Mi 03-02-21 Von Quatsch und Quark …

Von Quatsch und Quark.

Das ist Bolle nach einer Überdosis System-Medien mal eben so rausgerutscht. Betrachten wir es als kleine sprachliche Pointierung nach fast 100 Jahren Dreigroschenoper (vgl. dazu Mi 27-01-21 Wahn und Wirklichkeit). Anlaß war die Berichterstattung zum putistischen Rußland im allgemeinen bzw. zum Umgang mit Nawalny im speziellen. Dabei ist „Er“, wohlgemerkt, natürlich beider- bzw. allerlei Geschlechts gemeint, of course. Wir wollen ja niemanden zurücksetzen. Dieser Hinweis muß genügen, da gendergerechte Dichtkunst Bolles Fähigkeiten bislang bei weitem übersteigt.

Egal, wie man zu Putin oder Rußland oder Nawalny inhaltlich stehen mag. Diese selbstgerechte Pose – oder gar Posse? –, mit der dem geneigten Zuschauer das eigene journalistische Weltbild untergejubelt werden soll, ist schon bemerkenswert. Im Grunde haben wir es hier mit einem Autoimmun-Argument zu tun. Bolle versteht darunter ein ›Argument, das sich gegen alles, was es sonst noch so geben mag, automatisch immunisiert‹ – hier also in etwa wie folgt:

(1) Wir sind die Guten – die freie Presse in einem freien Land. Folglich geht das, was wir sagen oder senden, per se in Ordnung. (2) Die anderen dagegen sind die Bösen – von korrupten Leadern angepaßt bzw. unterdrückt. Folglich geht das, was die sagen oder senden, per se nicht in Ordnung. (3) Summa summarum grenzt es an Frechheit, das eine mit dem anderen zu vergleichen oder auch nur in die gleiche semantische Ecke zu rücken.

Als Hans-Georg Maaßen im Juli 2019 meinte, Die »Neue Zürcher Zeitung« zu lesen sei für ihn wie „Westfernsehen“, da war richtig der Teufel los im Blätterwald. Wie kann man sich nur so erfrechen? Das – genau das – ist es, was Bolle HypnoPresse nennt. Nicht, daß die wirklich „lügen“ würden. Lügen setzt schließlich Wissen und Wollen voraus (fachsprachlich: Vorsatz). Vielmehr glauben die vermutlich selber an all das, was sie da so sagen oder senden. Bolle empfiehlt einen Hauch von agnostisch-kontemplativer Distanz, gegebenenfalls gewürzt mit einem Hauch von Humor und Selbst-Ironie – als Gegengift zur gegebenen Schlagseite (neudeutsch: bias). Ein Hauch von historischem Hintergrundwissen könnte übrigens auch nicht schaden. Aber das ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Di 02-02-21 Von Gänseblümchen und Brennesseln

Von Sümpfen und Chinin.

Bolle meint, wir sollten das besser übersetzen. Wohlan, denn: Die Malaria wurde in erster Linie durch das Trockenlegen der Sümpfe zurückgedrängt – und nicht etwa durch Chinin. Ganz ähnlich verhält es sich mit ökonomischen Ungleichgewichten. Wenn es nicht gelingt, die Probleme an der Wurzel zu packen, dann wird sich für jedes einzelne Problem, das wir erfolgreich lösen, ein ganz ähnlich gelagertes Problem an irgendeiner anderen Stelle einstellen. Darum ist es so wichtig, auf das gesamtwirtschaftliche Klima zu achten.

Was hat das mit uns zu tun? Nun – nicht minder ähnlich verhält es sich auch mit sozialen und sonstigen Ungleichgewichten. Das Thema reicht furchtbar weit, und wir werden es hier nicht abschließend abhandeln können. Nur so viel: Vor einigen Jahren – und nach Monaten vergeblicher „Unkrautbekämpfung“ – hatte Bolle auf seiner Datsche ein Transparent ausgerollt. Darauf stand zu lesen: „Nieder mit den Brennesseln und auch den viel zu vielen Gänseblümchen.“ Die Pflanzenwelt war, wie erwartet, schwer beeindruckt.

