So 12-10-25 Die Urständ der Urkonstruktivisten

Strafrechtliche Flurbereinigung.

Neulich hat Bolle im Netz in einem jener Magazine geblättert, die sich selber solide journalistisch finden, im Wesentlichen aber stramm aktivistisch sind. Der Unterschied in nuce: Die einen versuchen zumindest zu sagen, was ist. Die anderen camouflieren das, was ihrer Ansicht nach doch bitteschön zu sein habe – Ja, nachgeradezu sein muß –, als reinsten Journalismus. Nun ja: jeder, wie er kann. Ist ja auch am einfachsten.

In dem Beitrag ging es darum, ob es nicht weiterhin ›Bürgergeld‹ heißen solle beziehungsweise gar müsse, oder ob mit ›Grundsicherung‹ nicht nämliches hinreichend umschrieben sei. Dabei lege – so der Autor – der Begriff ›Bürgergeld‹ nahe, daß die Betroffenen zwar arm, aber deswegen mitnichten weniger bürgerlich seien. ›Grundsicherung‹ dagegen insinuiere, daß es sich um Leute handele, die nicht in der Lage seien, ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft sicherzustellen.

Nun – letzteres ist zweifellos der Fall. Allein ersteres klingt natürlich besser, of course  – selbst wenn es sich bei einem Großteil der Betroffenen nicht einmal um Bürger – etwa im Sinne von ›Staatsangehörige‹ – handelt.

Ähnliches gelte unter anderem für Begriffe wie ›Zwangsbeiträge‹ für die an die Öffis  abzudrückenden Tribute, oder die Frage, ob vegetarische Schnitzel ›Schnitzel‹ heißen dürfen.

Allgemein: Darf ein Schraubenzieher ›Schraubenzieher‹ heißen, wo er doch mitnichten Schrauben zieht, sondern vielmehr dreht? Darf ein Zollstock ›Zollstock‹ heißen, wo er doch regelmäßig in Zentimeter unterteilt ist? Darf das Alte Testament so heißen? Oder könnte das – wie manche meinen – antijudaistische Assoziationen evozieren?

Dürfen die Deutschen ihre Handys hartnäckig ›Handy‹ nennen – wo es doch dieses Wort in dieser Bedeutung so sonst nirgendwo auf der Welt gibt?

Bolle geht diese ganze Dürfen-Debatte gehörig auf den Keks. Was dann? Bolle plädiert entschieden für alte Rechte. Wenn etwas jahrhundertelang gut genug war als Wort: warum dann plötzlich auf den Müll damit? Weil’s dem zivilisatorischen Fortschritt dient? Bolle bleibt da durchaus skeptisch.

Konnte James Tobin – nämlicher Tobin mit der Tobin-Tax, und im übrigen Wirtschaftsnobelpreisträger 1981 – im Jahre 1965 in einer amerikanischen Fachzeitschrift noch darüber nachdenken, wie sich die wirtschaftliche Lage der schwarzen Bevölkerung verbessern ließe (›On Improving the Economic Status of the Negro‹), wäre das heute, nur zwei Generationen später – ein Fanal zum Skandal. Warum eigentlich? Von etwaiger Abwertung des Negers kann in dem Beitrag wirklich keine Rede sein – im Gegenteil.

Auch hat sich Bolle bei seinem Lieblings-Pausenbrot nie von einem Neger geküßt gefühlt – oder auch nur im Entferntesten die Empfindung gehabt, einem Mohren den Kopf abzubeißen. Vor allem aber hat sich niemand – weder Bolle noch seine Peers –  beim Pennäler-Pausenbrot je moralisch über- oder unter- oder sonstwie gelegen gefühlt. Um es mit Gertrude Stein zu sagen: Ein Mohrenkopf ist ein Mohrenkopf ist ein Mohrenkopf – egal wie er nun heißen mag (vgl. dazu vor allem So 23-03-25 Konfuzius reloaded).

Ist es nicht vielleicht so, daß die Wirklichkeit nur sprachlich ins rechte Licht gerückt werden muß, um wirklich wahr zu werden? Das war immer schon der Traum aller Urkonstruktivisten – angefangen bei zum Beispiel Berger/Luckmann, die mit ihrer ›Gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit‹ (1966) nämliches für möglich hielten, wenn nicht gar für wahrscheinlich.

Ist also Sprache dazu da, die Wirklichkeit zu beschreiben? Oder soll sie dazu da sein, die Wirklichkeit zu gestalten? In Bolles Kreisen unterscheidet man soziale –, brachiale –, sowie juristische Normen. Ersteres meint das, was die Leute so ganz allgemein für richtig und für angemessen halten. Das zweite meint das, was der Journalismus 2.0 ganz im Geiste des Konstrukt­ivismus meint, den Leuten in die Köppe hämmern zu müssen – und zwar so lange, bis sie es, zumindest nolens volens, für richtig und für angemessen halten. Gesiegt hat das konstruktivistische Kalkül allerdings erst dann, wenn es gelingt, die brachiale Norm in den Rang einer juristischen Norm zu erheben. Fürderhin ist es nämlich regelrecht verboten (!), die Norm nicht zu beachten: aus Konstruktion wird Wirklichkeit.

Goethe übrigens, der alte Dichterfürst, der Princeps poetarum, meinte in seinen posthum herausgegebenen ›Gedichten‹ (1836) –

Die Sprache bleibt ein reiner Himmelshauch
Empfunden nur von stillen Erdensöhnen.

– wobei wir ›Erdensöhne‹ natürlich beider- bzw. allerlei Geschlechts verstanden wissen wollen, of course, und kommt dabei zu folgendem Schluß:

Wer fühlend spricht, beschwätzt nur sich allein …

Vielleicht müßte man heute präzisierend ergänzen: sich allein – und seine Bubble weltbewegter Bessermenschen. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 28-09-25 Polit / Presse / Populus – Der Tragödie zweiter Teil

So schräg kann’s liegen – immer noch …

Die Beziehung Polit→Populus ist, man kann das wohl kaum anders sagen, nicht weniger kaputt als die Polit/Presse-Symbiose – die ja eigentlich gar keine sein sollte (vgl. dazu So 21-09-25 Polit / Presse / Populus – Der Tragödie erster Teil). Das wird auch dann nicht besser, wenn wir ›kaputt‹ durch das nüchternere ›schräglagig‹ (neudeutsch: biassed) ersetzen.

Die politische Klasse ist eine Blase für sich. Zumindest hat sie sich im Laufe der letzten gut 75 Jahre – also innerhalb von nur zweieinhalb Generationen – langsam, aber sehr, sehr sicher dahin entwickelt.

Am Anfang war das Wort. Und das Wort besagte, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgehe, und daß selbige von selbigem „in Wahlen und Abstimmungen“ ausgeübt werde, unterstützt durch „besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung“. So wäre das in Ordnung und so steht es auch wörtlich und ausdrücklich in Art. 20 II GG.

Dabei gehen Wahlen nach allgemeiner Auffassung durchaus in Ordnung. Wäre es anders, ließe sich das Paratickma von der heiligen Kuh ›Demokratie‹ – der allgemein gemeinten Wegscheide zwischen den Guten und den Bösen – auch nicht vernünftig begründen. Allerdings – und das ist wichtig – wird doch sehr darauf geachtet, daß selbige nicht ernstlich was verändern. Wie heißt es doch beim Volk in Lästerlaune? Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie längst verboten (vgl. dazu auch So 11-12-22 Das elfte Türchen − der 3. Advent …).

Aber Abstimmungen? Das geht natürlich gar nicht – jedenfalls so lange nicht, wie es die Polit-Sphäre mit einem ihrer Ansicht nach schwererziehbaren Populus zu tun hat. Wer weiß, was denen alles einfallen könnte? Also lieber nicht. Daß Abstimmungen entgegen dem ausdrücklichen Wortlaut des Art. 20 II GG ausdrücklich nicht „mitgemeint“ sein sollen, das hat die sogenannte herrschende Lehre (h.L.) unter den Juristen sehr frühzeitig schon sehr deutlich klargestellt. Wo kämen wir denn da hin? Zustände wie in der Schweiz vielleicht? Das grenzte doch glatt an Anarchie.

Das Mißtrauen gegen das Volk sitzt tief – und im Grunde war das so von Anfang an. „Nie wieder“ hieß die Losung. Nie wieder Krieg – nie wieder Auschwitz – und natürlich auch nie wieder Nazis, of course. Da befinden sich ganze Generationen im permanenten Ausnüchterungsrausch – falls man das so sagen mag. Obwohl: mit dem Krieg sieht man das zurzeit nicht ganz so eng, wie’s scheint. Wenn’s doch der guten Sache dient – der „richtigen“ Seite der Geschichte, gar. Bolles O-Ton: Sancta simplicitas!

