Mi 27-01-21 Wahn und Wirklichkeit

Wahn und Wirklichkeit in der Dreigroschenoper.

„Wahn“ – das ist den meisten nicht klar – ist ein uraltes Wort. Der Ursprung läßt sich zurückverfolgen bis ins Althochdeutsche und darüber hinaus ins Germanische, Gotische und Altnordische. Und überall bedeutet es das gleiche – nämlich ›Hoffnung, Erwartung‹. Man könnte auch sagen: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Die semantische Nähe zu „Wahnsinn“ dagegen ist vergleichsweise jung. Um vermeidbaren Konfusionen vorzubeugen, sollten wir uns besser auf „Wunsch und Wirklichkeit“ verständigen.

Die Wirklichkeit taucht regelmäßig im Singular auf – auch wenn die Perspektiven darauf höchst vielfältig sein mögen. Der Wünsche dagegen gibt es furchtbar viele. Auf den Brecht’schen Punkt gebracht: Wer plant, muß wählen. Damit ist zwar noch lange nicht gesagt, daß der Plan dann auch „geht“. Aber immerhin: It’s a start. Aber wählen – man könnte auch sagen: entscheiden – ist beileibe nicht jedermanns Sache. Und das ist karrieretechnisch ja auch durchaus klug. Wenn einer sagt: Dieses will ich, jenes nicht – dann hat er, namentlich in einer pluralistischen und massenmedial gesteuerten Gesellschaft, sofort alle am Hals, die exaktemente das Gegenteil wollen. Und wenn sich – rückblickend betrachtet – mehr oder weniger „nachweisen“ läßt, daß das ursprünglich Gewollte in eine Sackgasse geführt hat oder zumindest schwere „Nebenwirkungen“ mit sich gebracht hat, dann steht’s schlecht um die weitere Karriere. Folglich produziert „das System“ scharenweise Leute, die sich vernünftigerweise immer schön bedeckt halten. Einer Problemlösung, die den Namen verdient, kommt das allerdings  weniger zugute. So ist das nun mal bei Nash-Gleichgewichten. Sei’s drum.

Was hat das alles mit Corönchen zu tun? Corönchen – das scheint Bolle das Gute daran – wird uns zwingen, unsere vielfältigen Wünsche mit der einen Wirklichkeit abzugleichen. Im Zweifel gewinnt die Wirklichkeit – egal, was wir für wünschenswert halten. Im Moment sieht es ganz danach aus, als würden die „Markt-Taliban“ – die die letzten Jahrzehnte absolut die Oberhand hatten –  ein wenig in die Defensive geraten. Und das ist wohl auch gut so – andererseits dann aber doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Mi 23-12-20 Das dreiundzwanzigste Türchen …

Hier das 23. virtuelle Türchen …

Hier noch ein letztes Beispiel aus Bolles schier unerschöpflichem Fundus chinesischer Weisheiten. Dabei könnte das auch uns im Westen durchaus klar sein – wenn auch vielleicht in weniger geschmeidiger Formulierung. Hier nennt man das Phänomen „Opportunitätskosten“ – welch gruseliges Wort. Selbst DeepL ist da weiter, wenn es als Übersetzung von opportunity costs ›Optionskosten‹ vorschlägt. Alles, was man tut – jede Entscheidung, die man fällt –, ist mit Aufwand im weitesten Sinne (also Geld, Zeit, Nervenkraft, und was auch immer) verbunden. Kurzum: Alles hat seinen Preis. Von wegen „alles ist möglich“ (vgl. dazu das achzehnte Türchen). Mag sein, daß alles möglich ist. Aber es ist eben nicht alles möglich – schon gar nicht gleichzeitig oder gar zum Nulltarif.

