Die Geschmäcker sind verschieden – und waren es wohl auch schon immer. De gustibus non est disputandum – Über Geschmack läßt sich nicht streiten. Das ist, wenn wir genauer hinschauen, spätestens seit Aristoteles (384–322 v. Chr.), also seit etwa zweieinhalbtausend Jahren klar. Das gleiche gilt für Meinungen, of course, da es sich hierbei ja nur um kognitive Geschmacksfragen handelt. Dabei wollen wir unter Meinung hier nur die mal eben hingehauene Ansicht, opinio, verstehen. Bolle unterscheidet das von doxa, einer durchdachten und wohlbegründeten Sicht auf die Dinge.
Betrachten wir unser Schildchen: Es beschreibt den Blick zweier Personen – hier Anton (A) und Bolle (B) – auf ein und dieselbe Sache, die wir hier Gegebenheit (X) genannt haben. Soweit sozusagen die nackten Fakten. Nehmen wir nun an, Anton fände die Gegebenheit „voll toll“, Bolle dagegen fände die gleiche Gegebenheit „ungut“.
Kann so etwas sein? Aber Ja doch. Es ist sogar der absolute Regelfall. So heißt es etwa in einem der Meinungsmacher-Blättchen dieser Tage: Seit Corona ist meine Schwester total abgedriftet, wir können gar nicht mehr über Politik reden. Dabei ist der Grund laut Blättchen schnell erkannt: Die Menschen im eigenen Umfeld haben sich „radikalisiert“. Selber liegt man natürlich völlig richtig mit seiner Opinio. Vielleicht aber haben sie sich gar nicht radikalisiert. Vielleicht sehen sie einfach nur wenig Nutzen und Frommen in einer Diskussion über Geschmacksfragen – und halten das, nicht ganz zu Unrecht, für reine Zeitverschwendung.
Schließlich läßt sich mit keiner Bolle bekannten Methode entscheiden, ob eine Gegebenheit X „voll toll“ ist oder eher „ungut“. Das hat Konsequenzen (Reactio). Auf der interpersonalen Ebene wird Anton Bolle (zumindest im Modell) aus rein konsistenztheoretischen Gründen „übel, übel“ finden – beziehungsweise zumindest nicht mögen und als Person (!) ablehnen.
In der Tat zeigt sich eine Tendenz, aggressive Argumentations-Attrappen geradezu zu kultivieren (falls man hier überhaupt von „Kultur“ sprechen kann).
Neben Radikalinski ist man nach dieser Ansicht schnell Sexist, Rassist, Stalinist – und was dergleichen Schubladen mehr sein mögen. Zunehmender Beliebtheit erfreut sich auch der Verfassungsfeind – als wäre die Verfassung dafür da, bestimmte Ansichten zu schützen und andere zu verfemen. Als wäre die Verfassung überhaupt dazu da, den Umgang der Bürger untereinander zu regeln.
Gleichwohl: Bei aller Unterschiedlichkeit der Ansichten – ein bißchen sozialer Kitt muß dann wohl doch sein, wenn eine Gesellschaft einigermaßen gedeihlich funktionieren soll.
Eine von ganz oben runtergejubelte Aufforderung, sich doch bitteschön unterzuhaken – als wären wir im Dauerfasching – und die Dinge „gemeinschaftlich“ anzupacken, wird da sicherlich nicht allzu viel nützen. Das nämlich liegt einfach zu sehr über Kreuz mit elementarer Sozialpsychologie.
Bolle sieht zur Zeit nur einen einigermaßen erfolgversprechenden Weg. Statt jeden, der anderer Ansicht ist, als „übel, übel“ einzustufen, könnte man es mit Epiktets (ca. 50 bis ca. 138 v. Chr.) stoischer Haltung probieren: „Dem scheint das so zu sein“.
Das allerdings würde voraussetzen, daß die lieben Mitbürger überhaupt erst einmal wieder ernstlich die Möglichkeit ins Auge fassen, daß es zu ein und derselben Gegebenheit gleich mehrere mögliche Ansichten geben kann. Und hier sieht es im Moment wirklich nicht allzu gut aus. In seinem durchaus lesenswerten Buch ›Mensch, lern das und frag nicht‹ zeigt Hauke Arach anhand einer Untersuchung von Schulbüchern, wie den lieben Kleinen das Denken in Möglichkeiten systematisch ausgetrieben wird. Eine Wahrheit muß genügen! Mehr hält man ja im Kopp nicht aus! Bolle meint: Von das kommt das, und Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.
Im übrigen sind heute Wahlen im Osten – schon wieder. Auch dieses mal geht es offenbar um den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, Demokraten versus Verfassungsfeinde, Mitte gegen Extremisten. Das alles aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.