Kurzum: das Volk mußte und muß nach wie vor von möglicher Machtausübung tunlichst ferngehalten werden – aus rein erzieherischen Gründen. Und so kann es nur wenig verwundern, daß hochgespülte Vertreter der Classe politique in Schnatterrunden (neudeutsch: Talkshows) allen Ernstes zum Besten geben, daß so ziemlich alle wichtigen Entscheidungen – von der Westbindung über die Abschaffung der D-Mark, und was sonst noch so alles angestanden haben mag – gegen den Willen des Volkes, zumindest aber gegen den Willen der Mehrheit durchgesetzt wurden. Und das sei ja wohl auch alles ganz richtig gewesen. Kurzum: die Polit-Sphäre befindet sich, gewissermaßen von Anfang an, in einem Dauerzustand überlegenen Durchblicks – zumindest ihrer Meinung nach.

Von Hans Rimbert Hemmer, einem Entwicklungsökonomen, stammt das sogenannte Zweikreis-Theorem. Es besagt im Kern, daß es keinen Sinn mache, zwischen einzelnen Ländern als Interessengruppen zu unterscheiden. Die jeweils oberen Schichten beliebiger Länder – einschließlich aller Entwicklungsländer – seien einander sehr viel näher als die jeweiligen Völker sich unterscheiden. Prada-Taschen zum Beispiel werden in Timbuktu genauso angeboten und nachgefragt wie etwa in Paris, in Moskau oder eben Mailand. Bolle vermutet, daß es sich mit dem Polit-Personal aller Länder ganz ähnlich verhält. Mit dem Volk an sich hat man – einmal in der Blase etabliert – nur noch recht wenig zu tun. Man könnte das durchaus als eine Art von „Blasenschwäche“ sehen – mit der es sich aus der Sicht des Polit-Establishments allerdings höchst trefflich leben läßt. Wie sonst sollte man es interpretieren, wenn in so manch Schnatterrunde unfreiwillig komisch von den „Die Menschen da draußen im Lande“ die Rede ist?

Kurzum: Das Volk an sich, der Populus, wird leicht zur Randerscheinung im Polit-Getriebe – eine Art notwendiges Übel. Im günstigsten Falle ist es harmlos – völlig harmlos. Falls nicht, muß es eben auf Linie gebracht werden. Und ist es nicht willig, so braucht‘s halt Gewalt. Wenn’s doch zu Nutz und Frommen aller ist …

Dabei könnte auch hier alles so schön sein: Das Volk entscheidet – und zwar Wahlkreis für Wahlkreis – von wem es vertreten werden will. Und die Vertreter wären ihrem Wahlvolk verpflichtet, und niemandem sonst – und schon gar nicht ihrer Partei. Allerdings läuft die Entwicklung genau in die  Gegenrichtung: Mit der letzten Wahlrechtsreform ist es so weit gekommen, daß im Zweifel statt der per Erststimme gewählten (!) Volksvertreter via Zweitstimme irgendwelche Apparatschiks in den Bundestag einziehen, die niemandem verpflichtet sind außer ihrer eigenen Partei. Max Weber übrigens hat in seinem ›Politik als Beruf‹ 1919 schon unterschieden zwischen Leuten, die für die Politik leben und solchen, die von der Politik leben. Apparatschiks aller Art jedenfalls leben, wie’s scheint, von der Politik – und das meistens gar nicht mal so schlecht.

Wäre derlei womöglich verfassungswidrig? Natürlich nicht. Genau so nämlich steht es in Art. 38 I GG. Dort heißt es: Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.

Man beachte hier das „nur“. Von einem Parteienstaat mit seiner Entartung „Fraktionsdisziplin“ – wie es immer so schön beschönigend heißt – ist da überhaupt keine Rede. Im Gegenteil: In Art. 21 I GG heißt es klipp und klar: Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.

Man beachte hier das Wörtchen „mit“. Bolle ist es einigermaßen unverständlich, wie es bei der gegebenen Grundgesetzeslage zu einem Parteienstaat kommen konnte, in dem die einzelnen Volksvertreter nichts, die Parteien dagegen alles zu entscheiden haben – bis hin zur Kanzler- und Ministerwahl, also der Entscheidung darüber, wer das Volk regieren soll. Allein: Wenn sich’s doch lohnt? Dann weiter so! (Homans‘ Theorem Nr. 1 in Bolles Fassung). Es lebe die Blase!

Noch schöner wäre es natürlich, wenn das Volk nicht nur entscheiden könnte, von wem es vertreten sein will – also echten Kandidaten und nicht etwa herz-, hirn- und seelenlosen Parteien –, sondern auch und vor allem, von wem es regiert werden will. In den USA zum Beispiel ist genau das der Fall: Exekutive (der Präsident) und Legislative (der Kongreß mit Senat und Repräsentantenhaus) werden dort getrennt und völlig unabhängig voneinander (um jeweils zwei Jahre versetzt) gewählt. Bolle will das durchaus deutlich demokratischer anmuten. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 21-09-25 Polit / Presse / Populus – Der Tragödie erster Teil

So schräg kann’s liegen …

Zwar ist es nicht unbedingt so, daß alles mit allem zusammenhinge – aber doch immerhin so manches mit manchem. Das Ob und Wie ist dabei – wie es in Bolles Kreisen vornehm heißt – eine Frage der Ballungsebene. Wie dicht wollen wir ranzoomen an die Fülle der Erscheinungen der Welt? Zoomen wir zu nah, sehen wir jeden einzelnen Baum – verlieren dabei aber den Wald aus dem Blick. Und umgekehrt. Bei der Wahrheitssuche kommt es also nicht zuletzt darauf an, was genau man wissen will.

Unser Schildchen heute zeigt die Elemente ›Polit‹, ›Presse‹ und ›Populus‹ in einer ausgesprochenen Fernzoom-Perspektive – also richtig grob und holzschnittartig. Die einzelnen Bäume – um im Bild zu bleiben – sollen uns hier nicht weiter interessieren.

Dabei sei ›Polit‹ die gesamte politische Sphäre im weitesten Sinne – bis hin zu einschlägigen NGOs und auch einzelnen Paragonisten. Unter ›Presse‹ sei alles verstanden, was „irgendwie mit Medien“ zu tun hat – wobei wir uns allerdings auf den Mainstream beschränken können. ›Populus‹ schließlich sei schlicht und ergreifend das staunende Volk, das all das über sich ergehen lassen muß.

Damit wären unsere Systemelemente hinreichend genau bestimmt. Kommen wir zu den Beziehungen – also dem, was sich zwischen den Elementen abspielt. Dabei wollen wir unterscheiden zwischen dem Ist-Zustand und einem Soll- beziehungsweise Sollte-Zustand. Ersteres haben wir in schwarzer Schrift notiert, letzteres rötlich (und jeweils mit Ausrufezeichen versehen – Bolles üblicher Notation für Soll-Aussagen).

Gegenwärtig – also im Ist-Zustand – läßt sich die Beziehung Presse→Polit wohl am ehesten mit ›einschleimen‹ umschreiben. Welch wohlige Wonne im Dunstkreis der Macht! In der Gegenrichtung, also Polit→Presse, könnte man kurz und knackig auf ›einseifen‹ erkennen.

Das mag ein wenig hart und herzlos klingen. Allein so ist das nun mal auf hoher Ballungsebene: keine Zeit für Höflichkeit. Hier nämlich geht es vornehmlich darum, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Verfeinern kann man schließlich immer noch.

Zu Bolles Oberstufenzeiten – das ist ja durchaus schon ein Weilchen her – war es Mode zu argumentieren, man müsse (dieses oder jenes) „differenziert“ sehen. Bolle war damals schon entschieden der Ansicht, daß ›differenzieren‹ niemals ein Ersatz für integrieren sein kann – also die Dinge im Zusammenhang zu sehen. Das Modewort ›ganzheitlich‹ gab es damals übrigens noch nicht – jedenfalls nicht daß Bolle wüßte.