Was hat das mit uns bzw. mit hier und heute zu tun? In dieser herrlich entgrenzten Welt – heute hier, morgen dort, bin kaum da, muß ich fort – dämmert uns langsam, namentlich in Corönchen-Zeiten, daß auch das seinen Preis hat. Strafe Gottes? Gott behüte. Einfach nur eine Antwort des Systems. Systeme sind selbst-stabilisierend und damit geduldig. Allerdings soll man auch hier nichts übertreiben. Wenn ein System mit seiner Geduld am Ende ist, dann sagen wir „es kippt“ und wundern uns. Liegt das nun am System oder nicht doch eher an uns selber? Soweit zur letzten Kontemplations-Anregung in diesem unserem agnostischen Adventskalender. Das aber ist dann letztlich doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Di 22-12-20 Das zweiundzwanzigste Türchen …

Hier das 22. virtuelle Türchen …

So, das mußte noch raus. Weniger, weil bald Weihnachten ist, sondern eher, weil das alte Jahr zuende geht. Und nächstes Jahr soll ja schließlich alles besser werden. Dabei wäre es wohl nicht der schlechteste Ansatz, wenn sich die schreibende Zunft wieder deutlicher bewußt machen würde, daß sie letztlich „irgendwas mit Medien“ zu tun hat. Ein »Medium« aber sollte schon von der Wortbedeutung her ein ›Vermittler, in der Mitte stehendes‹ sein. In der Mitte zwischen was? Dem, was ist, und dem, der es erfahren möchte. Rudolf Augstein hat das seinerzeit zeitlos klassisch gefaßt: „Schreiben, was ist.“ Punctum. Das ist indessen lange her. Medium sein heißt nicht, dem Leser bzw. Zuhörer oder Zuschauer (jeweils beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) die eigene geschätzte Befindlichkeit zu vermitteln. Kurzum: »vermitteln« ist ein Teekesselchen der tückischen Art. Es steht für (1) ›rüberbringen, was in der Welt los ist‹, oder aber (2) ›rüberbringen, was mit mir los ist‹. Beides hat – bei höchster Verwechslungsgefahr – wenig miteinander zu tun. Nachdem das geklärt ist, noch ein Letztes: „Schreiben, was ist“ bedeutet nicht: „Alles schreiben, was ist“. Es besteht keine Notwendigkeit, jeden Pupser, den einer, etwa auf Twitter, abläßt, massenmedial zu verstärken. In Bolles Jurastudium nannte man das treffend „Weglaß-Technik“: Der Bedeutung von Banalitäten wird man als Vermittler am besten dadurch gerecht, daß man sie gar nicht erst erwähnt. Aber das ist schon „höhere Schule“ und damit auch ein anderes Kapitel.

Mo 21-12-20 Das einundzwanzigste Türchen …

Hier das 21. virtuelle Türchen …

Wird es nicht langsam wirklich weihnachtlich in unserem kontemplativen Adventskalender? Kann man so sehen – oder auch nicht. Wirklich weihnachtlich will es ja nicht werden in diesem Jahr. Bolle vermißt vor allem den Glühwein und das Gewusel auf den Weihnachtsmärkten. Ein Geschenk auf amazon zu erlegen ist ja ooch nicht das gleiche. Vor allem aber findet Bolle es höchst unchristlich, die „Dosen“ mit der gleichen Freude und Zuversicht als Heilsbringer zu erwarten, wie es eigentlich nur dem Erlöser der Christenmenschen vorbehalten sein sollte: „Komme, oh Impfstoff, oh komme doch bald … // Lasset uns preisen in frommen Weisen // Halleluja …“ Bei aller weihnachtlichen Liebe: Ein bißchen bigott ist das schon. Zumal auch die Pfaffen mehrheitlich auf der Tour reiten. Von wegen „Heim ins Himmelreich“. Aber vielleicht ist das bereits ein anderes Kapitel.

Fr 25-09-20 Wortglöckchen und Donnerhall

Wie sich die Rolle von Führungskräften in einer hybriden Arbeitswelt ändert, erklärt Telekom-Personalchefin Birgit Bohle im Interview mit dem Handelsblatt. Ihr Credo: „Empathie und Vertrauen werden noch wichtiger.“

