Do 04-03-21 Direkte Demokratie

Direkte Demokratie.

Viel los ist zur Zeit ja nicht – jedenfalls nüscht, was mehr wäre als ein tagesaktueller Uffreger. Mit derlei aber wollen wir uns im Rahmen unserer agnostisch-kontemplativen Bestrebungen nicht weiter beschweren. Wenden wir uns also Dingen zu, die auf mittlere Sicht echtes Knaller-Potential haben – auch wenn wir sie hier und heute nur anreißen können.

»Demokratie« bedeutet wörtlich ›Herrschaft des Volkes‹. Das indes ist schon deshalb wenig trefflich, weil es „das Volk“ nun mal nicht gibt – und, zumindest in größeren Staatsgebilden, wohl auch gar nicht geben kann (vgl. dazu etwa Fr 08-01-21 Corönchen-Sendepause oder auch Do 14-01-21 Derangierte Demokraten). Bleibt die ›Herrschaft der Mehrheit‹ oder, wenn man es lieber etwas sonniger mag, die ›Herrschaft der Guten‹. Wenn in Bolles lästerlichem Lexikon von der ›Unterwerfung der Minderheit durch die Mehrheit‹ die Rede ist, dann ist das natürlich technisch gemeint und bezieht sich auf die Schwarz’schen Konfliktlösungsstufen, denen zufolge sich rein ethologisch außer Flucht, Vernichtung, Vertreibung, Unterwerfung, Delegation, Kompromiß und schließlich Konsens wenig Möglichkeiten bieten, Konflikte zu bereinigen bzw. zu entscheiden – also nichts, was man Bolle vorwerfen könnte. Wir werden darauf zu gegebener Zeit zurückkommen.

Dabei sind sich entwickeltere Länder spätestens seit Thomas Hobbes (1588–1679) überwiegend darin einig, daß das Volk sich einen Anführer bzw. seine Anführer (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) wählen soll. Etwa 100 Jahre später kam die Einsicht dazu, daß es nicht schaden kann, dem Volk zu erlauben, seine Anführer regelmäßig wiederzuwählen oder aber abzuwählen, um übertriebene Abgehobenheit der herrschenden Schichten im Keime zu ersticken. Das hat sich im großen und ganzen auch recht gut bewährt. Keinesfalls aber soll das Volk sich erfrechen, sich direkt in politische Entscheidungen einmischen zu wollen. Das traut man ihm dann doch eher nicht zu – und vielleicht ist das auch gut so. Zwar heißt es in der Verfassung: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen […] ausgeübt. (Art 20 II GG). Die Abstimmungen – also das Direkte an der Demokratie – wurde von der Zunft der Rechtsgelehrten allerdings rucki-zucki gleich wieder wegdiskutiert.

Kurzum: Die Demokratie braucht einen gewissen Schutz vor unqualifiziertem Volk. Bei inhaltlichen Entscheidungen ist das weithin anerkannt. Wie aber sieht es an der Quelle, also an der Wahlurne aus? Kann man hier nicht – muß man hier nicht – im Vorfeld versuchen zu verhindern, daß das Volk die Falschen wählt? Man kann – und man versucht es auch immer wieder, mit mehr oder weniger subtilen Mitteln. Ein unrühmliches Beispiel aus jüngerer Zeit wäre etwa der Versuch der amerikanischen „Demokraten“ (hört! hört!), einen längst ausgeschiedenen Präsidenten per Impeachement aus dem Amt zu kegeln – mit dem alleinigen erkennbaren Zweck, dem Volk in vier Jahren eine entsprechende unqualifizierte Entscheidung zu ersparen. Das ist nach Bolles liederlichem Lexikon direkte Demokratie: Sicherstellung der ›Herrschaft der Guten‹, indem die weniger Guten gleich im Vorfeld ausgemustert werden – und zwar voll am Volk vorbei. Ähnliches ereignet sich zur Zeit gerade auch hierzulande. Wir können und wollen an dieser Stelle nicht auf Einzelheiten eingehen. Aber die stärkste Oppositionspartei zum Auftakt eines „Superwahljahres“ als potentiellen Hort politisch Krimineller darzustellen, die dringend der Aufsicht durch die Guten bedarf, ist bei Lichte betrachtet schon ein starkes Stück. Bolle meint: Wenn das mal gutgeht …