Um die ›Polit→Presse‹-Beziehung zu illustrieren, gibt es wohl kaum feineres Anschauungsmaterial als ›Wag the Dog‹ (USA 1997 / Regie: Barry Levinson / mit Dustin Hoffmann und Robert de Niro): Nachdem der Präsident eine Pfadfinderin gevögelt hatte und daher um seine Wiederwahl (in 11 Tagen schon) bangen mußte, zaubert eine eigens eingesetzte Under-Cover-Special-Task-Force einen nicht-existierenden ›B 3-Bomber‹ aus dem sprichwörtlichen Hut – und schon redet alles nur noch über einen möglichen Krieg. Die Pfadfinderin verschwindet dabei von den Titelseiten. Derweil heißt es bei den PR-Strategen: „Now they get it – Jetzt kapieren sie es.“ Treffer – versenkt!

Kurzum: Die Polit/Presse-Beziehung ist, wie sie sich derzeit darstellt, eine ausgesprochene Mesalliance (um mal einem wunderschönen alten Wort einen neuen Sinn zu geben), die zu niemandes Nutz und Frommen ist – am allerwenigsten des Populus‘.

Dabei könnte alles so schön sein. In einer von Bolle imaginierten besseren aller möglichen Welten (Voltaire 1759) sollte es möglich sein, daß die Presse der Polit-Sphäre gründlich auf die Finger schaut – wenn nicht sogar tüchtig klopft. Ein dummer Spruch, ein törichter Soundso-viel-Punkte-Plan, ein lächerliches Insta-Reel – und schon sollte es Häme hageln, daß es nur so rappelt in der Kiste. Schließlich sind die Paragonisten der Polit-Sphäre auch nur Menschen und agieren allzu gerne nach dem Motto: Wenn sich’s doch lohnt? Dann weiter so! (Homans‘ Theorem Nr. 1 in Bolles Fassung). Wenn sich’s aber, umgekehrt, nicht lohnen täte, weil man so richtig schnell und gründlich auf die Mütze kriegen würde, dann wäre wohl der Spuk mit einem Schlag vorbei – und der Weg frei für politische Umgangsformen, die den Namen auch verdienen würden. Das allerdings gehört wohl eher schon zur ›Polit→Populus‹-Beziehung.

Im Grunde würde es schon reichen, sich hin und wieder an Hanns Joachim Friedrichs‘ (1927–1995) Diktum zu erinnern und daran zu denken, daß man einen guten Journalisten daran erkennt, daß er sich nicht gemein macht mit einer Sache – auch nicht mit einer guten.

Umgekehrt – also im Verhältnis von Polit zu Presse – sollte es so sein, daß man letztere regelrecht fürchtet! – und zwar wie der Teufel das Weihwasser. Ganz nach dem Motto: „Ich sehe schon die Schlagzeile morgen in der Zeitung. Weia!“ – Kurzum: Jede Polit/Presse-Kumpanei sollte sich per se verbieten. Anders macht der Spruch von der Vierten Gewalt auch rein gar keinen Sinn – was allerdings die Presse-Sphäre mitnichten davon abhält, sich nach wie vor und im Brusttone der Überzeugung als solche zu gerieren.

So aber ergänzen sich ›einschleimen‹ und ›einseifen‹ aufs Feinste zu etwas, was die Angel­sachsen so trefflich-alliterativ ›slippery slope‹ nennen – einen schlüpfrig-glitschigen Abhang, an dem es nur eine Richtung geben kann: abwärts! – Und da sage noch einer, Fernzoom mache keinen Sinn.

Bleiben noch die Beziehungen ›Polit→Populus‹ und ›Presse→Populus‹ zu klären. Das aber ist dann doch schon wieder – jedenfalls für heute – ein ganz anderes Kapitel. Fortsetzung folgt!

So 31-08-25 Iustitia als Seherin

Iustitia voll ausstaffiert (nach einer Vorlage von Özgür Karabulut).

Nachdem unser letztes agnostisch-kontemplatives Sonntagsfrühstückchen ja durchaus etwas üppig geraten war, wollen wir uns heute wieder mit schmalerer Kost bescheiden – allerdings ohne dabei zu versäumen, unsere neue Kategorie ›Schlaglicht‹ einzuführen.

Neulich hat Bolle eine kleine Notiz zum Thema ›Sven Liebich‹ gefunden. Sven Liebig heißt jetzt Marla-Svenja Liebich, „liest“ sich neuerdings als Frau – und muß beziehungsweise darf eine verhängte Haftstrafe von immerhin 18 Monaten dementsprechend korrekterweise in einem Frauenknast antreten.

Verurteilt wurde Frau Liebich übrigens wegen Volksverhetzung (§ 130 StGB), Billigung eines Angriffskrieges (§ 140 StGB), Verstoßes gegen das Kunsturhebergesetz, übler Nachrede (§ 186 StGB) und Beleidigung (§ 185 StGB). Wenn man bedenkt, daß man heutzutage wegen einer Aufmunterung wie etwa „Bravo, Putin“ bereits Gefahr läuft, wegen Billigung eines Angriffskrieges gemäß § 140 StGB rechtskräftig verurteilt zu werden (vgl. dazu So 15-06-25 Immer auffem Sprung), dann dürfte es sich bei Frau Liebig um einen nicht wirklich schweren Jungen (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) handeln. Eher müffelt das ein wenig nach Ruhigstellung unliebsamer Zeitgenossen. In weniger demokratisch gesinnten Gesellschaften als der unseren würde man derlei durchaus mit politischer Justiz attribuieren können. An dieser Stelle aber laufen wir leicht Gefahr, daß sich die Schlaglichter regelrecht überschlagen. Lassen wir es für heute also lieber ruhig angehen und kommen wir zu unserem eigentlichen Thema ›Iustitia‹.

Iustitia, die Göttin des Rechtes beziehungsweise besser noch: der Gerechtigkeit, ist mit ihren mindestens 2.000 Jahren durchaus schon eine elderly lady. In den meisten Darstellungen gehören Augenbinde, Waage und Schwert zu ihren essentiellen Paraphernalia. Dabei soll die Waage für gründliches Abwägen stehen – letztlich also für Urteilskraft –, das Schwert für die Fähigkeit und die Bereitschaft, das für Recht erkannte auch durchzusetzen, und die Augenbinde schließlich für eine Rechtsfindung ohne Ansehen der Person – letztlich also gleiches Recht für alle.

Daß es sich hierbei um ein Ideal handelt, das es in der rauhen Wirklichkeit eher schwer haben dürfte, sieht Bolle natürlich ein, of course. Nicht umsonst kursiert unter Juristen ja der folgende Witz: „Der Richter ist der Mann, der entscheidet, welche Partei den besseren Anwalt hat.“ Indes: Ideale zu canceln mit der Begründung, es seien ja ohnehin „nur“ Ideale, scheint Bolle jetzt auch nicht wirklich ein Schritt in die richtige Richtung zu sein.

Kommen wir zu unserem Schlaglicht: Neulich begab es sich, da meinte einer aus der Gilde der Meinungsmacher, daß es ja wohl möglich sein müsse, einen „notorischen Neonazi“ – gemeint ist Frau Liebich – am „Mißbrauch“ eines Gesetzes zu hindern, ohne gleich das ganze Gesetz in Bausch und Bogen zu verwerfen. Bemerkenswert an dieser Stelle ist, daß sich besagter Journalist selber als eher „rechts“ bezeichnen würde und im übrigen durchaus als „Edelfeder“ gelten darf – also einer, der in der journalistischen Nahrungskette, zumindest was sein Gehalt angeht, recht weit oben residiert.

Auf unsere Göttin übertragen würde das nicht mehr und nicht weniger als folgendes bedeuten: Iustitia lupft ihre Augenbinde, sieht, wen sie da so vor sich hat, und erklärt feierlich – und womöglich gar im Namen des Volkes: „Ahh! Frau Liebig! Sind Sie nicht der notorische Neonazi? Sorry – aber unsere Gesetze gelten nur für die Guten.“ Ob sie dabei „unsere“ gedanklich, möglicherweise gar in ironischer Absicht, in Tüddelchen setzt, sei hier einmal dahingestellt.

Übertrieben? Leider, leider nicht. Denken wir nur an Ludwigshafen – wo dieser Tage ein höchst aussichtsreicher Kommunalpolitiker allein deshalb nicht zu den Guten zählen und sich daher nicht wählen lassen darf, weil er die Nibelungensage mag. Sehr viel substantuierter war die Begründung hinter dem üblichen Polit-Palaver in der Tat und allen Ernstes nicht. Der Beispiele fänden sich gar einige. Und? Was machen die Juristen? Machen – wie schon öfters mal in der Geschichte – immer feste mit! Nieder mit Iustitias Augenbinde! Gleiches Recht für alle? Wo kämen wir da hin? Allein: Iustitia als Seherin – als Göttin der Guten, sozusagen – ist jedenfalls ein Widerspruch in sich. Immerhin paßt das alles gar aufs Feinste zu Hülsenfrüchtchens Horizont. Oder, um es epigrammatisch zu fassen – Bolle liebt ja Epigramme:

Wenn die Guten tüchtig tuten
Statuten jämmerlich verbluten –
Dann ist es nicht mehr allzu weit
zu Hülsenfrüchtchens Herrlichkeit.

