Mi 14-12-22 Das vierzehnte Türchen …

Das Ich und der andere (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course)

Vor lauter Demokratie haben wir fast vergessen zu definieren, was wir uns denn unter den Leuten, die in einer Demokratie leben, vorzustellen haben – im günstigsten Falle also den Demokraten. Ein ›Demokrat‹ ist nach landläufiger Auffassung ›ein Anhänger der Demokratie‹. So gesehen kann Bolle schon mal kein Demokrat sein – weil er ja schon Agnostiker ist und damit jeglicher Form von „Anhängerschaft“ abhold.

Probieren wir es also eine Nummer kleiner und definieren: Ein Demokrat ist ›einer, der davon überzeugt ist, daß die Demokratie die beste aller möglichen Staatsformen ist‹. Auch hier muß Bolle passen. Wie wir ja gesehen haben, läuft Demokratie – zumindest so, wie wir sie gegenwärtig erleben müssen – auf eine Staatsorganisationsform mit institutionalisiertem Partizipations-Placebo hinaus. Dummerweise ist Bolle in diesen Dingen viel zu bewandert, um diesen Köder zu schlucken – und schon gar nicht freudig. Mit ›Herrschaft der Guten‹ und ähnlichen Entgleisungen soll man Bolle natürlich ohnehin nicht kommen, of course.

Probieren wir es also noch eine Nummer kleiner: Ein ›Demokrat‹ ist ›einer, der davon überzeugt ist, daß informierte und verständige Bürger ihre Geschicke selbst bestimmen und den jeweils Herrschenden gerade eben so viel Macht einräumen sollten wie eben nötig ist, um den Laden zusammenzuhalten‹. Hier wäre Bolle schon eher dabei. Obwohl – auch das wirft Fragen auf. Ganz zuvörderst natürlich die Frage, was wir uns denn unter einem ›informierten und verständigen Bürger‹ vorstellen wollen. Versuchen wir es mit einer Abgrenzung von hinten: zumindest also jedenfalls keinen, der alles frißt, was ihm die jeweiligen Herrschenden im Laufe der Zeit so alles aufzutischen belieben.

Und schon haben wir ein nettes kleines Anschlußproblem: ›informierte und verständige Bürger‹ fallen nicht vom Himmel und wachsen auch nicht auf Bäumen. Hier gäbe es durchaus einiges zu tun – und damit meint Bolle nicht die Digitalisierung der Klassenzimmer. Nicht, daß der Demokratie demnächst womöglich noch die Demokraten ausgehen …

Volksvertreter, die das Volk mit TikTok-Clips bei Laune halten wollen – lustig, lustig, traleralera! – wollen sich jedenfalls nicht ganz so gut in Bolles Demokraten-Verständnis fügen. Ebensowenig wie die Tendenz, alles, was einem nicht perfettamente ins Weltbild paßt, nonchalant unter den Tisch zu kehren oder als „verschwörerisch“ bzw. gar „demokratiefeindlich“ abzukanzeln. Den Standpunkt des anderen verstehen zu können geht jedenfalls anders. Verstehen können heißt ja nicht einnehmen müssen. Aber für manchen ist offenbar selbst das schon „zu komplex“. Und so kommt es, daß im Namen der Einigkeit aller aufrechten Demokraten der Begriff an sich ad absurdum geführt wird.

Und überhaupt: als ob „Einigkeit“ eine originär „demokratische“ Tugend wäre. Übertriebene Einigkeit kennzeichnet wohl eher totalitäre Systeme. Und so berühren sich die Enden. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Di 13-12-22 Das dreizehnte Türchen …

Dussel und Denken.

Wir wollten es heute und möglichst auch in den kommenden Tagen ja etwas gemütlicher angehen lassen. Schließlich ist bald Weihnachten.