Gefunden im Handelsblatt Morning-Briefing von heute. Was, bitteschön, ist eine „hybride Arbeitswelt“?, fragt Bolle stumpf. »Hybride« sind „durch Kreuzung entstandene Wesen“. Wer, bitteschön, hat da was „gekreuzt“ in der Arbeitswelt? Darf der das? Im übrigen leiten sich Hybride ab von gr. hybris – was soviel wie „Frevel“ oder „Schändung“ bedeutet. Nomen est omen. Aber zurück auf den Teppich: Mit „hybrider Arbeitswelt“ soll wohl im Grunde „heute hier, morgen dort“ gemeint sein: Ab und an mal im „Office“ reinschneien und ansonsten gemütlich vorm heimischen PC hängen (wenn nur die Kinder nicht wären, die oft genug so rein gar kein Verständnis für moderne Arbeitswelten aufbringen) und … – Ja, was eigentlich? In Bolles Augen kann es sich dabei nur um eine Zwischenstufe handeln zu der Einsicht, daß man eigentlich ohnehin nicht groß was zu tun hat – weder „at home“ noch „im Office“. Bis allerdings diese Einsicht zu voller Reife gelangt, könnte es noch ein wenig dauern – wenn auch wohl nicht mehr allzu lange.

Man muss sich darauf verlassen können, dass Mitarbeiter selbständig Entscheidungen treffen und die Bälle nach vorne treiben.

Wortglöckchen, wohin das Öhrlein lauschet. Klingt erst mal gar nicht schlecht. Aber klingelt auch ein wenig – zumindest in empfindlicheren Ohren. Abermals zurück auf den Teppich: Entscheider sind dazu da – und werden im übrigen meist auch recht gut dafür bezahlt –, daß sie Entscheidungen treffen. Mitarbeiter dagegen sind dafür da, daß sie mitarbeiten. Das ergibt sich bereits aus der Definition. »Führen« bedeutet zu veranlassen, daß das „richtige“ getan wird – wobei das, was „richtig“ ist, von den Führenden bestimmt wird. Kurz und knapp: Führen bedeutet, zu veranlassen, daß das getan wird, was der Führende für richtig hält. „Selbständig Entscheidungen treffen“ kommt in diesem Konzept nicht vor – jedenfalls nicht in der Realität. Im übrigen: Woher sollen die Mitarbeiter wissen, wo „vorne“ ist – wo also sie die „Bälle hintreiben“ sollen? Für einen Mitarbeiter, der das weiß – und sich entsprechend verhält – gibt es genau zwei Möglichkeiten: a) er wird selber Entscheider, oder b) er fliegt raus. Die Erfahrung lehrt uns, daß regelmäßig b) der Fall sein wird. Weiter heißt es:

Sie müssen über Ziele und Ergebnisse führen können und regelmäßig Feedback geben.

Wie das? Die Mitarbeiter müssen führen können? Wortglöckchen im Quadrat. Hier paßt ja wirklich rein gar nichts mehr zusammen. Bolle meint: Wenn ditte der Führungsstil der Telekom sein soll, dann wundert mir jar nüscht mehr. Abschließend heißt es:

„Jetzt Artikel lesen …“

Och Nö, meint Bolle. Sapienti sat – bin schon bedient. Die Reizwörter „Empathie“ und „Vertrauen“ sparen wir uns unter diesen Umständen. Genug geklingelt. Das Gegengift zu ›Wortglöckchen‹ heißt übrigens ›Donnerhall‹. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Fr 15-11-19 Nachtrag Klima

Mit den heute bestehenden Klimazielen der Welt würde sich die Erde um drei Grad erwärmen. Das heißt, wir sind mit unseren Zielsetzungen noch längst nicht da insgesamt, wo wir hinmüssen.

Zusätzlich gefunden in der Tagesspiegel Morgenlage unter „Zitate“. Wer hat’s gesagt? Unsere Kanzlerin. Kiek ma eener an. Mit den »Zielen« sind wir noch nicht „da insgesamt“, wo wir hinmüssen. Bolle fragt sich: Wie steht’s denn dann mit dem »Plan« – also der Verwirklichung eben dieser Ziele? In düstereren Momenten verweist Bolle gerne auf den Managementzirkel und dabei, in Anlehnung an das Lieblingsspiel seiner Jungend, auf die Option „Rücke vor bis auf »Exit«. Gehe nicht über »Schritte«, Pfeil b). Damit ist das Problem zwar inhaltlich nicht gelöst – aber immerhin formal. Das Klima läßt grüßen. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Fr 15-11-19 Kohleausstieg

Worüber dürfte es noch Streit geben? Das 40-Milliarden-Paket für die Kohleausstiegs-Länder. Die Summe steht zwar, etwa zwei Milliarden werden es bis 2038 jährlich sein. Der Knackpunkt ist jetzt, wie das Geld verteilt wird.

