Fr 19-02-21 Die fetten Lieferketten retten?

Die fetten Lieferketten retten?

In einer mittelalterlichen Siedlung wurden, so hört man, geschätzte 98% aller verbrauchten Güter in einem Umkreis hergestellt, den man von der Kirchturmspitze aus überblicken konnte. Lieferketten waren demnach unbekannt. Natürlich hat es immer schon Handel gegeben mit Gütern, die eben nicht in Kirchturmspitzen-Entfernung zu haben oder herzustellen waren. So sollen zum Beispiel ägyptische Pharaonen seinerzeit einen Narren an Bernstein gefressen haben. Bernstein findet sich aber vorwiegend in der Ostsee und nicht etwa im roten Meer. Und so hat es in der Bronzezeit schon einen mehr oder weniger schwungvollen Bernstein-Handel gegeben. Regelrechte Lieferketten waren das allerdings noch nicht.

Etwas anders sieht die Sache aus, wenn wir von der Ostsee zur Nordsee schwenken und von Bernstein zu beispielsweise Krabben. Die in der Nordsee gefangenen Krabben werden heutzutage allen Ernstes nach Marokko gekarrt, dort von Hand gepult und dann wieder zurückgekarrt, um auf einem Häppchen-Teller in, sagen wir, Buxtehude zu landen. Noch krasser wird das ganze, wenn, wie in einigen hoch-industrialisierten Bereichen, so ziemlich alles irgendwo anders hergestellt und hier nur noch zusammengeschraubt wird, um zum Abschluß mit einem fröhlichem „Made in Germany“-Etikett verziert zu werden. So richtig seriös will Bolle das nicht scheinen.

Was tun? Sprichwörtlich ›Zurück auf Los‹ – zurück zur mittelalterlichen Dorfgemeinschaft? Das wäre vermutlich übertrieben. Schließlich profitieren ja alle von der „internationalen Arbeitsteilung“ – wie das gerne und etwas euphemistisch auch genannt wird. In erster Linie profitieren aber die Länder, die die höherwertigen Güter anbieten – egal ob selber hergestellt oder einfach nur zusammengesteckt. In allererster Linie profitieren aber die Unternehmen, die das Lohngefälle ausnutzen (in Marokko liegt der übliche Stundenlohn nun mal deutlich unter dem in Buxtehude), und überdies die Gefälle in den Sozial- und Umweltstandards. Wenn in Marokko jemand nach einem langen Arbeitsleben einfach tot umfällt statt in Rente zu gehen, spart das eine Menge Geld. Und wenn den Krabben-Pulern (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course – wir wollen ja gender-korrekt sein und bleiben) im wahrsten Sinne des Wortes die Fabrikdecke auf den Kopf fällt, weil man in Marokko mit den Bauvorschriften noch nicht so weit ist: Betretene Mienen am Häppchen-Buffet. Wer hat’s vermasselt? Kaum feststellbar – zumal die marokkanischen Auftragnehmer die Aufträge ja regelmäßig längst an Sub-, Subsub- und Subsubsub-Unternehmen weitergereicht haben. „Diversifikation der Verantwortung“ nennt man das dann in der Betriebswirtschaftslehre. „Schulterzucken“ könnte man auch sagen.

Und? Wer ist schuld? Der Verbraucher (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) natürlich, der seine Krabben ein paar Cent billiger haben möchte. Der Verbraucher – und nicht etwa die bösen Konzerne – ist immer schuld an allem, of course, und meint dabei auch noch, nicht mal betreten gucken zu müssen. Die Lieferketten sind aber auch zu schlecht zu überblicken (neudeutsch: zu „komplex“) – vor allem, wenn man gar nicht erst hingucken mag. Bolle fragt sich: Wäre die agnostisch-kontemplative Corönchenzeit, in der wir alle ja nun mal feststecken, nicht eine feine Gelegenheit, über diese und ähnliche Fragen mal ganz grundsätzlich nachzudenken? Das aber ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Eine Antwort auf „Fr 19-02-21 Die fetten Lieferketten retten?“

  1. Gefällt mir sehr gut, das geschriebene. Ich bin in der Tat auch der Meinung, dass man Corönchen hätte wirklich nutzen können um mal andere Wege zu gehen. Sozusagen, Fasten vom Konsum, zu vielen Menschen mit denen man nur oberflächlich schwatzt um nicht allein zu sein, Online endlich mal zu Potte kommen usw. Oder sich zum Beispiel wieder der Regionalität beim Einkauf zu widmen. Auch das Konsumverhalten konnte man selbstkritisch hinterfragen. Brauche ich das oder jenes? Nein, nicht wirklich. Also, wenn man nicht so viel braucht, kann man es nur einmal kaufen und dafür mehr bezahlen und eigene Arbeitsplätze retten oder gar schaffen? Nun ja, ich vermisse die positiven Seiten der ganzen Corönchen-Krise. Endlich mal wieder im Keller gewesen und das seit Jahren auf Eis liegende Keller-Projekt in Angriff genommen. Sämtliche Ordner mal durchgegangen und entmistet, so wie auch sonst im Haushalt mal richtig durchgelüftet wurde. Und, was für eine Freude, sich wirklich mal wieder mit jemandem, auf Abstand natürlich, zu treffen. Besinnen auf das wesentliche. Ich finde man kann auch was draus machen, aus Corönchen.

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