Und? Was macht der Journalismus 2.0? Ganz überwiegend Schweigen im Walde – wenn nicht gar „klammheimliche Freude“. Da muß Bolle erst auf die Neue Zürcher Zeitung zurückgreifen, um zu erfahren, daß Verfassungsschützer keine Meinungsmacher im Wahlkampf sein sollen, bzw. daß der Inlandsgeheimdienst die Verfassung schützen soll – und nicht die etablierten Parteien. Immerhin: Auch Gabor Steingart findet es anscheinend irritierend, auf diese Weise eine Partei anzugehen, die „mancherorts die stärkste parlamentarische Kraft“ ist. Bolle meint: Wenn’s aber doch der Herrschaft der Guten dient? Das aber ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

So 28-02-21 Demokratischer Sozialkredit?

Demokratischer Sozialkredit?

Neulich hat Bolle am Rande in einen Wilsberg-Krimi reingehört: »Überwachen und belohnen« (1. Folge der 8. Staffel / die kommenden 12 Monate in der ZDF-Mediathek verfügbar / reinkieken lohnt). Dabei ging es darum, daß in Münster, dem üblichen Schauplatz der Serie, auf freiwilliger Basis ein Sozialkreditsystem eingeführt wurde, bei dem man, anders als etwa in China, mitmachen konnte oder auch nicht. Und? Haben die Leute mitgemacht? Aber Ja doch. Zum einen, weil sie meinten, daß sie sich ja schließlich nichts vorzuwerfen hätten – warum sich das dann nicht ganz nebenbei in Punkten entlohnen lassen? Zum anderen aber, weil sich herumgesprochen hatte, daß ein erfreulicher Punktestand sich durchaus günstig auf die eigene Karriere auswirken kann.

Kurzum: in einem Sozialkreditsystem kriegt man für alles, was man tut, umgehend die Rechnung präsentiert – oder eine Gutschrift. Was Bolle on second thought wirklich irritiert hat: Ist das nicht der „Markenkern“ des „Kapitalismus“? Brauchen wir dafür die Chinesen?

Steven Landsburg hat es bereits 1993 gleich zum Einstieg in sein Bändchen »The Armchair Economist« auf den Punkt gebracht: „Most of economics can be summarized in four words: ›People respond to incentives.‹ The rest is commentary.“ Übersetzen wir das besser: Der Gegenstand der Wirtschaftswissenschaften kann im wesentlichen mit vier Wörtern zusammengefaßt werden: ›Leute reagieren auf Anreize‹. Der Rest ist Kommentar.

Den Spruch könnte man ohne Bedenken zum Motto eines Sozialkreditsystems machen. Warum dann der Uffriß? Bolle meint, hier kommt wirklich einiges durcheinander, namentlich die Themenfelder »Freiheit und Verantwortung«, »Demokratie vs. Diktatur«, »Demokratie und Kapitalismus«, und nicht zuletzt auch »Sozialisation« an sich – also definitiv mehr, als wir uns für heute auf den Sonntag zumuten sollten.

Und überhaupt. Was ist mit der Wizarding World, also J. K. Rowling’s Welt der Zauberer? Da begegnet uns ganz offenkundig ein Sozialkreditsystem par excellence – geradezu ein Sozialisationssystem. Soweit Bolle sehen kann, hat das bislang noch keinen irritiert. Weil es hier nur um Fantasy geht? Oder weil es, von gelegentlichen Entgleisungen des Severus Snape einmal abgesehen, im großen und ganzen recht gut funktioniert? Fragen über Fragen. Das aber ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Do 25-02-21 Le Waldsterben

Le Waldsterben.

Ganz am Rande, und voll von Corönchen und islamistischen oder sonstigen Übeltätern überschattet, hat es das Waldsterben als zartes Pflänzchen dann doch mal wieder bis in die bildungsbürgerlichen Medien geschafft. Bolle gratuliert.