Kürzlich erst (vgl. Sa 10-12-22 Das zehnte Türchen …) haben wir darauf hingewiesen, daß bei unklarem Denken schwerlich mit klarem Durchblick und erst recht nicht mit folgerichtigem Handeln zu rechnen ist. Dabei ist ›Dusseldenk‹ natürlich ein Widerspruch in sich – aber irgendwie muß man die wahrgenommene Wirklichkeit ja begrifflich fassen. Insofern ist das leider unvermeidlich. Auch könnte der Begriff auf manchen (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) leicht abwertend wirken. Aber auch das läßt sich nicht ändern. Immerhin hat Bolle sich alle Mühe gegeben, das Phänomen sprachlich so freundlich und so gefällig wie möglich zu fassen. Als stilistische Vorlage mußte dabei übrigens Orwells ›Doppeldenk‹ herhalten – die ältere deutsche Übersetzung von ›doublethink‹. Später wurde daraus ja bekanntlich ›Zwiedenk‹ – was für unsere Zwecke aber rein gar keine Rolle spielt, da es uns hier um eine rein sprachliche Anlehnung gehen soll.

Nun beginnt unklares Denken regelmäßig mit unklaren bzw. gar nicht erst vorhandenen Definitionen. Hier ein Beispiel aus dem richtigen Leben: Neulich erst hat ein durchaus prominenter und auch an Lebensjahren gereifter Ex-Minister in einer der Polit-Plaudertaschenrunden folgendes zum Besten gegeben: „Die gehen nicht mehr zur Wahl, die wählen AfD – die wollen unsere Demokratie zerstören.“ So etwas geht natürlich nur mit Dusseldenk – denn erstens steht es dem Souverän frei, ob er überhaupt wählen will. Zweitens steht es ihm frei, was er wählen will. So viel Souveränität muß sein. Und drittens schließlich ist so etwas wie „unsere Demokratie“ ein Widerspruch in sich. Eine Demokratie, die man mit einem Possessivpronomen („unsere“) fassen kann, kann keine Demokratie im definierten Sinne sein – allenfalls im Sinne von ›Herrschaft der Guten‹. Das allerdings wäre albern. Hätte er gesagt: „Die wollen unsere Regierung abwählen“ („zerstören“ ist wohl ein zu hartes Wort dafür): Keine Einwände. Hat er aber nicht gesagt – und, wie’s scheint, offenbar auch nicht gemeint.

Und? Was machen die anderen Plaudertaschen? Nicken beifällig in die Runde. Aufrechte Demokraten unter sich. Und dann wundern sich die Leute, daß das Publikum abschalten und lieber Weihnachtslieder hören oder gar singen mag. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Mo 12-12-22 Das zwölfte Türchen …

Die Katze und der Schwanz.

Heute kommen wir – pünktlich zur Halbzeit unseres diesjährigen virtuellen agnostisch-kontemplativen Adventskalenders – zum letzten Teil unserer Trias.

Wir haben gesehen, daß das Beste, was man über ›Demokratie‹ sagen kann, ist, daß sie ein solides Partizipations-Surrogat liefert. Alle dürfen glauben, daß sie was zu sagen haben. Tatsächlich zu sagen haben sie aber wenig. Immerhin fühlt es sich besser an als die schiere Ohnmacht. Auch haben wir gesehen, daß ›Demokratie‹ schon deshalb nicht ›Herrschaft des Volkes‹ bedeuten kann, weil es „das Volk“ als Entität schlechterdings nicht gibt. Also bleibt nur ›Herrschaft der Mehrheit‹. In ›Bolles lästerlichem Lexikon‹ heißt es dazu:

Demokratie ist die Unterwerfung der Minderheit durch die Mehrheit.

Das ist wohl noch die ehrlichste Definition.

Was den ›Rechtsstaat‹ angeht – also die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive – haben wir gesehen, daß es eine solche Gewaltenteilung in Deutschland und den meisten europäischen „Demokratien“ einschließlich der EU schlechterdings nicht gibt. Vielmehr gilt das Prinzip „one fits all“. Die Regierung macht sich selber die Gesetze, nach denen sie sich dann ganz rechtsstaatlich richtet.

