weichen. Soweit die Argumentations-Attrappe. Es gebe nun mal ein Recht der Kinder auf saubere Luft. Im Freien! Hört, hört! Bolle meint, hier durchaus einen Hauch von Hysterie ausmachen zu können, und – let’s go crazy – auch einen Hauch von Filigran-Faschismus, der definitionsgemäß ja will, daß alle gleich sein wollen sollen. Von wegen liberté toujours. Die ganze Liberté-Idee scheint Bolle mittlerweile ja ohnehin so eine Art Auslaufmodell zu sein. Wie nur kann es möglich sein, daß die Grande Nation sehenden Auges im Kern zu einer Grande Imitation, also einem seelenlosen Abklatsch ihrer selbst, verkommt? Aber vielleicht hängt Bolle das alles auch einfach nur zu hoch. Wer weiß?

Im übrigen handelt es sich hier auch um einen Fall von ›Edel versus Eigentlich‹, also Bolles EvE-Theorem: Jedes eigentliche Vorhaben, und sei es noch so schändlich, läßt sich bei hinreichender konstruktivistischer Kreativität locker mit einem Zuckerguß edler Absichten glasieren. Alles für die lieben Kleinen. Und die Freiheit? Die stirbt natürlich unterm Zuckerguß.

Und wie schnell das alles ging und geht – zumindest in der Rückschau im Schnelldurchlauf. Unser Bildchen zeigt eine Szene aus ›Twins – Zwillinge‹ (USA 1988 / Regie: Ivan Reitman / mit Arnold Schwarzenegger, Danny DeVito, Kelly Preston und Chloe Webb). Dort hatten sich die beiden Zwillingsschwestern bei einem Einkaufsbummel im Supermarkt – also drinnen – noch ganz entspannt ein Zigarettchen brüderlich geteilt. Im Supermarkt! So weit hat es Bolle nie getrieben. Und das alles ist gerade mal knapp 40 Jahre her – also nur etwa gut eine Generation. Was nur mag da schiefgelaufen sein bei der Aufzucht der kleinen Racker (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course)? Wie nur kann es sein, daß ›Sex & Drugs & Rock ’n’ Roll‹ zu ›Veganismus, Laktose-Intoleranz und Helene Fischer‹ verkümmern konnten? (Womit natürlich mitnichten irgendwas gegen Helene Fischer gesagt sein soll, of course). Und wie kann es sein, daß sich Lucky Luke etwa – im Nachdruck der Hefte auch rückwirkend, versteht sich – mit einem Grashalm im Mäulchen begnügen muß statt mit ‘ner ehrlichen selbstgedrehten Ziggi?

Seinerzeit, das weiß Bolle noch ganz genau, gab es im ›Schwarzen Café‹ am Savignyplatz noch ein ›Schwarzes Frühstück‹ für Minimalisten (oder vielleicht auch Existentialisten) zu haben. Eine Tasse schwarzen Kaffees mit einer schwarzen Zigarette. Sapienti sat – Der Philosoph wird davon satt.

Aber muß man denn unbedingt rauchen? Natürlich nicht. Ein jeder (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) mag das halten, wie es ihm zu Nutz und Frommen scheinen mag. Auf die Frage einer Studentin, warum er denn rauche, ist es Bolle – ohne nachzudenken, also so richtig zenmäßig – in einer großen Pause einmal rausgerutscht: „Weil ich irgend etwas brauche im Leben, das völlig sinnlos ist.“ Ansonsten käme er sich vor wie der Arbeitsgaul ›Boxer‹ in Orwells ›Animal Farm‹ (1945) oder wie einer dieser deprimierend derangierten Borgs aus ›Star Trek‹. Bolle hatte sich immer schon gefragt, worin die wohl ihren Lebenssinn sehen mögen. Indes: am klügsten ist es wohl, wenn man erst gar nicht fragt. Immerhin: Bolles Begründung hatte, wie es schien, durchaus einiges an Überzeugungskraft – wie das mit Zen-Sprech ja öfters mal so ist. Jedenfalls war diesbezüglich Ruhe im Karton.

Übrigens: Frankreichs private Terrassen sollen „selbstverständlich“ von der Regelung ausgenommen bleiben, of course. Bolle meint, dann is ja jut. Kieken wa ma, was die Zukunft bringen mag. Beim Zeitgeist weiß man schließlich nie. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.