Bolle hat, was Form und Inhalt angeht, bekanntlich einen ausgesprochen Sinn für das Knappe und Grundsätzliche – und in diesem Rahmen vor einiger Zeit eine lose Liste angelegt mit den drängendsten Problemen, die uns plagen. Hier und heute finden sich darin genau zwei Dutzend Einträge. Sollte also eigentlich noch „überschaubar“ sein, wie das auf neudeutsch neuerdings heißt – zumal es deutliche Querbezüge gibt: Die Lösung von so manchem Problem A würde so manches Problem B absehbar obsolet machen.

Für unsere jüngeren Leser: Das Waldsterben ist alles andere als neu. Spätestens in den frühen 1980er Jahren gab es in Deutschland eine regelrechte Waldsterben-Welle. Nun waren die Deutschen ihrem Wald schon immer aufs innigste verbunden. Wo war das doch gleich noch mal, wo Hermann der Cherusker (die Römer nannten ihn Arminius) 9 n. Chr. Varus’ Legionen vernichtend geschlagen hatte? Im Teutoburger Wald.  Der war den Römern viel zu dunkel, zu morastig, kurzum: zu unübersichtlich. Nicht so den Germanen. Die Liebe zum Wald geht den Deutschen so weit, daß Elias Canetti in seinem (übrigens höchst lesenswerten) philosophisch gehaltenen Opus »Masse und Macht« (1960) den Wald als das „Massensymbol“ der Deutschen identifizieren konnte. Das Massensymbol zum Beispiel der Franzosen – also das, was im Kern verbindet – sei dagegen ihre Revolution. Und so kam es, daß die Franzosen das deutsche Waldsterben zunächst belächelt haben – nur um es dann als Lehnwort, „Le Waldsterben“, zu übernehmen. Bolle lieebt der Franzosen Feingefühl für Sprache.

Zwar wurde der Wald in den 1980er Jahren nicht wirklich „gerettet“. Vielmehr wurden die kranken Bäume geschlagen – was sich selbstredend erfreulich auf die Schadensstatistik ausgewirkt hatte. Auch hat die Post 1985 eine Briefmarke mit dem Aufruf „Rettet den Wald“ herausgebracht –  graphisch untermalt mit einer Uhr, die auf etwa drei Minuten vor zwölf steht. Immerhin.

Was hat das mit uns hier und heute zu tun? Nun, die frühen 1980er Jahre sind mittlerweile 40 Jahre her. Passiert ist seitdem – nüscht. Auch war das keineswegs der Anfang. Ansätze zu einer vernünftigen (neudeutsch: „nachhaltigen“) Forstwirtschaft lassen sich bis mindestens 1884 zurückverfolgen. Damals hieß das noch „Dauerwald“ – wobei „Dauer“ im semantischen Netz nicht allzu weit von „nachhaltig“ entfernt ist.

Kommen wir zum Punkt: Bolle befürchtet, daß die Staatsorganisationsform ›Demokratie‹ für die Lösung schwelender Probleme alles andere als erste Wahl ist. Solange es nur schwelt, neigen Demokraten zu einer „Kieken wa ma“-Einstellung. Erst wenn die Hütte brennt – oder gar die Jacke – beginnt das große Flattern. Corönchen ist da wohl das beste Beispiel. Bolle meint: So kann man zwar Symptome bekämpfen, aber keine Probleme lösen – und verweist kühl auf unseren Beitrag von gestern nebst dem Verweis auf Tobin (Di 02-02-21 Von Gänseblümchen und Brennesseln). Also, was tun? Demokratie abschaffen? Das wohl lieber nicht. Aber eine gewisse Feinjustierung kann vielleicht nicht schaden. Das aber ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Mi 24-02-21 Wahlkrampf

Wahlkrampf.