Beides zusammengenommen kann natürlich leicht dazu führen, daß sich ein ganzes Land samt seiner Verfassung in Windeseile weit von einem „Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“ (Merkel 2017), entfernt. Betrachten wir nur die Lässigkeit, mit der in den letzten Jahren praktisch sämtliche Grundrechte mal eben auf Eis gelegt wurden. Aber gab es nicht gute Gründe? Durchaus. Aber „gute Gründe“ gibt es immer. Wo ein Wille ist, ist schließlich immer auch ein Argument. Juristen lernen das schon in der Ausbildung. So heißt es etwa in § 28 IfSG (Infektionsschutzgesetz), daß „die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen“ trifft und daß dafür die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit (Art 2 II S. 1 GG), der Freiheit der Person (Art 2 II S. 2 GG), der Versammlungsfreiheit (Art 8 GG), der Freizügigkeit (Art 11 I GG) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art 13 I GG) „insoweit eingeschränkt“ werden.

Wie wir sehen können, ist alles rechtsstaatlich sauber geregelt. Die Regierung (einschließlich der Behörden) müssen sich an die Gesetzeslage halten. Dumm nur, daß so etwas wie „die notwendigen Schutzmaßnahmen“ eine sogenannte Generalklausel ist. Was immer die „zuständige Behörde“ für „notwendig“ halten mag, kann sie als „Schutzmaßnahme“ anordnen. Daß die Grundrechte dabei auf der Strecke bleiben, ist dann halt so: Excusez, mon ami, mais c’est la guerre – Entschuldige, mein Lieber, aber wir befinden uns im Krieg (Wilhelm Busch: ›Monsieur Jacques à Paris während der Belagerung im Jahre 1870‹).

›Verfassungsstaat‹ bedeutet, daß der Gesetzgeber an einen „Grundbestand überpositiven Rechts“ – also Recht, daß sich die Regierung in Gestalt des Gesetzgebers nicht mal eben so selber ausdenken kann – gebunden ist. So sieht es (oder so sah es zumindest) auch das Bundesverfassungsgericht. Auch dann nicht, wenn die Regierung die Mehrheit des Volkes hinter sich weiß? Auch dann nicht. Warum nicht? Weil das offenbar die einzige Möglichkeit ist, die stets drohende ›Unterwerfung der Minderheit durch die Mehrheit‹ zumindest in Grenzen zu halten.

Fassen wir unsere kleine Trias zusammen: Da haben wir es mit einer ›Demokratie‹ zu tun, die im Grunde nur für ein Partizipations-Placebo steht, einem ›Rechtsstaat‹, der der Idee der Gewaltenteilung spottet, und einem ›Verfassungsstaat‹ mit seiner Idee von „unverhandelbaren Werten“, die auch durch eine Mehrheit nicht gekippt werden können – von denen sich aber niemand traut, klar zu sagen, welche Werte genau das sein sollen. Kurzum: Wenn das System kippt, dann kippt es eben. Da helfen weder Demokratie noch Rechtsstaat und auch kein Verfassungsstaat. Damit wären wir bei Luhmann: Das System erzeugt die Elemente, aus denen es besteht, mittels der Elemente, aus denen es besteht.

Lohnt es sich, dafür zu sterben? Oder wenigstens zu frieren? Bolle findet: Thanks, I’m fine. Und welche Rolle spielt dabei die Presse, die sogenannte 4. Gewalt? Die knappe Antwort: Eine tragende – was durchaus alles andere als complimentary gemeint ist. Das aber sind dann doch schon wieder ganz andere Kapitel.

So 11-12-22 Das elfte Türchen – der dritte Advent …

Geh Er (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) nur brav zur Wahl …

Kommen wir heute zum 2. Teil unserer Trias ›Demokratie/Rechtsstaat/Verfassungsstaat‹ – dem Rechtsstaat. „Ein Rechtsstaat ist ein Staat, der einerseits allgemein verbindliches Recht schafft und andererseits seine eigenen Organe zur Ausübung der staatlichen Gewalt an das Recht bindet.“ So steht es gleich einleitend bei Wiki – und so ist es auch recht gut auf den Punkt gebracht.

