Mi 16-12-20 Das sechzehnte Türchen …

Hier das 16. virtuelle Türchen …

Der erste Satz steht so in Art. 1 des Grundgesetzes. Der zweite Satz ist abgeleitet aus Art. 2. Beides also an recht exponierter Stelle. In Art 2 heißt es wörtlich: „Jeder hat das Recht auf Leben …“.

Nun sind Grundrechte im Kern Abwehrrechte gegen den aus historischen Gründen als im Zweifel übermächtig empfundenen Staat. Der Staat soll seine Bürger also nicht aktiv vom Leben zum Tode befördern, jedenfalls nicht ohne Not. Soweit ist das klar. Soll der Staat aber auch dafür sorgen (müssen), daß niemand – also auch Corönchen nicht – das Leben seiner Bürger „antastet“? Das zu meinen wäre erstens albern, zweitens hybrid, und drittens ohnehin nicht zu schaffen. Soll er also nicht. Warum tut er dann so, als müsse er in allererster Linie „Leben retten“? Wir wissen es nicht. Mit der Würde steht es ganz ähnlich: Natürlich ist sie nicht faktisch „unantastbar“ – das Grundgesetzt drückt sich gerne „würdig“ aus. Sie soll nur – im rechtsstaatlichen Ideal – als unantastbar angesehen werden. Der Staat soll also, ganz analog, nicht unnötig die Würde seiner Bürger mit Füßen treten. Auch das ist klar. Was aber, wenn es zwischen (dem nach allem ohnehin aussichtslosen) Lebensschutz und dem (durchaus möglichen) Schutz der Würde zum Zielkonflikt kommt? Die Antwort liegt – wie erfrischend ist das denn – bereits in der Fragestellung: Wer sich anschickt, um einer Unmöglichkeit willen das Mögliche zu unterlassen, hat es im Ansatz nicht verdient, ernstlich ernst genommen zu werden.

Was bedeutet das konkret? Macht hoch die Tür, die Tor macht weit – wie Christenmenschen seit dem 18. Jhd. in der Adventszeit zu singen pflegen. Laßt doch die Alten in den Pflegeheimen und die Kranken selber entscheiden, ob ihnen ihre Würde oder ihr Leben wichtiger ist. Ob sie lieber im Kreise ihrer Lieben sterben wollen oder vor den Keimen ihrer Lieben geschützt jämmerlich und einsam von hinnen scheiden? Falls die Meinungen auseinandergehen sollten: Jedem das Seine. Bolle denkt, es kann ja wohl kein Problem sein, die Betroffenen in Einrichtungen mit Schwerpunkt Würde und solche mit Schwerpunkt „möglichst lange leben“ umzuverteilen. Doch das ist wohl schon ein anderes Kapitel.

Di 15-12-20 Das fuffzehnte Türchen …

Hier das 15. virtuelle Türchen …

So kann’s gehen. Aus Abschnitts-Überschriften lassen sich Aphorismen schmieden, indem man sie verdichtet – wobei sich die Verdichtung aus der Hinzufügung der „Leute“ ergibt. Sprache ist wirklich nicht logisch. In Kästners »Fabian« heißt die entsprechende Überschrift einfach nur „Lernt schwimmen!“ Worum geht’s? Fabian, ein bekennender „Moralist“, kommt um beim Versuch, einen Jungen vor dem Ertrinken zu retten. Dummerweise konnte Fabian nicht schwimmen – der Junge schon. So kann es gehen, wenn das Herz größer ist als das Hirn. Auch versteht Bolle „schwimmen“ durchaus nicht wörtlich als „Technik, sich im Wasser zu bewegen“. Vielmehr meint er eine Technik, sich unter Irren zu bewegen. Frei übersetzt könnte man also ebensogut sagen: „Leute, lernt denken!“ Ob das unter Irren wirklich hilft, sei dahingestellt. Aber gönnen wir auch Bolle seine Illusionen. Doch das ist wohl ein anderes Kapitel.