Nach dieser dann doch etwas aktivistischen Phase hatte es Bolle mit Nachdenken und vertiefter Informationsbeschaffung probiert und folgendes herausgefunden: Es gibt sogenannte Zeigerpflanzen. Wenn auf einer Datsche übermäßig viele Brennesseln wachsen, dann bedeutet das einfach nur, daß der Boden übermäßig stickstoffreich ist. Und wenn zu viele Gänseblümchen wachsen, dann deutet das auf über Gebühr verdichteten Boden hin. Und genau da gilt es anzusetzen – und nicht etwa bei dann letztlich doch sinnloser „Unkrautbekämpfung“.

Nach unserem Brückenschlag von ökonomischen über botanische Probleme: Was hat das mit der sozialen Welt zu tun? Nun – alles, was passiert, passiert auf einem geeigneten Nährboden. Statt also die Phänomene – wie hier im Beispiel  Brennesseln oder Gänseblümchen – zu bekämpfen, sollte es uns vornehmlich darum gehen, den Phänomenen ihren Nährboden zu entziehen. Kurzum, und in Beantwortung von Sternchens Kommentar von gestern: Jede Unmutsäußerung, jede Demo für oder gegen was, braucht einen geeigneten Nährboden. Ohne den läuft nichts – wirklich gar nichts. Wem der Bogen zu weit gespannt erscheinen mag: Muß ja nicht jeder ein Glasperlenspieler sein (vgl. dazu etwa Fr 04-12-20 Das vierte Türchen …). Obwohl: Bolle meint, daß es lohnt, weiter zu denken. Credo: Man kann alles – wirklich alles – mit allem vergleichen – auch Äpfel mit Birnen. Die Frage ist nur, ob es dann auch gleich ist. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Mo 01-02-21 Tua culpa!

Streitgespräch im Kindergarten.

Eigentlich sollte es heute ja um abgefeimte Demokratie-Umschreibungen gehen. Aber das kann warten. Das läuft uns nicht davon. Kümmern wir uns also lieber um Sternchens Kommentar-Anfrage von gestern: Kurz gefaßt: Warum sind die Juden immer schuld an allem? Schlechte Menschen? Das wohl eher nicht. Sich immer wieder wiederholende Geschichte? Möglich – als Antwort aber nicht wirklich befriedigend. Was dann?

Das Leben in größeren Gruppen schafft naturgemäß Konflikte – wobei wir unter »Konflikte« nichts weiter als widerstreitende Interessen verstehen wollen. Warum nur „in größeren Gruppen“? Easy. In kleineren Gruppen funktioniert das, was wir neulich »Sozialisation« genannt haben (vgl. dazu Do 28-01-21 Sozialisation. Wird schon? Oder Hohn?). Oder kann sich jemand vorstellen, daß sich ein kleiner Unter-Indianer in einem Pueblo in New Mexiko oder Colorado nach Nawalny-Art gegen seinen Big Chief, den Ober-Indianer, auflehnt? Wohl kaum. Da ist seine Sozialisation vor. In größeren sozialen Verbänden ist das anders. Man läuft sich nicht jeden Tag über den Weg, man kann sogar völlig anonym rumpupsen – kurzum: Man kann völlig fehlsozialisiert seine „Freiheit“ ausleben, ohne sich sonderlich um irgendwelche Konsequenzen kümmern zu müssen.