Und so stellt man sich das auch gerne vor: Rechtsstaatlichkeit bedeutet demnach, daß die Regierung nur im Rahmen der bestehenden Gesetze handeln darf. Kurzum: Die Legislative begrenzt die Macht der Exekutive. Mal eben so par ordre du mufti zu regieren ist also ebenso ausgeschlossen wie Absolutismus-Allüren aller Art, allen vorweg Ludwig XIV (1643−1715) mit seinem Motto L’etat c’est moi. Im Grunde doch ein schöner Fortschritt!

Das Problem an dieser Stelle: Wer oder was hält die Regierung davon ab, zunächst die passenden Gesetze zu verabschieden, um dann im Anschluß völlig gesetzeskonform, also rechtsstaatlich zu agieren? Nach dieser Definition wäre wohl durchaus auch die DDR als Rechtsstaat einzustufen, ebenso wie heute beispielsweise China oder Nordkorea oder – let’s go crazy – etwa das Dritte Reich. Auch hier hatte alles seine gesetzliche Grundlage – dafür haben die Juristen schon gesorgt. Die Antwort fällt ausnahmsweise einmal leicht: Die Regierung ist für die Gesetzgebung nicht zuständig – sie hat sich lediglich an die Gesetze zu halten.

Dumm nur, wenn es sich – wie das in Deutschland regelmäßig der Fall ist – bei Legislative und Exekutive um dieselben Leute handelt. In der Tat werden in Deutschland die allermeisten Gesetzesvorlagen von der Regierung (!) eingebracht. Das kann man sich gar nicht klar genug machen!

Bolle war als junger Jura-Student Teilnehmer einer Veranstaltung einer parteinahen Stiftung einer großen Volkspartei. Dort meinte einer der Seminarleiter jovial, natürlich gebe es in Deutschland keine Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative im herkömmlichen Sinne. Vielmehr handele es sich bei Lichte betrachtet eher um eine „Funktionenteilung“. Bolle fand das damals schon listig formuliert. Gleichwohl war ihm dabei unwohl. Und so ist es heute noch.

Das einzige gewaltenteilerische Element in Deutschland ist die Zustimmungspflicht des Bundesrates bei manchen Gesetzen. Hier kann es durchaus sein, daß im Bundesrat andere parteipolitische Mehrheiten herrschen als im Bundestag – Regierungsvorlagen also nicht einfach so durchgewunken werden können. So etwas ist aus Regierungssicht natürlich lästig. Wie soll man da „durchregieren“ können? Und so begab es sich zum Beispiel 2017 allen Ernstes, daß die designierten Regierungsparteien in ihrem Koalitionsvertrag einen „Pakt für den Rechtsstaat“ vereinbart hatten – mit dem einzigen Zweck, einen womöglich widerspenstigen Bundesrat gleich im Vorfeld entsprechend einzubinden. Erklärter Sinn der Sache war natürlich, „den Rechtsstaat handlungsfähig [zu] erhalten“ und „das Vertrauen in die rechtsstaatliche Demokratie“ zu stärken. Bolle könnt‘ glatt kotzen. Aber wo ein Wille ist, da ist eben auch ein Argument.

Fassen wir zusammen: Nachdem wir gestern kaum ein gutes Haar an der Demokratie gelassen haben: Warum sollte es ausgerechnet dem Rechtsstaat besser ergehen? Bleibt noch der ›Verfassungsstaat‹, den wir uns für morgen aufheben wollen. Schließlich handelt es sich dabei wiederum um ein ganz anderes Kapitel.

Sa 10-12-22 Das zehnte Türchen …

Kurzdialog: — Bolle ist doof! — Definiere ›doof‹.

Hier also – wie vorgestern schon erahnt und gestern regulär angekündigt, der erste Teil unserer kleinen Trias ›Demokratie/Rechtsstaat/Verfassungsstaat‹.