Mo 14-12-20 Das vierzehnte Türchen …

Hier das 14. virtuelle Türchen …

– Was ist, Bolle? Meinst Du, wir sollten das übersetzen?
– Unbedingt.
– Warum schreiben wir dann nicht gleich: „Keine Aktion ohne Reaktion“?
– Weil das Argument damit an Glanz verlieren würde.
– Wie das?
– Steht alles in Brechts »Leben des Galilei«.
– Wo?
– Auf Seite 45–49, im Disput zwischen Galileo und seinem Linsenschleifer mit einem Mathematiker und einem Philosophen. Damals ging es darum, ob Planeten a) an einer „Sphäre“ kleben oder sich nicht doch eher b) freischwingend im Raum bewegen. Aristoteles war für a), Galileos Fernrohr für b).
– Und? Wo stehen wir heute?
– Das mit dem Fernrohr ist geklärt. Ansonsten sind wir deprimierend dicht bei a).

Was, bitte, hat das alles mit „oberster Sozialdirektive“ zu tun? Die alte Regel: Von nüscht kommt nüscht. Man könnte auch sagen: Wer nicht will, der hat schon. Bolle lehnt es schlichtweg ab, mit Leuten zu tun zu haben, die nichts mit ihm zu tun haben wollen – oder sich zumindest so benehmen. Im Grunde aber ist das schon ein anderes Kapitel.

So 13-12-20 Das dreizehnte Türchen — der 3. Advent …

Hier das 13. virtuelle Türchen …

Jede Zeit braucht für an sich „immerwährende Wahrheiten“ offenbar ihre eigenen, jeweils zeitgemäßen Ausdruckformen. Eine dieser immerwährenden Wahrheiten ist die Tatsache, daß Menschen sich ihres Daseins bewußt sind – mit diesem Wissen aber noch nie so recht wirklich weitergekommen sind. Vom tat twam asi („Das bist Du“) des vedantischen Hinduismus – der sich bis ins Jahr 1750 vor der Zeitrechnung der Christenmenschen zurückverfolgen läßt – über Purusha und Prakriti („der Seher und das Gesehene“) aus der Samkhya-Philosophie (etwa 400 vor bis 700 nach) bis hin zum Ego („I am what I am“) – in unserer Zeit nicht zuletzt durch Baghwan Sri Rashneesh alias Osho popularisiert: Stets war den Leuten klar, daß es ein kleines Ich in einem großen Universum gibt. Die genaueren Zusammenhänge indes liegen bis heute eher im dunklen.

Hier ist Manfred Teufel in seinem Werk »Sprache und Zufall« die Formulierung eines erfrischend neuen Ansatzes gelungen: Das kleine Ich als immaterielle Rechenleistung in einem furchtbar großen Universum. Die Konsequenzen sind erheblich: Selbst Descartes’ unerschütterliche Grundwahrheit, cogito ergo sum („Ich denke, also bin ich“) gerät hier ins Wanken.

Fassen wir zusammen: jahrhundertelang haben die Menschen nach „Gottesbeweisen“ gesucht – allerdings ohne brauchbares Ergebnis. Auf die Idee, auch einen „Ich-Beweis“ zu finden, ist dabei, wie’s scheint, noch niemand gekommen. Teufel für sein Teil hat „nach langen Überlegungen“ zu einer „realistischeren Alternative“ gefunden: „Ich trinke, also bin ich.“ Wem das als letztes Wort nicht genügen will oder nicht weihnachtlich genug erscheinen mag: Manfred Teufel ist sich auch noch nicht wirklich schlüssig: Nutzen wir die Adventszeit also weiterhin zur Kontemplation. Vielleicht fällt uns ja etwas noch realistischeres ein – oder zumindest tröstlicheres? Oder aber wir finden es tröstlich: „Reine immaterielle Rechenleistung? Fein, dann kommt ja nüscht weg in diesem furchtbar großen Universum.“ Aber das ist ein anderes Kapitel.