Das alles aber ist – wir ahnen es bereits – dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 24-08-25 Wissenschaft, die Wissen schafft

Die drei Daseins-Domänen.

Da sind sie wieder, unsere drei Daseins-Domänen – die Bolle ja meist zärtlich, aber wohl nicht weniger treffend, ›Die drei Töchter der Philosophie‹ nennt. Zuletzt verwendet hatten wir sie vor kurzem erst (vgl. So 03-08-25 Eritis sicut Deus, scientes veritatem et falsitatem) und davor vor knapp einem Jahr (vgl. So 06-10-24 Propaganda). Mittlerweile neigt Bolle ja der Ansicht zu, daß sich der allergrößte Teil des alltäglichen Unsinns, der tagein, tagaus so über einen kommt, durchaus vermeiden ließe, wenn man nur ein etwa halbes Dutzend – Bolle hat nachgezählt – Modelle beachten würde. Non multa, sed multum (lieber viel als vielerlei), also – eine Ansicht, die schon der römische Rhetoriklehrer Quantilian (ca. 35 bis ca. 96 n. Chr.) vertreten haben soll, und die Goethe, unser Dichterfürst, in seinem ›West-oestlichen Divan‹ (1819) auf seine ureigenste, geradezu idiosynkratische Weise epigrammatisch wie folgt gefaßt hat:

Getretner Quark
Wird breit, nicht stark.

Allein: Vergebens predigt Salomo. // Die Leute machen’s doch nicht so. (Wilhelm Busch).

Nun ist Wissenschaft – also die erste der drei Töchter – gegenwärtig schwer en vogue. Nüchtern betrachtet handelt es sich bei ›Wissenschaft‹ um ein gesellschaftliches Subsystem, das bestrebt ist, Gegebenheiten beziehungsweise Zusammenhänge zu erkennen. Das geschieht entweder (zumindest vordergründig) absichtslos oder aber zweckgerichtet. Ersteres nennen wir Grundlagenforschung, letzteres anwendungsorientierte Forschung. Dabei ist das, was wir ›Technik‹ nennen – zu der wir übrigens ohne weiteres auch die Medizin zählen können –, gewissermaßen die Krone der Anwendungsorientierung. Da wird ausprobiert, was funktioniert. Und wenn etwas funktioniert, dann nennen wir es ›wahr‹ im Sinne unseres Bildchens oben. Das ist dann einfach so. Und vielleicht liegen wir damit gar nicht mal so falsch – jedenfalls so lange nicht, wie wir nicht wirklich wissen, was Wahrheit an sich denn überhaupt sein soll.

Kant spricht hier gern vom ›Ding an sich‹ – dem jeglicher Beobachtung per se Unzugänglichen. Manche halten das gar für seinen wichtigsten Beitrag zur Philosophie. Im Kern kann Kant dabei nichts anderes meinen als das, was Bolle Welt I nennt.

Das Drei-Welten-Modell (3W)

In puncto Wahrheit jedenfalls scheint Bolle mit dem trichotomen WiWa-Modell (›Wirklich wahr?‹ // vgl. dazu zuletzt So 06-07-25 Kranksein – unser Preis fürs Dasein?) alles Wesentliche gesagt. Kieken wa ma. Vielleicht kommt ja noch mehr …

Wirklich wahr (WiWa) trichotom.

›Wissen‹ – also die Einsicht in Gegebenheit beziehungsweise Zusammenhänge – läßt sich nur einigermaßen gesichert erwerben, wenn man die Möglichkeit hat, etwas wieder und wieder und wieder zu überprüfen. Vornehm nennt man das übrigens ›verifizieren›‹ beziehungsweise, seit Popper (1902–1994) noch sehr viel vornehmer, das Gegenteil von etwas zu falsifizieren. Aber derlei hat mit Wissenschaft wenig zu tun und lenkt nur ab vom Wesentlichen.

Die Überprüfung vermuteten Wissens aber funktioniert nur ausnahmsweise und bei weitem nicht in allen Disziplinen, die sich „Wissenschaft“ nennen. Bolles Lieblingsbeispiel hier ist die „Entdeckung“ des Higgs-Bosons. Das Higgs-Boson ist ein schon 1964 von Peter Higgs und anderen theoretischen Physikern postuliertes Teilchen, das dafür verantwortlich sein soll, daß es so etwas wie Schwerkraft gibt.

Um zu vermeiden, daß man etwas glaubt (true), was dann möglicherweise doch nicht so ist (neg), mußte man erst einmal leistungsfähige Teilchenbeschleuniger entwickeln – und dann testen, testen, testen … Das ganze hat sich bis 2012 hingezogen – also fast 50 Jahre. Dann erst nämlich sollte der experimentelle Nachweis eines Higgs-Bosons gelingen. Wobei ›Nachweis‹ durchaus als Euphemismus durchgehen kann. Tatsächlich ist es nämlich so, daß besagtes Teilchen (nur) mit einem Signifikanzniveau von 5 σ nachgewiesen werden konnte. In der Graphik wäre das die Fläche unter der Kurve bei x =  5. Wir haben darauf verzichtet, das einzuzeichnen, weil ja bereits bei x = 4 nicht mehr viel los ist. Damit man sich das besser vorstellen kann: Die Wahrscheinlichkeit, daß man irrtümlich ein Higgs-Boson „entdeckt“ hat, entspricht der Wahrscheinlichkeit, mit einer Münze 22 (!) mal in Folge Kopf zu werfen (oder Zahl – ist egal). Viel Spaß beim experimentellen Überprüfen!

Ei, der Gauß …

Zum Vergleich: In den meisten sozial orientierten Wissenschaften begnügt man sich dagegen mit einem Signifikanzniveau von gerade einmal 5 Prozent. Das entspricht der Wahrscheinlichkeit, bescheidene 5 (!) mal hintereinander Kopf (oder Zahl) zu werfen. Das hat Bolle tatsächlich ausprobiert – und gerade einmal 17 Würfe gebraucht, um 5 mal hintereinander ›Zahl‹ zu erzielen.

Kurzum: die meisten Wissenschaften wissen nichts. Was sie allerdings nicht davon abhält, so zu tun, als wüßten sie was. Bolle meint: ›Wissenschaft, die Wissen schafft‹ geht anders. Um das breite Publikum zu bluffen, reicht es indessen allemal.

Um hier etwas Klarheit reinzubringen, unterscheidet Bolle zwischen Repro-Disziplinen und Non-Repro-Disziplinen. Dabei sind erstere Wissenschaften, in denen es möglich ist, ein und denselben Zusammenhang wieder und wieder zu überprüfen – solange, bis man nach menschlichem Ermessen einigermaßen sicher sein kann, daß es „wirklich“ so ist. Das übliche Unwort „exakte Wissenschaften“ – also Wissenschaften, wo man etwas rechnen kann – mag Bolle dagegen gar nicht in den Mund nehmen. Aus der Möglichkeit, etwas in Zahlen oder Formeln zu verpacken, folgt nämlich keineswegs, daß das ganze damit auch nur einen Deut wahrer würde. Bestenfalls wird es beeindruckender für das breite Publikum. Bolle sieht hier den – durchaus verständlichen – Wunsch der Paragonisten der Non-Repro-Disziplinen, doch bitteschön auch als „echte“ Wissenschaft anerkannt zu werden. Viel mehr als einen eingefleischten Minderwertigkeitskomplex (Alfred Adler 1912) vermag Bolle hier aber nicht zu erkennen.

Alles andere ist natürlich auch ehrenwert – aber eben nicht repro. „Wissen schaffen“ läßt sich so nicht. Philosophieren allerdings läßt sich sehr wohl. Folglich haben wir es hier mit Sozialphilosophie zu tun: Die jeweiligen Wissenschaftler meinen, etwas sei so (oder so) – entziehen sich dabei aber jeglicher Nachprüfbarkeit. Kann sein, kann nicht sein. Wer weiß …?

Das alles wäre gar nicht weiter schlimm – würden solche Wissenschaftler nur nicht wie gekränkte Kinder darauf bestehen wollen, daß sie Wissen schaffen. Sie tun es nicht.