Gefunden in der Tagesspiegel Morgenlage. Das erinnert doch ein wenig an das „Bahn-Management“ (vgl. »Di 12-11-19 Die Bahn«). Dort war es so, daß man nicht einmal weiß, wo man steht (fehlende »Ist-Analyse«). Hier ist es so, daß man nicht weiß, wo genau man eigentlich hin will (fehlende »Ziel-Definition«). Doch halt: Das läßt sich retten – und zwar, indem wir das „40-Milliarden-Paket“ bzw. dessen Verballerung als das eigentliche Ziel definieren. Ähnlich wie bei der Bahn hätte sich damit der Punkt »Check der Mittel« bereits im Vorfeld erledigt – und »Plan« würde in der Tat zum eigentlichen „Knackpunkt“. Ein hübsches Wort übrigens für einen circulus vitiosus.

Der Managementzirkel.

So richtig seriös ist das allerdings nicht – und durchdacht sowie nicht. Warum – das ist hier die eigentlich spannende Frage – gibt man Ziele als Ziele aus, die selbst bei oberflächlicher Betrachtung nur mit Mühe als „Ziele“ durchgehen können? Das einzige, was Bolle einleuchten würde: Immerhin kann man dann sagen: „Seht her – die Regierung tut was.“ Na toll. Und so lassen die Konsequenzen auch nicht lange auf sich warten.

Denn es hat einen Nachteil: Das Geld liegt dann zwar bereit, aber fließt es auch so ab wie gewünscht? […] Wie es langfristig weitergeht, ist offen.

Kiek ma eener an. So ist das nun mal, wenn es in der Projektplanung am »Plan« fehlt. „Wie gewünscht“ ist schlechterdings nicht definiert. Immerhin – und hier ist Bolle voll zufrieden: Das Ablauf-Modell funktioniert auch in absurderen Fällen aufs Feinste. Daran liegt es also nicht. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Di 12-11-19 Die Bahn

Viel helfe nicht viel, denn: Dem Bund fehlten Informationen über den tatsächlichen Zustand des eigenen und von der Bahn betriebenen Netzes. Richard Lutz als James Dean der Bahn AG: Denn sie wissen nicht, was sie tun.

Gefunden in Garbor Steingarts Morning Briefing. Dabei geht es …

… um die sogenannte „Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung III“, die der Bahn AG für ihre gebrechliche Infrastruktur ein Budget von gut 58 Milliarden Euro zur Verfügung stellen soll.

58 Milliarden Euro, offenbar einmalig auszuschütten: Das entspricht in etwa den jährlichen Kosten für die „Schutzsuchenden“ (vgl. Mo  11-11-19 Proportionen). Klarer Fall: Wir schaffen das, meint Bolle. Doch das nur am Rande. Interessanter scheint Bolle der folgende Punkt:

Der Managementzirkel.

Bolle ist immer wieder fasziniert, wie praktisch kleine, aber feine Systemdarstellungen doch sein können. Während üblicherweise die schiere Zieldefinition dem Volk bereits als „Durchbruch“ verkauft wird – ohne einen Hauch von »Plan« oder gar »Check der Mittel« (aktuell ist das bei der Grundrente so) –, verhalten sich die Dinge hier genau umgekehrt: »Check der Mittel« ist gebongt – 58 Milliarden eben. Dafür fehlen der »Plan« und sogar die »Ist-Analyse«. So wird aus Garbor Steingarts „Denn sie wissen nicht, was sie tun (sollen)“ unvermittelt: Denn sie wissen nicht, wo sie stehen. Eine erfrischende Variante im Management-Reigen. Bolle fragt sich zweierlei: (1) Wofür werden die eigentlich bezahlt? und, konstruktiv gewendet: (2) Könnte man sämtlichen Damen und Herren Entscheidern den Managementzirkel nicht einfach auf die Stirn kleben, auf daß sie sich in ihren langen „nächtlichen Verhandlungsrunden“ gegenseitig daran erinnern mögen, was genau ihr eigentlicher Job ist? Platz genug wäre ja. Aber das ist ein anderes Kapitel.