Wenn das stimmt, dann wird’s jetzt heftig. Schließlich steuern wir auf ein sogenanntes „Superwahljahr“ zu mit einer Bundestagswahl plus nicht weniger als sechs Landtagswahlen. Neulich (Do 04-02-21 Höret auf den Herrn …) hatte Bolle deren Zahl noch auf nur fünf geschätzt. Aber erstens neigt er nicht zur Übertreibung, und zweitens kommt es darauf auch nicht wirklich an. Eines der Probleme einer Demokratie ist ja bekanntlich, daß es für einen Politiker (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) nicht nur darauf ankommt, das richtige zu tun – was übrigens unmittelbar die Frage aufwirft, was das denn sein mag, das richtige. Nein, er muß auch noch das Wahlvolk überzeugen, daß das richtige auch wirklich das richtige ist. Selbst wenn es ihm „an Wahrheit und an Kräften“ nicht gebricht, kann er durchaus doch an mangelnder Einsicht des Volkes in die Wahrheit scheitern. Das kann zum Beispiel einen Anton Hofreiter und sein „Häuschen im Grünen“ treffen – weil er diesen Lebensstil, aus trivial-guten Gründen übrigens, für klimaschädlich hält. Menschen an sich sind bekanntlich klimaschädlich. Oder zum Beispiel auch den Gesundheitsminister, der sich mit sich selbst bislang nicht hat einigen können, ob er nun zu viel oder zu wenig Impfstoff hat – bzw. „Impfstoff, den keiner will“. Oder es kann den Berliner Senat mit seiner Mietpreisbremse treffen, die nach Ansicht einiger nur dazu geführt habe, daß es erstens weniger und zweitens nur teureren Wohnraum gebe. Ist das jetzt wahr? Wir wissen es nicht. Was wir aber wissen, ist, daß seinerzeit bei der Einführung des Mindestlohnes recht ähnlich argumentiert wurde.

Wir hatten das Thema neulich schon mal gestreift und dabei festgehalten: „Die Malaria wurde in erster Linie durch das Trockenlegen der Sümpfe zurückgedrängt – und nicht etwa durch Chinin. Ganz ähnlich verhält es sich mit ökonomischen Ungleichgewichten. Wenn es nicht gelingt, die Probleme an der Wurzel zu packen, dann wird sich für jedes einzelne Problem, das wir erfolgreich lösen, ein ganz ähnlich gelagertes Problem an irgendeiner anderen Stelle einstellen. Darum ist es so wichtig, auf das gesamtwirtschaftliche Klima zu achten.“ (James Tobin 1965, vgl. dazu Di 02-02-21 Von Gänseblümchen und Brennesseln).

Wie wir leicht erkennen können: Die Probleme ähneln sich – um nicht zu sagen, es sind immer die gleichen. Und? Wer ist schuld? Die Demokraten? Ihre Wähler? Hier schweigt des Sängers Höflichkeit. Im übrigen wäre das dann auch schon wieder ein anderes Kapitel.

Di 23-02-21 Wo bleibt denn da das Positive?

Wo bleibt denn da das Positive?

Nichts liegt Bolle ferner als übertriebener Zynismus. Und das, obwohl in seinem semantischen Netz »Zynismus« lange nicht so abwertend („negativ“) besetzt ist wie der Geist der Zeiten das gegenwärtig sehen mag. Wir hatten diesen Punkt neulich schon mal gestreift (vgl. So 07-02-21 Shit happens). Wer mag, mag dort nachlesen.