Ganz schlimm ist es übrigens bei den Juristen. Die Rechtswissenschaft hat mit ›Wissenschaft, die Wissen schafft‹ rein gar nichts zu tun. Das ergibt sich bereits aus ihrer Zugehörigkeit zu der Daseins-Domäne Schwester Ethik. Wir haben es hier mit einem Set von Sollens-Aussagen zu tun – und keinesfalls mit Ist-Aussagen (Schwester Logik). Allerdings muß man den Juristen zugute halten, daß sie sich (seinerzeit jedenfalls) sehr ernsthaft mit der Frage beschäftigt haben, ob es sich bei ihrer Disziplin denn überhaupt um eine Wissenschaft handele. Die naheliegende Antwort – Nein – ist dann allerdings irgendwie auf dem Schutthaufen der Geschichte untergegangen.

So richtig peinlich wird es allerdings, wenn Vertreter (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) ausgerechnet dieser Zunft meinen, ihre „Wissenschaftlichkeit“ hervorheben zu müssen (vgl. dazu So 03-08-25 Eritis sicut Deus, scientes veritatem et falsitatem). Auf wirkliche Wissenschaftler kann derlei natürlich nur nachgerade lächerlich wirken, of course.

Kurzum: was solchen Disziplinen fehlt, ist eine solide schnelle Feedback-Schleife.

Der Problemlösungszirkel (PLZ).

Es hapert hier also am Soll/Ist-Abgleich. Wenn ich – dies als ebenso naheliegendes wie hoffentlich anschauliches Beispiel – ein Programm programmiere und der Interpreter (also das Programm, das meine Programmierung maschinenlesbar machen soll) spuckt immer wieder „Error“ aus, dann weiß ich, daß ich sprichwörtlich Scheiße programmiert habe und werde es umgehend ändern – und zwar so lange, bis es funktioniert. Oder aber, ich lasse davon ab (Pfeil b) und behellige die Menschheit nicht weiter damit.

In der Sozialphilosophie fehlt ein solcher präziser Feedback-Mechanismus. So könnten wir uns bis heute (und in alle Zukunft) trefflich streiten, ob das, was (nur zum Beispiel) Karl Marx meinte, in irgendeiner Weise wahr gewesen sein mag – oder eben nicht. Dem Philosoph ist nun mal nichts zu doof. Er (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) mag dazu beitragen, sich ein Bild von der Welt zu machen (siehe oben Welt III). Das ist durchaus ehrenwert – und vermutlich auch unverzichtbar. Schließlich zählt das Orientierungsbedürfnis zu den vier kognitiven Grundbedürfnissen (SOSS). Mit ›Wissen schaffen‹ aber hat es nichts zu tun.

So – damit hätten wir immerhin fünf von derzeit sechs Modellen in unser heutiges agnostisch-kontemplatives Sonntagsfrühstückchen eingebaut. Falls einem das alles nicht auf Anhieb restlos klar sein sollte. Don’t worry – be happy. Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut. Darauf vielleicht erstmal einen Schnaps zum Frühstück. Bolle jedenfalls macht das so. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 22-06-25 Der Faschismus ist tot – Es lebe der Schafismus!

🎶 Allons moutons de la folie // Le jour de noir est arrivé … 🎶

Der Faschismus ist tot. Mausetot. Substantiell war ihm ja ohnehin nur eine äußerst bescheidene Lebenspanne auf Erden beschieden. So nämlich hatte Benito Mussolini ab 1922 seine – wenn man das so sagen kann – Reformbewegung genannt. Was das mit einem Bündel, un fascio, zu tun haben sollte, war wohl schon damals nicht ganz klar. Auch war rund zwanzig Jahre später schon wieder Schluß mit der Reformbewegung und mit Mussolini überhaupt. Ursächlich dafür waren seinerzeit kommunistische Partisanen, die des Duce del Fascismo arg überdrüssig waren.

Allein, als hohle Hülle hat der Begriff dann spektakulär Karriere gemacht. Totgesagte leben nun mal länger. Wohl alles eine Frage des Brandings. Und so kam der amerikanische Politologe Paul Gottfried nach gründlicher Sichtung des Forschungsstandes in seinem ›Fascism – The Career of a Concept‹ (2016) auch zu dem Ergebnis, daß ›Faschismus‹ im Grunde ja wohl alles meine, was einem gegebenen Paragonisten als „tief abstoßend“ aufstoßen mag. In einer der jüngsten Observanzen, die Bolle neulich erst zu Ohren gekommen ist, heißt es dann auch, so gesehen durchaus konsequent: Konservativ ist gleich rechts ist gleich Faschismus. So kann’s gehen, wenn Forscher abheben, kreisen, und niemals wieder landen – um hier mal ein Bonmot von Wassily Leontief (1905–1999), einem wirtschaftsweisen Nobelpreisträger, zu bemühen. In Bolles Kreisen spricht man auch vom Reziprozitätsgesetz der Sprachwissenschaften: Je vager und je platter ein Begriff (Intention), desto reichhaltiger seine potentielle Verwendungsfülle (Extention).

Bolle dagegen hat unter ›Faschismus‹ schon immer kaum mehr verstanden als eine Staatsorganisationsform, die dem Motto ›Alle sollen gleich sein wollen‹ huldigt. Dabei geht es also nicht nur darum, daß alle gleich sind – nein, sie sollen es auch wollen. Trefflich auf den Punkt gebracht hat das übrigens George Orwell in seinem finsteren ›Nineteen Eighty-Four‹ (London 1949), wo der Protagonist Winston Smith von seiner Renitenz, seinem Überhaupt-nicht-gleich-sein-Wollen, zunächst vollständig geheilt und dann erst gnaden- und einsichtsvoll erschossen wurde. Schließlich sollen alle mitgenommen werden – niemand soll zurückbleiben müssen.

Übrigens sind damit, in einem Abwasch gewissermaßen, auch alle angeblichen Unterschiede zwischen Rechts- und Linksfaschismus vom Tisch. Mit dem ganzen Lechts/Rinks-Gedöns (Bolle featuring Ernst Jandl 1966) konnte Bolle ja bekanntlich noch nie sonderlich was anfangen.

Auch ist der finstere Orwell’sche Faschismus ohnehin „sowas von 20. Jahrhundert“ – um es mal jugendsprachlich auszudrücken. Heute sind wir deutlich weiter, of course. Einen modernen, zeitgemäßen Faschismus hat Bolle sich schon immer eher so vorgestellt wie in Huxleys ›Schöne Neue Welt‹ (1932) – also lange nicht so verkniffen und auch längst nicht so letal. Schließlich gibt es mildere Mittel, die Schäfchen bei der Stange zu halten. Um sie auf dem rechten Weg zu führen, reicht es ja oft schon aus, ihnen gegebenenfalls die Scheckkarte oder das Handy wegzunehmen oder selbiges auch nur vage als Möglichkeit im Raume schweben zu lassen. Und wer partout nicht gleich sein will, wird (bei Huxley) eben auf irgendeine einsame Insel abgeschoben, auf daß er dort nach seiner Fasson glücklich werden möge – solange er nur die Harmonie der Schönen Neuen Welt, das Gleichgewicht der Gleichen, nicht länger stört. Noch ist es allerdings so, daß wir uns im richtigen Leben in der Tendenz mit Warnhinweisen begnügen müssen: „Die Lektüre dieses Buches kann Ihrem gesunden Gleichsein-Wollen schaden“ – oder so ähnlich.

Kurzum: das alles schreit nach einem trefflicheren Worte. Und so hatte es Bolle in Ermangelung eines besseren Einfalles zunächst mit ›Filigran-Faschismus‹ probiert. Allerdings hat sich das als noch längst nicht knackig genug erwiesen. Außerdem, findet Bolle, wird es nach einhundert Jahren allmählich hohe Zeit, sich endlich des leidigen Grundbegriffes endgültig zu entledigen. Des Bla-Bla ist genug gewesen …

Daher also der ›Schafismus‹. Schafismus statt Faschismus. Inspirieren lassen hat sich Bolle hier vom Verlan – einer französischen Jugendsprache, die neue Wörter produziert, indem sie Silben (oder andere Elemente) gegebener Wörter gekonnt und durchaus künstlerisch verdreht. So wurde eben aus ›l’envers‹ (das Umgekehrte) ›Verlan‹, die Jugendsprache. Bolle lieebt die Dichtkunst der Franzosen.

Einmal im Schwunge, hat sich auch gleich ein passender Text zum Thema einfinden wollen – passenderweise mitten in der Marseillaise: 🎶 Allons moutons de la folie // Le jour de noir est arrivé … 🎶 – wobei Bolle seine Adaption ausdrücklich als Hommage an aufbruchsfrohere Zeiten verstanden wissen will. Der Rest der Hymne sei berufeneren Bänkelsängern überlassen.