›Demokratie‹ gehört – man kann das wohl kaum anders sagen – linguistisch gesehen zur Gruppe der meliorativen Blähwörter: Klingt gut bzw. soll gut klingen, ist dabei aber wenig trennscharf. In Bolles Kreisen spricht man auch von „Wünsch-Dir-was“-Wörtern. Die systematische Verwendung solcher Begriffe nennt man ›Waber-Laber‹. Dabei ist derartiger Sprachgebrauch gar nicht mal so selten: Prominente Beispiele wären etwa ›Leistung‹ (als Grundbegriff der „Leistungsgesellschaft“) oder auch ›Wettbewerbsfähigkeit‹ (als Grundbegriff wirtschaftspolitischer Ausrichtung).

Damit eignet es sich als Begriff hervorragend zur Errichtung quasi-staatsreligiöser Systeme. Wenn man der kontemporären Polit-Prominenz oder auch weiten Teilen der Presse so zuhört, könnte man meinen, ›Demokratie‹ sei so etwas wie die ›Herrschaft der Guten‹ (vgl. dazu auch So 06-12-20 Das sechste Türchen — Nikolausi …). So krass darf man das natürlich nicht sagen, of course – auch wenn „gefühlt“ genau das gemeint ist: Israel als einzige Demokratie im Nahen Osten, Indien als größte Demokratie in Fernost, etc. bla bla – immer im Gegensatz zu den weniger Guten.

Was aber meinen wir inhaltlich, wenn wir von ›Demokratie‹ reden? Ganz wörtlich die Herrschaft des Volkes, of course. Dabei gilt es als zulässig, wenn das Volk zumindest mittelbar herrscht, indem es seine Herrscher alle Jubeljahre einmal wählen geht.  Diese Lesart hat übrigens auch Popper überzeugt – der die Vorzüge einer Demokratie ganz bescheiden darin sieht, daß es möglich ist, die Herrschenden bei Mißfallen „ohne Blutvergießen“ abwählen zu können.

Dumm nur, daß nach dieser Definition Deutschland eben keine Demokratie wäre. In Deutschland kann man nur seine Legislative wählen – die dann wiederum aus ihren Reihen eine Regierung bildet. In den USA zum Beispiel ist das anders. Da wird der Präsident (fast) direkt vom Volk gewählt, und zwar jeweils zeitversetzt – so daß es nicht selten vorkommt, daß Regierung und Parlament verschiedenen Lagern entstammen. In Deutschland dagegen kann man seine Regierung nur abwählen, indem man zunächst andere Parteien in die Legislative wählt. Was die dann damit machen – von Koalitionsbildungen bis hin zur Bestimmung des Regierungschefs – steht weitestgehend in den Sternen.

Was ist dann der Inhalt? Das Zauberwort heißt ›Partizipation‹. Gib den Leuten um Dich herum – egal, ob wir hier von einem Staatswesen reden, einem Unternehmen oder auch nur einer Familie – das Gefühl, daß sie auch was zu sagen haben, und schon werden sie Dir sehr viel williger folgen. Das Gefühl reicht völlig – wirklich zu sagen haben müssen sie nichts. In Bolles Kreisen sind das elementare sozialpsychologische Einsichten. Die Frage ist: kann man auf ein so windiges und so leicht zu durchschauendes Konzept eine ganze Staatsreligion aufbauen? Die Antwort: man kann, wie’s scheint. Auf der „gefühlten“ Ebene liegt die intellektuelle Latte nun mal nicht allzu hoch. Dazu ein Kurzdialog zwischen den drei Königen aus dem Morgenlande – wie ihn Lilli Bravo aufs Feinste auf den Punkt gebracht hat:

Der erste König: „Ein fliegendes Kind im Nachthemd möchte, daß wir dem Baby einer Jungfrau Geschenke bringen.“ — Der zweite: „Crazy! Ich bin dabei!“ — Der dritte: „Klingt plausibel.“

Wie wir unschwer erkennen können – zumal jetzt zur Weihnachtszeit der Christenmenschen, stehen auch andere große Ideen kognitiv auf eher tönernen Füßen. Darauf also kommt es offenbar nicht an. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Fr 09-12-22 Das neunte Türchen …