Wo zeigt sich nun das Positive? Womöglich nur im Corönchen-Test. Wirklich aufbauend ist das nicht – das sieht Bolle ein. Nun gibt es, um einen „positiven“ Corönchen-Test zu vermeiden, im Grunde genau zwei Möglichkeiten: a) sich nicht infizieren oder b) sich gar nicht erst testen lassen. Auf Dauer aber – auch das sieht Bolle ein – wird sich letzteres wohl kaum vermeiden lassen. Nicht in Urlaub fahren dürfen mangels „negativem“ Testergebnis? Geschenkt. Bolle entspannt sich regelmäßig bei der Arbeit und ist demnach wenig urlaubs-affin. Nicht in den Klub dürfen aus gleichen Gründen? Ebenfalls geschenkt. Spätestens dann aber, wenn man ohne „negativem“ Testergebnis nicht mal mehr in den Supermarkt darf, wird’s eng. Genau das aber wird kommen. Zwar traut sich bislang noch kein einziger der demokratischen Würdenträger, das offen auszusprechen. Aber der Journalismus 2.0 arbeitet erkennbar und mit Fleiß daran, das Volk auf ebendieses einzustimmen. Bürgerliche Freiheitsrechte? Selbstverständlich – wir leben ja schließlich in einem demokratischen Rechtsstaat. Aber bitteschön doch nur für „gute“ Bürger – und nicht für jeden Lumpi, der verantwortungslos „sich und die anderen“ gefährden tut. Demokratie ist schließlich, wie wir bereits gesehen haben, ›die Herrschaft der Guten‹ (siehe So 06-12-20 Das sechste Türchen — Nikolausi …). Nur brauchen die Guten manchmal eben ein Weilchen, bis sie einsehen, was gut ist und was nicht: „Eritis sicut Deus, scientes bonum et malum“ (Ihr werdet sein wie Gott und Gut und Böse unterscheiden können). Das hat ausgerechnet Mephistopheles dem jugendlichen Schüler in sein „Stammbuch“ geschrieben (Faust I, Zeile 2048) – nicht ohne hinzuzufügen: „Dir wird gewiß einmal bei deiner Gottähnlichkeit bange!“ (Zeile 2050). Im Grunde war das – obschon nicht ganz neu – der Anfang demokratischer Rechthaberei. Das aber ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Mo 22-02-21 Von Wissenschaft, Wahrheit und Wirkung

Von Wissenschaft, Wahrheit und Wirkung.

Heute gönnen wir uns mal wieder was leichteres zur Entspannung  – auch als praktischen Nachtrag zu unserem Thema von neulich (vgl. Sa 16-01-21 Wirklich wahr?). Aber es gibt nun mal Themen, die einen geradezu anspringen. Bei der heutigen Morgenlektüre hat Bolle erfahren, daß „alle zwölf Berliner Amtsärzte“ geschlossen darauf hingewiesen haben, daß die gemessenen „Inzidenzen“ nicht nur davon abhängen, wie viele Leute sich frisch infiziert haben, sondern auch davon, wie viele Leute sich testen lassen – und damit lange nicht so aussagekräftig sind, wie wir das gerne hätten. Kiek ma eener an. Als Donald Trump sich vor einiger Zeit ganz ähnlich geäußert hatte, war voll der Teufel los. Warum dann tagtäglich die tagesgenaue massenmediale Vermittlung der Werte? Bolle meint: Das soll so wirken, als habe man, wenn schon nicht Corönchen an sich, so doch zumindest „die Daten“ im Griff. Und dann so was. Das zieht dem Orientierungsbedürfnis – einem der vier kognitiven Grundbedürfnisse und damit essentiell für das seelische Wohlbefinden – doch glatt den Boden unter den Füßen weg. Ja, dürfen die das denn?

Wir hätten diesen Punkt vielleicht gar nicht erwähnt – hätte da nicht ein Hamburger Wissenschaftler ein 105-seitiges Thesenpapier veröffentlicht, das einen Laborunfall in Wuhan als Ursache der Corönchen-Pandemie nahelegt. Ja, darf man das denn als Wissenschaftler? Eine abweichende Meinung vertreten und damit das Orientierungsbedürfnis der Leute erschüttern? Die Leute erwarten von der Wissenschaft die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Dumm nur, daß Wissenschaft so nicht funktioniert. Wissenschaft ist, auf den Punkt gebracht, ein Wettbewerb um Wahrheit (neudeutsch: ein Trial-and-Error-Prozeß), der naturgemäß mehr Versuch und mehr Irrtum hervorbringt als abschließende Wahrheiten. Und? Was kommt pressevermittelt beim Volk an? „Hört auf die Wissenschaft“ – die haben die Weisheit mit Löffeln gefressen. Bolle meint: Hört, hört. Und so wird auch unverzüglich die unzureichende „Wissenschaftskommunikation“ der Uni Hamburg angemeckert. Im Grunde läuft das auf das Ansinnen hinaus, dem Volk nur wirkliche, abschließende Wahrheiten zu servieren – möglichst mainstream-kompatibel. Allerdings liegt es im Wesen der Wissenschaften, daß damit bis auf weiteres nicht zu rechnen ist. Dumm, das.