Beim Umdichten der ersten Zeilen mußte Bolle lediglich ›enfants‹ (Kinder) durch ›moutons‹ (Schafe) ersetzen, ›Patrie‹ (Vaterland) durch ›folie‹ (Wahnsinn), und ›jour de gloire‹ (Tag des Ruhmes) durch ›jour de noir‹ (schwarzer Tag). Französisch ist einfach eine herrliche Sprache, wenn es dezidiert um Dichtkunst geht. Und so wird aus ›Auf, auf, Ihr Kinder dieses Landes // Der Tag des Ruhmes bricht heut‘ an‹ frei übersetzt – Französisch muß man frei übersetzen –  ›Auf, auf, Ihr derangierten Schafe // Von nun an geht es steil bergab‹.

Und schon paßt das alles auf deren Schöne Neue Zeit wie der sprichwörtliche Arsch auf den Eimer. Viva il schafismo! Ob sich das aber – nicht zuletzt auch im Italienischen – begrifflich wird durchsetzen können, bleibt natürlich abzuwarten. Immerhin weiß Bolle jetzt, was zu tun und was zu erwidern ist, wenn ihm das nächste mal einer dieser Ewiggestrigen (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course), womöglich nach dem dritten Bier, mit historisch heillos abgedroschenen, einhundert Jahre alten Etikett-Aufklebern (in Bolles Kreisen kurz ›Etas‹) kommt und dabei auch noch meint, damit was auch immer aussagen zu können. „Faschist!“ – „Selber Schafist!“ So entstehen geistreiche Gespräche – zumindest nach dem dritten Bier. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 08-06-25 Wenn Glocken richtig rocken

Ei, der Gauß …

Nach den doch eher etwas fluffigeren Sujets der letzten Sonntagsfrühstückchen wollen wir uns diesmal wieder einem strikteren Gegenstand zuwenden. Kenner werden es sogleich erkannt haben: Wir reden hier von der Gauß’schen Glockenkurve. Ersonnen hat sie Carl Friedrich Gauß (1777–1855), der zu Lebzeiten schon als Princeps mathematicorum, also Erster seiner Zunft galt, seinerzeit im Jahre 1809.

Was will uns Gauß damit sagen?

Stellen wir uns ein Weizenfeld vor (etwaige Allergiker, beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course, mögen sich mit einem Dinkelfeld begnügen). Nehmen wir an, die Halme seien im Mittel 100 cm hoch (in der Graphik entspricht das der 0) und hätten eine sogenannte Standardabweichung von ±10 cm (in der Graphik entspricht das dem Bereich zwischen –1 und +1). Das bedeutet, daß wir erwarten können, daß 2/3 der geernteten Halme zwischen 90 und 110 cm lang sein werden und damit „Mittelmaß“. Natürlich werden sich auch Halme finden, die zwischen 110 cm und 120 cm hoch sein werden. Allerdings, das sagt uns die Glockenkurve, wird das nur rund 1/7 der Halme sein. Noch größer als 120 cm – auch das kommt vor – werden nur noch 1/44, also knapp 2,5% der Halme sein (in der Graphik das Feld ›top‹). Das Gegenstück ›ui‹ übrigens steht für ›unterirdisch‹ – obwohl das, zugegebenermaßen, bei Halmlängen ein schiefes Bild ergibt. Oder – auch das sagt die Graphik aus – um zum oberen Drittel zu gehören, müßte ein Halm wenigstens gut 104 cm lang sein (rote Linie). Damit wäre er zwar immer noch Mittelmaß – allerdings schon leicht überdurchschnittlich.

Wer nun meint, was interessieren mich Weizen- oder Dinkelfelder? Mehl kommt mir aus der Tüte beziehungsweise Brot gibt’s beim Bäcker – dem sei gesagt, daß sich die Gauß’sche Glockenkurve auf erstaunlich viele Bereiche im wirklichen Leben anwenden läßt – unter anderem auf so weizenferne Felder wie Leistungsfähigkeit und -bereitschaft (also etwa Schulnoten, wenn sie denn gerecht vergeben würden) oder eben auch auf das, was wir hier politische Urteilskraft nennen wollen.

Übertragen bedeutet das: Unter den Bedingungen einer Demokratie werden Leute mit guter oder sehr guter politischer Urteilskraft schwerlich regieren können – einfach, weil sie nicht in der Mehrheit sind. Selbst für eine sogenannte Sperrminorität (rote Linie) wird es absehbar eng, weil es dafür nötig wäre, einen gehörigen Teil des Mittelmaßes zu gewinnen. Die Vorzüge einer Demokratie können also nur woanders liegen. In der Gauß’schen Glockenkurve jedenfalls liegen sie nicht.

Was aber soll das überhaupt sein, politische Urteilskraft? Die einfachste und ganz naheliegende Antwort wäre wohl: Politische Urteilskraft hat in meinen Augen, wer die Partei wählt, die ich selber auch wählen würde. Easy – aber führt zu nichts. Drehen wir den Spieß also um: Was würde nahelegen, daß es einem (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) an selbiger mangelt? Im Wesentlichen wohl, daß er nicht wirklich in der Lage ist, sich ein Bild zu machen von den jeweiligen Paragonisten (neudeutsch: Akteuren) oder Gegebenheiten. Da bricht einer alle Wahlversprechen, gelobt kurz vor der Wahl Besserung – er habe es schließlich nicht besser wissen können – und wirbt treuherzig um „Vertrauen“. Und die Leute wählen ihn wieder. Da werden im Vorfeld einer Wahl regelmäßig regelrechte Plakatschlachten veranstaltet – und mancher Wähler läßt sich, wie’s scheint, davon dann doch irgendwie beeindrucken. Da postet einer schicke Reels auf Insta – und kriegt dafür (!) die Stimme. Da gibt es Last-Minute-Wähler, die zehn Minuten vor der Stimmabgabe noch immer nicht wissen, was sie wählen wollen – als hätten sie nicht Monate und Jahre Zeit gehabt, sich ein solides Bild zu machen und zu einem fundierten politischen Urteil zu kommen. Schließlich gibt es auch noch Wähler, die wählen sowieso immer, was sie schon immer gewählt haben – egal, was auch immer die Paragonisten veranstalten mögen: Traditionales Verhalten, halt. Kurzum: Mangelnde politische Urteilskraft scheint ein Spezialfall von mangelnder prognostischer Kompetenz zu sein: Die Unfähigkeit zu erahnen, was passieren wird, wenn dieses oder jenes so weitergeht. Kognitive Kurzsichtigkeit also. Oder, wie Bolle das womöglich resümieren würde:

Kurzum –
Und dabei völlig ohne Hohn:
Ein klitzekleines bißchen dumm
Wirkt das alles dann doch schon.

Und so sucht, entgegen dem völlig anderslautenden Paratickma, auch kein Aas das angeblich bessere Argument, sondern lediglich die bessere Agitation. Auch hier scheint, einmal mehr, ›Luhmanns Law‹ zu gelten. In Bolles Fassung lautet es (vgl. dazu Mo 12-12-22 Das zwölfte Türchen …):

Das System erzeugt die Elemente,
aus denen es besteht,
mittels der Elemente,
aus denen es besteht.

Wir haben es hier also wohl einfach nur mit zielgruppengerechter Ansprache zu tun – wobei die Zielgruppe das Mittelfeld ist, also der Bereich zwischen –1 und +1. Und die Medien mischen munter mit. Daher womöglich auch der geradezu heilige Zorn gegen alles, was sich davon nicht einfangen lassen will, geschweige denn unterhaken – und damit das Idyll einer Schönwetter-Demokratie trübt. Im Überschwange geht das dann so weit, daß manche ernstlich meinen, Einigkeit sei eine demokratische (!) Tugend. Hört, hört! Mit derlei wird man leben müssen – und gegebenenfalls auch leiden. Abhilfe ist nicht in Sicht – und zwar aus rein mathematischen Gründen nicht. Was aber rein mathematisch nicht funktioniert, kann auch in der besten aller möglichen Welten (Voltaire 1759) nicht funktionieren. Eine damit oft verbundene regelrechte ideologische Überhöhung aber – 🎶 Im Westen, im Westen, da ist‘s ja wohl am besten, Fidirallala, … 🎶 – können wir getrost den Hülsenfrüchtchen überlassen.