Weihnachtsmarkt klassisch …

Wir hatten ja gestern (Do 08-12-22 Das achte Türchen …) schon leise angedeutet, daß Bolle dazu neigt, vieles immer gleich demokratie- bzw. staatsorganisationstheoretisch zu sehen. Zwar soll man auch hier nichts übertreiben. Allerdings finden wir angesichts der allgemeinen Lage – die ja langsam chronische Züge annimmt –, daß es nicht schaden kann, wenn wir uns im Rahmen unserer vorweihnachtlichen agnostisch-kontemplativen Bestrebungen in den nächsten Tagen in loser Folge wenigstens dreier Dinge klarer werden, als das bisher vielleicht der Fall sein mag: was wollen wir unter ›Demokratie‹ verstehen? Was unter ›Rechtsstaat‹ und was unter ›Verfassungsstaat‹? Bolle glaubt ja nach wie vor an den Hobbes‘schen Nominalismus, so wie ihn ihm Bertrand Russell in seiner ›Philosophie des Abendlandes‹ (1945) völlig zu Recht untergejubelt hat: „Vernünftiges Denken gleicht dem Rechnen und sollte mit Definitionen beginnen.“

Aber keine Sorge. Wir werden zusehen, daß wir uns gewohnt knapp halten. Gestern jedenfalls war Bolle das erste mal wieder auf einem Weihnachtsmarkt. In seinem Dörfchen, of course. Warum denn in die Ferne schweifen? Wie auch? Das Auto paßt schließlich schlecht zum obligatorischen Glühwein, Fahrrad ist zu kalt, und die Öffis nerven mit ihrer Masken-Manie. Bleibt nur klassisch zu Fuß – also Dörfchen. Überhaupt verläßt der Berliner nur ungern seinen Kiez. Für Bolle war es übrigens der erste Weihnachtsmarkt seit 2019, bevor also Corönchen – wie weiland der Heiland der Christenmenschen – in den Augen der Welt das Licht der Welt erblickt hat. Da gab es alles, was für Bolle zu einem anständigen Weihnachtsmarkt dazugehört: Bratwurst, Glühwein, eine gewisse weihnachtliche Kühle – und dazu passend sogar ein Plätzchen am Feuer. Bolle gehört nämlich nicht zu denen, die meinen, daß Glühwein am besten schmeckt, wenn man sich dabei den sprichwörtlichen Arsch abfriert. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Do 08-12-22 Das achte Türchen …

Schlag nach bei Churchill …

Der Scherz ist oft das Loch, durch das die Wahrheit pfeift (vgl. dazu auch Fr 25-10-19 Besorgte Demokraten). Die Chinesen wußten das schon immer. Nur daß der Scherz mitunter als regelrechter Schmerz rüberkommt. So auch gestern. Bolle war mal wieder kurz ein paar Wege besorgen. Nichts Großes: Nur Shoyu und Schrippchen fürs vorweihnachtliche Frühstückchen. Und es begab sich Folgendes: Der halbe Liter Shoyu sollte 6,99 Euro kosten. Bolle wollte mit einem Zehner bezahlen und der Kassierer richtigerweise 3,01 Euro rausgeben. Da fiel Bolle auf, daß er noch ein 2-Euro-Stück im Kleingeldfach hatte. Also schob er das dem Kassierer rüber. Der blickte nur halb verwundert und halb irritiert. Da half auch Bolles Hinweis nichts, daß sich so das Wechselgeld geschmeidiger gestalten ließe. Nach einer kurzen Erläuterung wartete der Kassierer mit dem Argument auf, er habe nur noch wenige 5-Euro-Scheine. Also! Woraufhin Bolle einen weiteren 5-Euro-Schein zum Besten bot. Das aber war jetzt wirklich zu viel. Unter Schmerzen trennte sich der Kassierer lieber von einem seiner letzten 5-Euro-Scheine. Damit hätte die Shoyu-Transaktion finanziell abgeschlossen sein können. Gleichwohl bot Bolle an, nunmehr zwei 5-Euro-Scheine gegen einen Zehner zu tauschen. Da sich die Sachlage für unseren Kassierer jetzt doch wieder deutlich übersichtlicher gestaltete, ging er gerne darauf ein. So kam es, daß Bolle unter dem Strich eine Rechnung über 6,99 Euro unter Hingabe von 17 Euro beglichen, dafür portjuchhe-schonende 10,01 Euro Wechselgeld erhalten und gleichzeitig die 5-Euro-Not des Kassierers zumindest ein wenig gelindert hat.

