
Es gibt eine Lehrmeinung, die besagt, daß bestimmte Wörter erst dann aufkommen, wenn das Kind bereits im Brunnen liegt. Ein Beispiel wäre etwa die vor rund 100 Jahren aufgekommene Neurasthenie mit der Kurzumschreibung: Raste nie und haste nie, sonst haste die Neurasthenie (vgl. dazu unseren Beitrag von neulich (So 15-09-24 Volk unter Strom).
In der Zeit davor „hatte“ niemand diese Form von Nervenschwäche. Ebensowenig wie heute: jetzt hat man „Burnout“. Die philosophische Frage, die zu beantworten hier allerdings viel zu weit führen würde, lautet: Gab es früher keine Neurasthenie bzw. keinen Burnout – oder gab es einfach nur kein Wort dafür?
Ganz ähnlich verhält es sich mit posttraumatischen Belastungsstörungen im weitesten Sinne. So weiß Bolle aus Gesprächen mit Zeitzeugen, daß jemand, dem die sogenannten Befreier 1945 das Haus überm Kopp weggebombt hatten, und der sich nach dem Angriff, als Kind (!) über Dutzende von Leichen steigend, mit knapper Not aus dem Keller ins Freie retten konnte, herzlich wenig Zeit und Sinn für derlei hatte.
Auch müssen wir uns nicht auf subjektives Erleben beschränken: So wirft zum Beispiel Robert Pirsig in seinem ›Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten‹ (1974) die nur auf den ersten Blick absurde Frage auf, ob es vor Isaac Newton (1643–1727) so etwas wie Gravitation überhaupt gegeben hat.
Heute sind die Zeiten friedlicher – zumindest hier und noch. Und so können wir friedlich der Frage nachgehen, ob das im letzten Bundestagswahlkampf 2021 fett plakatierte „RESPEKT FÜR DICH.“ (in Großbuchstaben, anbiederndem Du sowie mit Punkt am Ende) nicht vielleicht ein eher übles Vorzeichen war. Bolle zumindest schwante so etwas – von wegen Kind-im-Brunnen-Theorem.
Und so ist es dann ja auch weitestgehend gekommen. Bolle jedenfalls wüßte kein Beispiel, daß eine Regierung zu seinen Lebzeiten jemals derart hochfahrend mit ihrem Wahlvolk umgegangen wäre. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, daß es so manchem Entscheidungsträger kaum noch darum geht, was herkömmlicherweise als recht und billig erachtet wird. Offenbar geht es zunehmend darum, das gegebene Recht so zu biegen und zu kneten, daß man damit irgendwie noch durchkommt. Common sense? Rechtstradition? Gute Sitten und Gepflogenheiten? Kann alles weg. Stört nur beim revolutionären, möglichst schnellen Aufbruch in eine bessere Welt – oder was man dafür hält. Wenn’s der guten Sache dient, ist zu viel Recht ganz schlecht.
Wir durften das beim Heizungsgesetz erleben, von dem es später hieß, man sei womöglich „zu weit gegangen“, bei der Corönchen-Hysterie, bei der praktisch sämtliche Grundrechte bis auf weiteres suspendiert wurden, beim Ukraine-Krieg, der hausgemachten Migrationskrise, und so weiter und so fort.
Dann kam das Compact-Verbot mit seinen ungeahnten und bislang einmaligen juristischen Winkelzügen, die völlig respektlosen Geschehnisse in Thüringen und anderswo im Osten, und schließlich neuerdings die Bestrebungen um getreuliche Petzen („trusted flaggers“). Bolle meint: Ist doch alles nicht seriös.
Nach allem drängt sich der Eindruck auf, daß die Regierung meint, von einem Erziehungsauftrag ausgehen zu müssen: Hier die weisen Staatenlenker, dort der widerspenstige Teil des Volkes, der dringend diszipliniert werden muß („The beatings will continue …“). Das aber ist erstens schlicht kontrafaktisch und zweitens das schiere Gegenteil von ›Respekt für dich‹. Was dann?
In den 1980er Jahren schon gab es in einem Hamburger Hallenbad mal ein Problem mit marodierenden Jugendlichen. Die Jungs fanden es schick, den Mädels an den Oberteilen ihrer Bikinis zu zupfen. Aus heutiger Sicht eher harmlos. Die Mädels allerdings waren not amused. Was tun? Im ersten Ansatz hat man ein Team von Sozialarbeitern eingesetzt, die den Jungs was von Respekt und gewaltfreier Kommunikation verklickern wollten. Ohne jeden Erfolg, of course. Dann schließlich – einige Anläufe später – hat man einen Kerl angeheuert, der fast so breit war wie groß. Jedenfalls keiner, mit dem man sich unnötig würde anlegen wollen – schon gar nicht als hühnerbrüstiger Teenie. Kurzum: wo er war, war Ruhe. Allenfalls mußte er mal mit den Augen rollen. Und das Beste: Die Jungs haben ihn geliebt. So geht Respekt. So und nicht anders.
Die Regierung dagegen scheint sich, tout au contraire, an Bolles Entwurf einer Brav-Schaf-Verordnung zu orientieren:
§ 1 Es ist verboten, gegen die Regierung zu sein.
§ 2 Das gilt auch dann, wenn man nichts Verbotenes tut.
§ 3 Im übrigen behält sich die Regierung vor, entsprechendes Verhalten de lege ferenda (nach zukünftigem Recht) zu verbieten.
§ 4 Bis dahin wird die Regierung alles tun, einschlägiges Verhalten nach Kräften zumindest sozial und medial zu ächten. Dabei beruft sie sich auf die bewährten Grundsätze der wehrhaften Demokratie.
§ 5 Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.
Na, denn Prost!
Das alles kann natürlich nur funktionieren, wenn man es mit einem Journalismus 2.0 zu tun hat, der seine Hauptaufgabe darin sieht, sich an die vermeintlich Mächtigen mit Verve ranzuwanzen und der mit der in einer Demokratie ebenso unerläßlichen wie ehrenwerten Funktion als Vierte Gewalt nur noch herzlich wenig am Hute hat. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.
Stimmt, die kollektive Stimme des Volkes wird weiter geschwächt. Dankenswerterweise gibt es noch die Mutigen und Weitsichtigen in alternativen Netzwerken und sozialen Medien. Noch zu wenige, aber auch die werden mehr.
Wer Wind sät … Kieken wa ma … 🙂