Eines aber wollen wir dabei – Bolle featuring Marx/Engels 1848 – nicht vergessen: Die Parlamentarier haben nichts zu verlieren als ihre Buletten. Sie haben ihre Welt zu gewinnen. Parlamentarier aller Länder, vereinigt Euch! – namentlich gegen Wahlvolk mit mittelmäßiger politischer Urteilskraft. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 25-05-25 Abisurd

Ab in den Orkus …

Letzte Woche (So 18-05-25 Die Grenzen des Unsäglichen) hatten wir am Rande erwähnt, was sich mit elaborierteren Formen von kreativem Konstruktivismus so alles anstellen läßt. Da gibt es praktisch nichts, was es nicht gibt. Das gilt im Großen wie im Kleinen. Hier ein Beispiel aus dem Klitzekleinen.

In einem Provinz-Gymnasium wurde ein Abitur-Motto gesucht. Wozu ein solches gut sein soll, weiß Bolle nicht zu sagen. Seinerzeit ist man auch ohne Motto gut zurechtgekommen. Aber lenken wir nicht ab. Unter den eingereichten Vorschlägen fanden sich die folgenden drei Steine des Anstoßes:

Abi Akbar – Explosiv durchs Abi
Abi macht frei
NSDABI – Verbrennt den Duden

Und schon war die Hölle los in der Provinz. Die Sprüche seien antisemitisch, rassistisch und diskriminierend. Was was sein soll – und vor allem auch, warum –, hat sich Bolle nicht wirklich erschließen wollen. Von den anderen Vorschlägen – es wird wohl hoffentlich welche gegeben haben – ist nichts bekannt. Auch ist nicht klar, ob ›Abi‹ als Element des Mottos möglicherweise vorgegeben war und damit einschlägige Wortspiele gesucht wurden – so wie zum Beispiel unser ›Abisurd‹ im Titel. Kurzum: Wir wissen wenig bis nichts. Nur, daß das alles furchtbar skandalös sein soll, wie das örtliche Lokalblatt nicht ohne gehörigen Grusel zu vermelden wußte.

Wie aber konnte es überhaupt zu dem Skandal kommen? Nun, offenbar hatte es eine Ausschreibung gegeben, bei der jeder (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) online einerseits anonym Themenvorschläge einreichen konnte und andererseits auch per like bewerten. Damit hätte alles sein Bewenden haben können. Man muß als Organisationsteam ja keine Vorschläge aufgreifen, die man uninspiriert findet, geschmacklos gar, oder die man für zu politisch hält. Aber Nein: Man rennt mit dem „Vorfall“ zum Schulleiter und petzt. Der hängt das ganze an die große Zeitungsglocke, schaltet die Polizei ein und überdies die ›Fachstelle für Demokratieförderung und phänomenübergreifende Extremismusprävention (DEXT)‹ und nimmt Kontakt zum ›Landesportal Hessen gegen Hetze‹ auf. Die wiederum haben einen heißen Draht zum LfV (Landesamt für Volkserziehung).

Und? Wie geht der kommende Abiturjahrgang damit um? Man befleißigt sich „brutalstmöglicher“ (Bolle featuring Roland Koch 2000) Distanzierung: Man lehne „ausdrücklich“ diese Personen und die vermittelten Botschaften ab – welche „Botschaften“, by the way? – und fordere, wiederum ausdrücklich, Konsequenzen. Man stelle sich „klar“ gegen … bla, bla, bla. Bolle meint: Braver geht nimmer.

Womöglich steckt denen ja das Schicksal der Sylter Sängerknaben (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) mit ihrer ›Döp-dö-dö-döp‹-Darbietung (nach dem 1999er Schlager von Gigi D’Agostino) vom Sommer letzten Jahres einschließlich der massiven medialen Verprangerung noch gehörig in den Knochen. Vielleicht ist es aber auch einfach nur das Bedürfnis, auf der vermeintlich richtigen Seite, wenn schon nicht der Geschichte, so doch zumindest der Gesellschaft zu stehen.

Was hat das mit unserem heutigen Schildchen zu tun? Unser Schildchen beschreibt den Weg von einem beliebigen Ausgangspunkt A hin zu einem nicht minder beliebigen Ziel Z – wie er jedem beliebigen Problemlösungszirkel (PLZ) zugrunde liegt (vgl. dazu etwa So 16-03-25 Pferd verkehrt und Ritterehre oder Der super-duper Masterplan). Weniger spezifisch könnte A auch für ein beliebiges Ansinnen oder eine beliebige Ambition stehen, und Z für einen beliebigen als wünschenswert angesehenen Zustand.

Nehmen wir an, der Weg an sich sei – etwa aufgrund gründlicher Vorbereitung – klar und eben. Wenn da nur die vielen Stop-Schilder nicht wären, die jedwede Bestrebung geradezu magisch in Richtung Orkus lenken – das Reich des Banalen und Dysfunktionalen: Darf man leider nicht tun – Darf man leider nicht sagen – Am besten nicht mal denken. Stop-Schilder, das wären zum Beispiel: „das spielt den falschen in die Hände“, das ist rechtsextrem, das ist diskriminierend, das ist antisemitisch, das ist frauen-, menschen- oder sonst-was-feindlich. Dabei werden der Schilder immer mehr – was an dem Geist der Zeiten liegen mag.

Das Problem an dieser Stelle: Die Kriterien sind so allgemein gehalten – man könnte sagen: derart wischi-waschi –, daß sich mit einer entsprechenden konstruktivistischen Phantasie praktisch alles darunter subsumieren ließe. Hier, pars pro toto, nur zwei Beispiele:

Ein Stop-Schild, das sich in gewissen Kreisen zunehmender Beliebtheit erfreut, ist „Haß ist keine Meinung“. Bolle bieder: „Definiere Haß.“ Hier muß man einfach nur alles, was einem nicht paßt, zur „Hate Speech“ erklären – eine Begründung erübrigt sich völlig – und schon steht das Schild.

Zweites Beispiel: In einer Umfrage hieß es: „Finden Sie, daß Juden zu viel Einfluß haben?“ Wehe, man hat Ja gesagt. Klarer Fall von Antisemitismus – wie es in der Presse hieß. Stop! Stop! Stop! Nehmen wir umgekehrt an, jemand meint, der Papst habe zu viel Einfluß. Ist er dann ein Antichrist …? Man möcht‘ es fast für möglich halten.

Natürlich lassen sich unter solchen Bedingungen, wenn sie überhandnehmen, weder Projekte verwirklichen noch Ideen formulieren oder gar diskutieren. In Bolles Kreisen spricht man – streng mathematisch – auch von ›Nebenbedingungen‹: Je mehr davon, desto Essig ist es mit einer Lösung. Und ebenso natürlich kann eine Gesellschaft unter solchen Bedingungen nicht gedeihen. Schon gar keine Gesellschaft, die sich selber gern als ›frei‹ ansieht. Eher wird sie sich in toto selber in den Orkus spülen. Bolle findet, letztlich ist das ooch egal. Schön anzusehen aber ist es gleichwohl nicht. Unversehens kommt ihm da der Goethe in den Sinn:

Und fragst du noch, warum dein Herz
Sich bang‘ in deinem Busen klemmt?
Warum ein unerklärter Schmerz
Dir alle Lebensregung hemmt?

Das Verhalten der angehenden Abiturienten jedenfalls ist für Bolle einfach nur ein schönes Beispiel für einen kläglichen Konformismus, wie ihn sich Heinrich Mann in seinem ›Der Untertan‹ (1918) damals schon nicht schöner hätte denken können. Die Vorstellung, daß solche Leute demnächst Politiker sein könnten und sich dabei berufen fühlen, die Geschicke des Landes zu lenken … Deprimierend. Umgekehrt erklärt das natürlich einiges, of course, wie ein Blick in die jüngste Zeitgeschichte eindrücklich nahelegt. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 18-05-25 Die Grenzen des Unsäglichen

Das Wichtigste schon mal geklärt.

Oh Zeiten, oh Sitten. Manchmal muß man sich ja wirklich fragen, ob man es nicht genießen soll, in vergleichsweise bewegten Zeiten zu leben, oder ob man das mit der Bewegung nicht auch übertreiben kann. Bolle, von Haus aus eher genügsam, findet ja, frei nach dem ›Vorspiel auf dem Theater‹ in Goethes Faust (1808):

Des Chaos ist genug gewesen,
Laßt mich auch einen Lichtblick sehn!