Soweit leuchtet das womöglich ein. Was aber ist die Ursache des Unbehagens? Nun – in einer Welt begrenzter Möglichkeiten und potentiell ungegrenzter Wünsche bzw. gar Ansprüche ist Frustration vorprogrammiert. Warum ist das Gras in Nachbars Garten regelmäßig grüner? Houston – wir haben ein Problem. Und zwar ein Problem der potentiell unlösbaren Art. Wie geht man mit Problemen um? Die naheliegendste Möglichkeit wäre, das Problem schlicht und ergreifend zu lösen. Wenn das nicht geht – und das ist bei potentiell unlösbaren Problemen höchst wahrscheinlich – dann tut es gut, wenigstens zu wissen, wer Schuld ist am Problem. Das kann man herrlich in jedem Kindergarten beobachten – treffen hier doch unzureichende Problemlösungskompetenz und überschießendes Bedürfnis nach sozialpsychologischer Bereinigung aufs Feinste aufeinander: Du bist schuld. Nein, Du. Nein, Du. Jeder, der jemals ein, zwei Stündchen in einem Kindergarten zugegen war, weiß, was Bolle meint. Aber in real life? Ist es kaum anders. Auch hier geht es regelmäßig darum, hilfsweise zu klären, wer jeweils schuld ist am jeweiligen Schlamassel. Das löst zwar kein einziges Problem, dient aber der Sozialhygiene. Danach fühlen sich alle gleich wieder besser – und das Leben kann weitergehen. Tua culpa, Deine Schuld – im Gegensatz zu mea culpa, meine Schuld. Aber außerhalb der katholischen Kirche sagt so was ja ohnehin keiner mehr. Bestenfalls hört man gelegentlich ein schnodderiges „Sorry – my fault“.

Fassen wir zusammen: Leute haben Probleme, weil sie fehlsozialisiert sind. Da die Probleme aus guten Gründen nicht lösbar sind, muß wenigstens jemand her, der Schuld ist am Schlamassel. Warum aber ausgerechnet die Juden? Das bliebe hier noch zu klären. Begeben wir uns zu den Quellen – ad fontes, sozusagen. Im 5. Buch Mose, im 7. Kapitel, lesen wir:

3Und sollst dich mit ihnen nicht befreunden: eure Töchter sollt ihr nicht geben ihren Söhnen, und ihre Töchter sollt ihr nicht nehmen euren Söhnen. 4Denn sie werden eure Söhne mir abfällig machen, daß sie andern Göttern dienen; so wird dann des Herrn Zorn ergrimmen über euch und euch bald vertilgen. […] 6Denn du bist ein heiliges Volk dem Herrn, deinem Gott. […] 14Gesegnet wirst du sein über alle Völker.

So etwas hätte man im viktorianischen England splendid isolation genannt. Ob das heute – mit Ausnahme vielleicht von ultra-orthodoxen Juden (Charedim) – noch jemand wirklich wörtlich nimmt, sei dahingestellt. Rein sozialpsychologisch bleibt aber festzuhalten: Wer dazugehören will, ohne dazugehören zu wollen, hat es, gruppendynamisch gesehen, nicht ganz leicht und prädestiniert sich geradezu für die Rolle des Sündenbocks. Ist das fair? Natürlich nicht. Sind „die Juden“ also „selber schuld“? Wenn Bolle so was hört, dann muß er, ob soviel Dummheit  – auch und insbesondere angesichts der mittlerweile salonfähig gewordenen „Täter/Opfer-Dichotomie“, als gäbe es keine Watzlawick’sche Interpunktion – regelmäßig kotzen. Allein: eingespielte sozialpsychologische Strukturen orientieren sich nun mal nicht an Dummheit (oder Intelligenz), sondern „zünden“ eher auf der affektiven Ebene – also „da, wo’s fühlt“. Solche Strukturen aber mal eben locker par ordre du mufti auszuhebeln, dürfte nicht ganz easy sein. Damit müssen wir leben – oder aber uns gründlich ändern. Allerdings wird das ganz auf die Schnelle – wie manche sich das wünschen mögen – wohl nicht zu machen sein. Und bis dahin? Wir wissen es nicht. Weiterwurschteln, wohl. Im Zweifel sind und bleiben also die Juden schuld. „Die besten stehen immer auf den schwierigsten Plätzen“ – so Bolles lieber guter alter Management-Coach. Das allerdings ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

So 31-01-21 Wissen, wohin …

Wissen, wohin.