Das letzte Beispiel für heute: Die Energie-Effizienzklassen, etwa von Kühlschränken, sollen von inflationären A + + + für die beste Einstufung auf eine Skala von A bis G umgestellt werden – wobei A für die schlechteste und G für die höchste Energie-Effizienz stehen soll. Bolle meint: Ist aber auch verwirrend. Wo sind eigentlich die Marketing-Experten und Sprach-Designer, wenn man sie mal braucht? Aber das ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Mi 17-02-21 Na, und denn — ?

Na, und denn — ?

Die Textstelle stammt aus Kurt Tucholskys bitter-süßem Gedicht »Danach«. Das ist auch schon wieder 90 Jahre her bzw. für alle, die kleine Zahlen und große Einheiten lieber haben, drei Generationen. Ja, passiert denn nie was wesentliches auf der Welt? Und so endet Tucholskys Gedicht auch recht nüchtern:

Der olle Mann denkt so zurück:
wat hat er nu von seinen Jlück?
Die Ehe war zum jrößten Teile
vabrühte Milch und Langeweile.
Und darum wird beim happy end
im Film jewöhnlich abjeblendt.

Vabrühte Milch und Langeweile. Herrlich. Bolle liebt es, wenn Dichter die Dinge auf den Punkt bringen. Zur Zeit tun wir so, als sei Corönchen – ein Begriff, der vielen nur als Determinativ-Kompositum und ohne Diminutiv, also ›Corona-Pandemie‹ über die Lippen gehen will – eine Ausgeburt des Leibhaftigen. Also nüscht wie weg – und zwar so schnell wie möglich.

Auch über den Weg zum „weg“ herrscht Einigkeit. Wir haben das an anderer Stelle einmal »Humans go Borg« genannt (vgl. Sa 09-01-21 Und? Wie geht’s weiter?). Na, und denn – ? Denn kieken wa ma. „Back to normal“ heißt die Devise. Which normal?, fragt sich Bolle. Aus den corönchenbedingten Staatsschulden wollen wir, wenn man den Verlautbarungen Glauben schenken darf,  mir nichts dir nichts mal eben „rauswachsen“. Na toll. Die Umwelt läßt grüßen – und Perspektive geht irgendwie anders.

Bolle hat es vor einiger Zeit unternommen, eine Liste zu erstellen mit allem, was uns seit längerem schon plagt, und ist dabei auf schlanke 19 Punkte gekommen. Auf zwei, drei Punkte mehr oder weniger kommt es hier nicht an. Das klingt im Grunde noch beherrschbar – geht aber wohl nicht ohne Plan. Hier Bolles abgespeckte Liste, gekleidet in drei grundlegende Fragen:

Erstens: Wie kann es sein, daß die Weltbevölkerung in toto so wenig kreislaufkritisch ist?  Die hervorstechendsten Punkte sind hier vor allem der Atommüll und, weit abgeschlagen, der Plaste-Müll. Zweitens: Wie kann es sein, daß die Weltbevölkerung in toto ernstlich glauben kann, daß dieser Planet Platz für 8 Milliarden Erdenbürger bietet? Und drittens: Wie können wir glauben, daß sich die zu lösenden Probleme auf dem Wege von Mehrheitsentscheidungen werden lösen lassen – wo uns doch die Nash-Gleichgewichte (übrigens ein weiterer Punkt auf Bolles Liste) regelrecht ins Gesicht springen? Wir werden darauf zurückkommen. Das aber ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Sa 13-02-21 Immer feste druff!

Immer feste druff.