Sa 12-12-20 Das zwölfte Türchen …

Hier das 12. virtuelle Türchen …

Die „Kreativen“ dieser Welt meinen ja oft, sie seien schon deshalb kreativ, weil sie Ideen haben. Andy Warhol dagegen meint, man sei erst dann kreativ, wenn man etwas verwirklicht hat – also buchstäblich geschaffen. Und? Wer hat Recht? Von der Wortbedeutung her natürlich Andy Warhol – wobei sich die Quelle, wie so manches Wesentliche – im Dunkel der Zeiten verliert. Schließlich leitet sich »Kreativität« ab von lat. creare ›schöpfen, schaffen‹. Formal gesehen haben wir es mit einem zweistufigen Prozeß zu tun: Die Idee ist notwendige Bedingung für die Schöpfung. Hinreichend ist aber erst das vollendete Werk – ein Zusammenhang, der übrigens erst in der hier vorliegenden Bolle’schen Fassung in Descartes’scher Manier klar und deutlich (clare et distincte) zum Ausdruck kommt. Aber das ist schon ein anderes Kapitel.

Fr 11-12-20 Das elfte Türchen …

Hier das 11. virtuelle Türchen …

Hier ist er wieder – der Weise aus dem fernen Morgenland. Wer mag, mag das im Rahmen unserer Kontemplationsbestrebungen gerne mal mit unserem 7. Türchen vergleichen. Gemeinsamkeiten? Unterschiede? Nicht ganz einfach – zugegeben. Aber auch nicht ganz unmöglich. Wir werden darauf zurückkommen. Aber das ist dann schon ein anderes Kapitel.

Do 10-12-20 Das zehnte Türchen …

Hier das 10. virtuelle Türchen …

Heute zur Entspannung bzw. zur Unterstützung der Kontemplation ein weniger existentielles Türchen. Obwohl: für so manchen ist Schreiben „existentiell genug“. Nulla dies sine linea soll das Motto des griechischen Malers Apelles gewesen sein. Kein Tag ohne Pinselstrich. Man kann das Motiv umstandslos auf die „Textproduktion“ übertragen – Latein ist da flexibel – und übersetzen: Kein Tag ohne Zeile. Zwar kann das manchmal mächtig mühsam sein – aber so bleibt man in Wallung. Von nüscht kommt nun mal nüscht.

William Forrester (gespielt von Sean Connery) ist der Protagonist in dem äußerst sehenswerten Film Finding Forrester (UK / USA 2000; Regie: Gus Van Sant / der deutsche Titel lautet „Forrester – Gefunden!“). Es geht dabei um einen zurückgezogen lebenden Star-Literaten, der die Schriftstellerei allerdings schon Jahrzehnte zuvor an den Nagel gehängt hatte und eigentlich gar nichts mehr tut – bis er, quasi schicksalhaft, auf den ebenso begabten wie unterprivilegierten Schüler Jamal Wallace trifft und dessen Mentor wird. Klingt erst mal nicht übertrieben spannend – aber soll ja auch kein James Bond sein. Der Sinnspruch oben bringt den Kern des Schreibens auf den Punkt – und hat viele Jahre lang halb mahnend, halb ermunternd Bolles Schreibtisch halb geziert und halb gewürzt. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Mi 09-12-20 Das neunte Türchen …