Auf mögliche Weiterungen wollen wir hier und heute gar nicht eingehen. Bolle sieht so etwas ja immer gleich demokratie- bzw. staatsorganisationstheoretisch. Wenn hinreichend viele Bürger im Lande ähnlich helle sind – und manches spricht nach 50 Jahren Bildungskatastrophe sehr dafür – wie wollen die dann jemals ernstliche Probleme lösen oder auch nur wählen gehen? Wir werden darauf zurückkommen.

›Portjuche‹ ist übrigens ein „richtiges“ Wort. Wie kann man das wissen? Nun, indem man etwa bei DWDS (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache) nachschlägt. Dort heißt es, der Begriff sei ›umgangssprachlich, scherzhaft, veraltend‹ für ›Portemonnaie‹ und im übrigen sehr selten. Allerdings hat Bolle eine ausgesprochene Schwäche für aussterbende Wörter. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Mi 07-12-22 Das siebte Türchen …

Schoki für die Kleenen – Glühwein für die Größeren …

Nach unserem gestrigen Ausflug in die Welt der Adler und Lateiner ist unser heutiges virtuelles Türchen strikt lebenspraktisch service-orientiert. So geht Glühwein alter Schule:

1 Flasche Rotwein (trocken, of course)
1/2 l Wasser (sonst wird’s zu heftig)
1 Zimtstange dazu und 3 Nelken (alles bio, of course)

Alles in einen Topf geben, erhitzen und kurz vor dem Kochen in eine Kanne umfüllen und auf ein Stövchen stellen. Falls Deine Geschmacksknospen es zulassen: dieser Glühwein kommt ohne weiteres ohne Zucker aus. Orangenschalenabrieb und/oder Orangenscheiben überhaupt kann, muß aber nicht.

Daß Bolle ausgesprochen klassisch tickt, ist ihm selber durchaus klar. Gleichwohl freut sich der Mensch über gelegentliche Bestätigung. Hier ein Rezept, daß wir in einem Kochbuch für ›alte Rezepte aus Grossmütters Küchenschubladen‹ gefunden haben. Dort heißt es:

„(aus Kochbuch von 1932): 1 Flasche Rotwein, 1/2 Liter Wasser, 1/2 Pfd Zucker, 1 fingerlanges Stück Zimt, 6 Nelken. – Das Wasser wird mit den Gewürzen und Zucker 1/4 Stunde gekocht. Dann wird der Wein hineingegeben, die Flüssigkeit recht heiss gemacht, in erwärmte Gläser gegossen und heiss gereicht.“

Die Zubereitung ist also geringfügig aufwendiger. Die Zutaten allerdings sind, wenn wir von dem Zucker einmal absehen wollen, exaktemente identisch. Auch kommt Bolle mit 3 statt 6 Nelken aus, weil sie bei seiner Easy-cooking-Technik genügend Zeit haben, sich zu entfalten.

Hier für alle Freunde der kanonischen Kochkunst der Link: https://doazmol-rezepte.ch/archive/6846

Die Glaskanne gibt’s übrigens bei Ikea unter dem Suchwort „Ikea 365+ Glaskanne“ für wohlfeile 10 Euro, das Stövchen bei amazon unter „NP Bamboo Nary Stövchen“ für nicht minder wohlfeile 25 Euro. So, damit wären wir unseren Influencer-Pflichten für heute aufs Getreulichste nachgekommen. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Di 06-12-22 Das sechste Türchen  – Nikolausi …

Genießen oder nutzen – das ist hier die Frage.