Daß wir zwei Tage in Folge auf Friedrich von Schiller zurückgreifen, ist eher Zufall. Unser heutiges Zitat soll illustrieren, daß Vorfälle wie der folgende durchaus nicht neu sind – wenn auch die Häufigkeit besorgniserregend zunimmt. Was ist passiert? Yoshiro Mori, der Chef des Organisationskomitees der Olympischen Sommerspiele, die demnächst mit einem Jahr Verspätung in Tokyo stattfinden sollen, wurde gefeuert. Natürlich nicht wirklich gefeuert, of course. Japaner sind höflich – und so hat man sich auf einen „Rücktritt“ verständigt. Hintergrund: Ein einziger Satz. Yoshiro Mori hatte am Rande angemerkt, daß Sitzungen mit hoher Frauenbeteiligung sich oft unangenehm in die Länge zögen. Warum? Weil Frauen nun mal einen zeitaufwendigeren Kommunikationsstil pflegten. Man könnte auch sagen: Ein Mann, ein Wort. Eine Frau, ein Wörterbuch. Skandal! Voll die sexistische Entgleisung!

Kann man das so sehen? Natürlich. Muß man das so sehen? Natürlich nicht. Bolle meint: Entweder war das eine schlichte Meinungsäußerung. Dann ist sie durch Art. 5 I GG (bzw. das japanische Äquivalent dazu) gedeckt – falls wir die Angelegenheit überhaupt so hoch hängen wollen. Oder es war eine Tatsachenbehauptung. In diesem Falle wäre es einer Überprüfung zugänglich. Wozu gibt es Sitzungsprotokolle? Falls man sich geirrt haben sollte, nimmt man die Behauptung eben mit einem Ausdruck des Bedauerns zurück – und gut isset.

Aber so? Aufschrei der Straße – wobei sich die Straße 2.0 praktischerweise in den sozialen Medien befindet, man also nicht mal vor die Tür gehen muß, um sich gründlich zu empören. Demos 2.0 nennt Bolle das. Darauf folgt blitzeschnelle die massenmediale Verstärkung des Aufschreies. Skandal, Skandal! Dazu kommt regelmäßig immer gleich die Verhängung der Höchststrafe. Zwar hat niemand gefordert, daß Yoshiro Mori Harakiri (bzw. Seppuku) begehen soll – wir leben schließlich in vergleichsweise zivilisierten Zeiten. Aber die umstandslose Entfernung aus Amt und Würden ist heute eben die Höchststrafe 2.0.

Demokratische Legitimation des Demos 2.0? Fehlanzeige. Rechtsstaatliche Verhältnismäßigkeitsprüfung? Fehlanzeige. Abwägung Problemlösung (die Spiele wollen organisiert sein) vs. Pflege der Befindlichkeiten (Mimimi)? Fehlanzeige. Schon Aristoteles (384–322 v. Chr.) war übrigens klar, daß man es mit der Demokratie – sehr zum Schaden des Gemeinwesens, übrigens – durchaus auch übertreiben kann, und hat dabei ausdrücklich zwischen Politeia und Demokratie als zwei polaren Ausprägungen der Herrschaft der Vielen unterschieden. Aber das ist ja erst zweieinhalb tausend Jahre her – und wäre im übrigen auch schon wieder ein anderes Kapitel.

Fr 12-02-21 Sich binden — oder schnell verschwinden?

Sich binden — oder schnell verschwinden?

Hier haben wir eine der vielen bekannten Stellen aus Schillers »Lied von der Glocke«. Dazu hat Bolle vor zwei Wochen schon in einer Qualitätszeitung unter der Rubrik »Unsere Empfehlung des Tages« was interessantes aufgeschnappt. In dem Bericht ging es um zwei Mädels (no offence, of course), die sich darüber beklagten, daß in ihren Leben „immer wieder ihre persönlichen Grenzen überschritten“ wurden. Im vorliegenden Fall hatten beide „freiwillig Sex“, wollten ihn sogar „unbedingt“. Dann aber, on second thought sozusagen, fiel ihnen ein, daß sie „im Nachhinein hätten Nein sagen wollen“. Bolle meint: No means now. Im Nachhinein wollen oder nicht-wollen gildet nicht – auch dann nicht, wenn man es wohltönend als „Grenzen ziehen“ deklariert. Während es also Ende des 18. Jahrhunderts noch darum ging, langfristige, in Schillers Worten „ewig“ währende Entscheidungen gründlich zu bedenken, scheint das heutzutage im Zeichen verminderter Frustrationstoleranz selbst für one night stands zu gelten.