Hier das 9. virtuelle Türchen …

Ein Spruch wie ein Hammer: Wumm! Und sitzt! In Zeiten wichtigtuerischer „Lebensretter“ – als ob man Leben jemals „retten“ könnte: man kann es allenfalls verlängern –, in Zeiten hysterisch-hybriden Corönchen-Hypes, der auch vor den Pfaffen nicht haltmacht – vergleiche dazu etwa das von manchen System-Sexarbeitern („Huren“ oder „Nutten“ soll man ja nicht mehr sagen) regelmäßig sonnabends zu später Stunde ausgestrahlte „Wort zum Sonntag“ – in solchen Zeiten tut es gut, Freunde wie Bolle zu haben. Welch erfrischende Perspektive auf das Sein an sich. Daß Bolle es mit der kanonischen Orthographie nicht immer allzu genau nimmt, wenn seiner Ansicht nach der Ästhetik der Vorrang gebührt: geschenkt. Leute, macht Euch doch mal klar: Wir alle waren die letzten 13,8 Milliarden Jahre nicht existent, davor – als es noch gar keine Zeit gab – waren wir ebenfalls nicht existent. Und in den kommenden Jahrmilliarden werden wir wiederum nicht existent sein – „töt“ eben, wie Bolle das nennt. Genießen wir die klitzekleine Spanne, die wir haben. Viel ist es wirklich nicht – egal, ob wir 50 werden, 60, 70, oder auch 100. Genießen wir das vor allem in der Adventszeit – der Zeit also, in der ein wenig Raum zur Besinnung (vornehm: Kontemplation) bleibt oder zumindest bleiben sollte (egal, ob Christenmensch oder nicht / vergleiche dazu nicht zuletzt auch das 4. Türchen). Wir werden auf das Thema zurückkommen. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Di 08-12-20 Das achte Türchen …

Hier das 8. virtuelle Türchen …

Hier finden wir, einmal mehr, Original und Abklatsch – sozusagen das O&A der vom Fuße auf den Kopf gestellten Flach-Welt. Massenmedial eingebürgert hat sich „Denn erstens kommt es anders // Und zweitens als man denkt.“ Aber machen wir uns nichts vor: Im Vergleich zum Original kann das nur Abklatsch sein. Wo genau liegt der Unterschied? Fassen wir es so: Es geht um Feinheiten …, es geht um Stil …, es geht um Ästhetik …, es geht um, neudeutsch, „feeling“. Muß man nicht verstehen – könnte man aber. Wie heißt es doch, zeitlos klassisch, Faust zu Wagner: Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Mo 07-12-20 Das siebte Türchen …

Hier das 7. virtuelle Türchen …

Es könnte alles so einfach sein, meint Bolle. Menschen haben – neben ihren physiologischen Bedürfnissen wie essen, trinken, schlafen, und so weiter – auch kognitive Bedürfnisse. Eines davon ist das Problemlösungsbedürfnis: Es fühlt sich gut an weiterzukommen. Der „ehrwürdige Meister Kong“ (Kong Fu Zi bzw., latinisiert, Konfuzius) wußte das schon vor 2.500 Jahren. Höchste Zeit, daß auch die Pädagogen der Neuzeit das langsam mal zur Kenntnis nehmen. Wir können also – und tun das ja auch überwiegend – den „Stoff“ in „Module“ und „Lerninhalte“ zerschreddern, um abschließend den „bausteinbezogenen Qualifikationsstand [zu] messen“. „Listen-Lernen und wieder auskotzen“ nennt Bolle das. Wir könnten aber auch, und zwar sehr viel geschmeidiger und vor allem fruchtbarer, „Lernen als Leistung“ durch „Lust am Lernen“ ersetzen – und zwar ersatzlos und rückstandsfrei. Brauchen wir dazu übertriebenen Digital-Schnickschnack? Natürlich nicht.

Daß die Schredder-Technik nicht unbedingt Sinn macht, war nicht nur Konfuzius klar, sondern, unter vielen anderen, zum Beispiel auch Goethe, dem Dichterfürsten. In seinem Faust I (Zeile 1936-1939) läßt er Luzifer in Gestalt des Mephistopheles luzid ablästern:

Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben,
Sucht erst den Geist herauszutreiben,
Dann hat er die Teile in seiner Hand,
Fehlt, leider! nur das geistige Band.

Zur Erhellung hier ein kleiner Mikro-Dialog, wie er sich in einer Mathematikstunde allen Ernstes zugetragen haben soll:

Schüler: Wozu brauchen wir das?
Lehrer: Keine Ahnung. Steht so im Lehrplan.

Na toll. That leaves no room for discussion, indeed. Könnte das, bitteschön, mal jemand den Lehrenden dieser Welt – von der Kita bis zur Uni – beibiegen? Wäre langsam an der Zeit. Aber das ist ein anderes Kapitel.