Und schon sind wir bis Nikolausi vorgerückt – und haben damit bereits ein Viertelchen unseres virtuellen agnostisch-kontemplativen Adventskalenders hinter uns gebracht. Was uns natürlich nicht davon abhalten muß, gelegentlich in das eine oder andere vergangene Türchen reinzulinsen. Heute wollen wir – weil auch das irgendwann einmal gesagt werden muß – einen kurzen Blick auf das altehrwürdige und meist schwer mißverstandene ›Carpe diem‹ werfen.

›Carpe diem‹ ist – sozusagen als Tüchtigkeits-Tugend – bis weit in Kreise vorgedrungen, die mit Latein ansonsten eher weniger am Hut haben. Da sind konzeptionelle Mißverständnisse durchaus nicht auszuschließen. So wird die Wendung in aller Regel mit „Fasse den Tag“ übersetzt – wobei „fassen“ soviel heißen soll wie ›ergreife ihn, nutze ihn, mach was draus – sei tüchtig‹.

Genau das meint die Wendung aber nicht. Carpe ist der Indikativ 2. Person Singular von carpere ›pflücken, necken‹. ›Fassen, fangen, ergreifen‹ dagegen heißt im lateinischen captare – wie zum Beispiel in dem Sinnspruch aquila non captat muscas – ›ein Adler fängt keine Mücken‹.

›Fasse den Tag‹ müßte demnach also zumindest cape diem heißen – also ohne „r“. Allerdings heißt es in der 2. Person Singular Präsens Imperativ Aktiv capta (und nicht cape). Damit würde ›Fasse den Tag‹ capta diem heißen müssen – und keinesfalls carpe diem.

Was hat das mit uns zu tun? Nun – carpe diem hat wohl mehr mit „verbringe den Tag im agnostisch-kontemplativen Gleichgewicht“ zu tun als mit irgendwelchen Tüchtigkeitsregeln: Springe nicht über jedes Stöckchen, das dir irgendein Dösbaddel vor die sprichwörtlichen Füße hält. Verbringe Deine Tage nicht damit, unentwegt 10 Minuten in der Zukunft zu leben (vgl. dazu So 04-12-22 Das vierte Türchen – der 2. Advent …) . Lebe Dein Leben nach Deiner Fasson. Tüchtig sein kannst Du nebenbei immer noch – weil das eine das andere natürlich nicht ausschließen muß bzw. sogar bedingen kann. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Mo 05-12-22 Das fünfte Türchen …

Not kennt kein Gebot.

Weihnachtszeit ist nicht zuletzt auch Geschenkezeit. Dumm nur, daß Geschenke nicht selten mit einem gewissen pekuniären Aufwand verbunden sind. Aber keine Sorge: Deine Bank weiß Rat – Bonität vorausgesetzt, wie es immer so schön im Kleingedruckten heißt. Und so konnte Bolle nicht umhin, bei einer Routineüberweisung über eine Anzeige zu stolpern: „Endlich wieder Wünsche erfüllen!“ – garniert mit Symbolbildern freudestahlender Christenmenschen unterm Weihnachtsbaume.

Das „Endlich wieder“ übrigens fand Bolle alles andere als stimmig. Paßt es doch eher zu Zeiten des Aufschwunges und weniger mitten in eine ökonomische Dauerkrise, die nunmehr schon fast drei Jahre andauert und deren Ende alles andere als absehbar ist – und die wir uns, vollgepumpt mit Moralintoxin, auch noch selber eingebrockt haben.

Daß es auch würdevoller geht, können wir in Erich Kästners ›Modernem Märchen‹ nachlesen:

Zu Weihnachten malten sie kurzerhand
Geschenke mit Buntstiften an die Wand.
Und aßen Brot, als wär‘ es Konfekt.
Und spielten: wie Gänsebraten schmeckt. –

Das Gedicht findet sich in ›Morgen, Kinder, wird’s nichts geben‹ und kann allen, die es lieber etwas zartbitterer als zu süßlich mögen, nur ans vorweihnachtliche Herz gelegt werden. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.