Eigentlich könnte uns das mißglückte Liebesleben zweier enttäuschter Twens völlig egal sein. Allerdings sieht Bolle zwei mögliche, durch und durch unerfreuliche Weiterungen. Erstens könnten die beiden auf die Idee kommen, sich nachträglich sexuell belästigt oder gar vergewaltigt zu fühlen. Das zeitgenössische Strafrecht käme ihnen dabei durchaus entgegen. Schlecht  für die Männer, wenn’s hart auf hart kommt – aber vielleicht noch hinnehmbar: No risk, no fun. Was Bolle aber wirklich bedenklich stimmt: Wie steht es mit dem nachträglichen „Lieber-doch-nicht-wollen“, wenn die beiden, statt in die Kiste zu springen, im Rahmen ihrer staatsbürgerlichen Pflichten an irgendeiner Wahlurne ihre Stimme abgegeben hätten? Kann Demokratie denn Zufall sein – so wie Liebe Sünde? Das aber, da sind wir uns mit Bolle einig, ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Mo 08-02-21 Die arrogante Ignoranz der Mächtigen …

Lili Marleen — still going strong.

»Ignoranz« leitet sich ab von lat. ignorare ›nicht wissen, nicht wissen wollen‹. Ein Phänomen, das unter den Mächtigen dieser Welt weit verbreitet ist. Und das leuchtet ja auch ein. Je mehr einer weiß, oder gar wissen will, desto mehr lähmt das die Entscheidungsfindung. Gelehrtenrepubliken jeglicher Art (von Friedrich Gottlieb Klopstock 1774 bis Arno Schmidt 1957) gelten nach wie vor als utopisch und vor allem als dysfunktional. Praktikabler scheint Bolle da das klassische Macher-Motto: Avanti dilettanti. Vulgo: wird schon – kieken wa ma. Kurzum: übertriebene Reflektion stört die Macher nur beim Machen. Untertriebene Reflektion dagegen führt oft zum Verlust jeglichen Gefühles für das Suject – und lockt damit potentiell den „Volkszorn“ an wie die Motten das Licht. Damit wären wir bei Arroganz. Das immer gleiche Ende vom Lied: à la lanterne. Nicht, daß Bolle das befürworten würde: Bolle gönnt allen ein langes, glückliches und erfülltes Leben (vgl. dazu auch Do 04-02-21 Höret auf den Herrn …). Auch muß man heute keinen mehr aufhängen oder sonstwie vom Leben zum Tode befördern.  Erstens wäre das – zumindest zur Zeit – sowieso voll verfassungswidrig (Art. 102 GG: Die Todesstrafe ist abgeschafft) – und zweitens reicht es in aller Regel ja völlig aus, jemandem zum Beispiel die Scheckkarte zu sperren. Gleichwohl: der Krug geht zum Brunnen, bis er bricht. Immer, immer wieder …

Was hat das mit uns zu tun? Bolle hat gestern erst erfahren, daß die Spätis (auswärts: Kioske, Büdchen, etc. pp.) in manchen Bezirken in Berlin sonntags nicht mehr sollen öffnen dürfen – und fragt sich, wem zum Teufel das denn possibly nützen soll? Den Späti-Betreibern sicherlich nicht. Der verpeilten Kundschaft vielleicht – auf das sie lernen möge, sich sonnabends schon mit dem Wochenend-Bedarf einzudecken? Möglich, aber unwahrscheinlich. Was dann? Wir wissen es nicht. Auch wird die Maßnahme nicht einmal mit Corönchen begründet – das wäre auch zu albern. Vielmehr wurde hier das Berliner Ladenöffnungsgesetz von 2006 aus irgendeiner Schublade hervorgekramt – ein Gesetz, von dem bislang niemand, wirklich niemand in der Stadt jemals irgendwas gehört hat.

Aber vielleicht ist Corönchen ja in der Tat nur die Hintergrundfolie für ein Spiel namens „Kieken wa ma, was geht“ – bevor das Volk richtig schlechte Laune kriegt. Wie gesagt: Der Krug geht zum Brunnen, bis er bricht. Aber das ist dann letztlich doch schon wieder ein anderes Kapitel.