In den letzten Jahren ist aber auch wirklich alles schiefgelaufen. Wollte man bestimmen, ab wann, müßte man eigentlich schon passen. Wenn’s läuft, dann läuft’s. Wenn’s schiefläuft, dann auch. Dabei ist es schwierig bis unmöglich, bei „exponentiellen“ Entwicklungen – um mal ein Modewort aus der Corönchenzeit zu bemühen – einen Anfangspunkt zu bestimmen. Exponentielle Entwicklungen haben nun mal keinen „Anfangspunkt“. Alles, was sie haben, ist Eigendynamik. Versuchen wir es dennoch, grob und überschlagsweise.

Im Jahre 2015 kam das Migrationsdebakel über das Land. Nun könnte man sagen – und viele tun das auch: Tja, da kannste nüscht machen. Seit 2018, also gut zwei Jahre später, durften wir erleben, wie sich die Klimakrise breitmacht auf der Welt. Damals ging das los mit den Sitzstreiks einer gewissen Greta Thunberg, die sehr schnell und sehr gründlich Popstar-Status erlangen sollte. Wiederum zwei Jahre später, 2020, beglückte uns die Welt dann mit Corönchen, einem hochgehypten Schnupfen – der der ganzen Welt drei Jahre lang die Luft zum Atmen nahm. Und abermals zwei Jahre später, 2022, erfrechte sich ein russischer Imperator, sein Nachbarland zu überfallen, und brachte damit die bräsige Welt des Westens vollends durcheinander.

Kurzum: eine Katastrophe jagt die nächste – so ziemlich im Zwei-Jahrestakt. Wobei die Katastrophen einander nicht etwa ablösen – konsekutive Katastrophen, also. Nein, sie schichten sich übereinander. In Bolles Kreisen spricht man hier auch von kumulativen Katastrophen.

Liegt das nun an einer kosmischen Katastrophen-Konstellation, Hummer in Saturn etwa, oder so – Bolle kennt sich hier wirklich ganz schlecht aus –, gegen die man nun mal nichts machen kann? Oder liegt es einfach an schlichter Überforderung der Polit-Prominenz nebst ihrer Statthalter oder doch zumindest Steigbügelhalter in Presse, Funk und Fernsehen, was den Umgang mit derlei angeht? Bolle tippt definitiv auf letzteres.

Die dominante Problemlösungsstrategie – eine für alle beziehungsweise, neudeutsch, one fits all – scheint Bolle eine fortgeschrittenere Form von Konstruktivismus, gewürzt mit einer tüchtigen Portion Monetarismus zu sein.

Die Grundidee des Monetarismus, im weiteren Sinne, of course, geht ja wie folgt: es gibt kein Problem auf der Welt, das man nicht mit einer gehörigen Portion Penunse oder Pinkepinke zuscheißen könnte – um es mal lutherisch-derb auszudrücken. Die Grundidee des Konstruktivismus dagegen muß wohl lauten: Es gibt kein Problem auf der Welt, das man nicht mit gehöriger semantischer Raffinesse solide wegsäuseln könnte. Beide Grundideen tragen nicht, of course – jedenfalls nicht „nachhaltig“. Eher geht der Krug zum Brunnen, bis er bricht. Dann kommt es, wie immer, zu den üblichen langen Gesichtern und der herzergreifenden Versicherung, das habe man nicht wissen können. Bolle, streng wie selten: Habe man wohl!

Umgekehrt übrigens funktioniert diese Form von forschem Konstruktivismus genauso: Es gibt kein Problem auf der Welt, das sich nicht herbeireden ließe. Das jüngste Elaborat des BfV, das Bolle – semantisch sehr viel sauberer – nur noch ›Bundesamt für Volkserziehung‹ nennen mag, ist hierfür wohl nicht das schlechteste Beispiel. Aus der „Verschiebung der Grenzen des Sagbaren“, die man der AfD so gerne unterstellt, wurde da eine Verschiebung der Grenzen des Unsäglichen. Klingt ganz ähnlich – ist aber nicht das gleiche. Und das Volk schaut staunend zu – und freut sich oder wundert sich. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 04-05-25 Die trauen sich was

Jeder, wie er kann. Ist ja auch am einfachsten.

Was nicht laut ist und schreit, was nicht schrill ist und grell, findet einfach unsere Aufmerksamkeit nicht mehr.

So beendet Liessmann in seinem Bändchen ›Lob der Grenze‹ (2012) den Abschnitt zum Thema ›Lärm‹ – mit dem durchaus nicht ganz unpassenden Untertitel ›An der Grenze des Erträglichen‹.

Dabei handelt es sich übrigens um eben jenen Liessmann, der sich in seiner ›Kritik der politischen Urteilskraft‹ – so der Untertitel des Werkes – veranlaßt gesehen hatte, Selbstverständliches wie etwa das Folgende festzuhalten:

Ein Stuhl wird nicht diskriminiert,
wenn man feststellt, dass er kein Tisch ist.
Eine Grenze kategorial zu ziehen,
bedeutet noch nicht, zu werten.

Vergleiche dazu etwa unser Sonntagsfrühstückchen von vor geraumer Zeit (Fr 15-01-21 Von Tischen und Stühlen) – das übrigens kurioserweise an einem Freitag erschienen war. Doch das nur am Rande.

Jedenfalls meinte unsere scheidende Regierung – Gott hab sie selig – ihren Abgang nicht nur lärmend, sondern geradezu dröhnend gestalten zu müssen. Wie sonst, siehe oben, soll man denn auch Aufmerksamkeit erregen? Auf den letzten Metern, die Türklinke schon in der Hand, hat man dem staunenden Wahlvolk verkündet, die zur Zeit wohl stärkste Partei und, nebenbei bemerkt, inhaltlich auch einzig real existierende Opposition, sei nunmehr nicht mehr nur verdächtig, böse, ach so böse zu sein. Nein, sie sei es jetzt ganz sicher.

Das wisse man, weil die zuständige Behörde ganze eintausendeinhundert Seiten gebraucht habe, um all die Schand- und Greueltaten getreulich aufzulisten. Zwar sei die Liste geheim – schließlich handele es sich bei der Behörde ja um einen Geheimdienst, da mache derlei durchaus Sinn – aber egal: Solch ellenlange Liste muß als Argument genügen. Wir wissen also nicht, was drinsteht. Geheimes Know-How, sozusagen – wie man das in Bolles Kreisen mitunter auch zu nennen pflegt.

Wenn Bolle raten sollte oder müßte, dann würde er auf Hülsenfrüchtchens Allzweck-Bazooka, den ersten und obersten Grundsatz unserer Verfassung, tippen. Dort heißt es, die Würde des Menschen sei unantastbar. Daraus könnte man, bei einiger entsprechend pervertierter Phantasie, durchaus ableiten, daß es würdelos sei, zwischen solchen und solchen Menschen zu unterscheiden. Um im Bilde zu bleiben: Die Diskriminierung eines Stuhles, etwa indem man ihn als Nicht-Tisch schmäht, sei ein dermaßenes Ding der Unmöglichkeit, daß das ja wohl gar nicht angehen könne und folglich gerechter- und konsequenterweise strikt verboten werden müsse. Eine verfassungsmäßig festgezurrte Grenzenlosigkeit, also. Daß uns ebendiese Grenzenlosigkeit – Wir schaffen das, quaak, quaak – zur Zeit an allen Ecken und Enden um die sprichwörtlichen Ohren fliegt: Schwamm drüber. Wird schon werden. Ansonsten: Eh scho Wuascht – wie unsere österreichischen Freunde sagen. Oder, wie es in Bolles Kreisen heißt: Kieken wa ma.

Auf den Punkt: Das staunende Volk – zumindest aber der denkendere Teil desselben – wird hier mit einer alleinseligmachenden Verfassungsauslegung beglückt, die aus sehr, sehr grundsätzlichen Gründen nicht funktionieren kann und wird: Ein Stuhl ist nun mal kein Tisch – da kannste, einmal mehr, nüscht machen.

Und? Was macht der Journalismus 2.0? Im Inland wird überwiegend gejubelt – endlich klare Verhältnisse! Im Ausland – jedenfalls in den Zeitungen, die Bolle so liest – fragt man sich ernsthaft, ob die Deutschen noch alle sprichwörtlichen Latten am Zaun haben. Nun ja: Die Geschmäcker sind nun mal verschieden.

Der allerletzte Satz im Abschnitt ›Lärm‹ lautet übrigens: Von Denken kann in solch einer Welt aber keine Rede mehr sein. Warum auch? Tut ja ohnehin nur weh, und weitet womöglich den Horizont ins „Hochkomplexe“ – also dahin, wo so mancher (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) definitionsgemäß überhaupt nicht mehr durchblickt. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.