Hier ein knapper Auszug aus unserer Reihe »Der historische Text«. Bolle hat ihn seinerzeit im Rahmen seiner Abschlußprüfung in Soziologie verfaßt. Hat sich seitdem was wesentlich Neues ergeben? Mitnichten. Es gibt Dinge, die ändern sich nie. Auch scheint Bolle der Zeitpunkt für eine Veröffentlichung günstig, da erstens sein lieber guter alter Soziologie-Professor kürzlich seinen 80. Geburtstag gefeiert hat und auch Franz, der Weise, dieser Tage immerhin 63 wird. Wohlan, denn. Hier der Text:

Die zukünftig Herrschenden haben den zukünftig Beherrschten eines voraus – und das ist ihre Ausrichtung. Meine These ist, daß die Ausrichtung alleine hinreichend sein kann – unabhängig von etwaigen Machtmitteln wie etwa „Kapital“ im weitesten Sinne. In den Beispielen bei Popitz 1992 (»Phänomene der Macht«) unterscheiden sich die zukünftigen „Liegestuhlbesitzer“ von den Nichtbesitzern nur darin, daß sie – aus welchen Gründen auch immer – einen eigenen Liegestuhl beanspruchten. Mit anderen Worten: Sie wußten, was sie wollten – sie waren auf ein Ziel ausgerichtet. Dabei braucht Machtentfaltung und vor allem ihre Etablierung als Herrschaft Zeit – sie entwickelt sich in aller Regel nicht spontan.

Versteht man unter »Institutionalisierung« etwa ›Verfestigung und Verstetigung‹ von Strukturen und faßt man »Strukturen« (begrifflich klarer) als ›Relationen‹ auf, dann ist es wohl nicht nur so, daß Herrschaft nach Institutionalisierung strebt, sondern auch – gerade umgekehrt – daß Institutionalisierung Herrschaft hervorbringt. Historisch gesehen wurde und wird die Zeitgebundenheit der Machtentfaltung unterstützt durch Institutionen, vor allem (1) Privateigentum und (2) Erbrecht – funktional betrachtet also die Möglichkeit, Erfolge zu akkumulieren, und zwar über die Lebensspanne einer einzelnen Person hinaus.

Nun sind Privateigentum und Erbrecht in vielen Gesellschaften schon sehr lange institutionalisiert. Aber erst mit dem Kapitalismus – also dem Vordringen des Kapitals als wichtigste materielle Machtgrundlage – entstand eine bis dahin undenkbare Akkumulationsmöglichkeit von Macht. Die herkömmliche Machtgrundlage – Eigentum an Grund und Boden und vor allem die daraus resultierenden Einkünfte – ließ sich nur durch Erwerb weiteren Bodens erweitern, also im Regelfall durch Eroberungen. Der Bodenertrag war im wesentlichen eine Funktion der Fläche. Erst mit der Erfindung des Kunstdüngers (Justus Liebig) wurde eine (vergleichsweise mäßige) Steigerung des Bodenertrags pro Hektar möglich. Auch die „Wachstumsrate“ etwa einer Viehherde hält sich in engen, natürlich vorgegebenen Grenzen.

Die Produktivität von technischen Anlagen (Kapital) ist dagegen fast grenzenlos steigerbar. Durch die Trias (1) Privateigentum, (2) Erbrecht und (3) Kapital als Produktionsfaktor ist also der „Belohnungswert“ einer langfristigen Ausrichtung so hoch wie noch nie. Der Kapitalismus war demnach auch nicht das Werk von (eher kurzfristig orientierten) „Nutzenmaximierern“, sondern – ganz im Gegenteil – das Werk von „innerweltlicher Askese“ (Max Weber), also einer langfristig und sogar generationenübergreifend angelegten Ausrichtung auf ein Ziel hin. Ganz analog verhält es sich mit anderen Kapitalformen – etwa kulturellem Kapital (Bourdieu) in Form von Ausbildung oder Titeln: Je länger eine Ausbildung regelmäßig dauert, desto höher ist in der Regel das damit verbundene Prestige und somit auch das potentiell erzielbare Einkommen. Warum ist Ausrichtung so wichtig? Zwei Gründe scheinen mir wesentlich:

  1. Der time-lag zwischen Aufwand und Ertrag. Vorzeitiges Abbrechen einer Handlungskette bringt einen um den Ertrag – zurück bleibt der Aufwand, und nur der Aufwand. Ein Beispiel wäre ein Bauer, der im Herbst auf die Idee kommt, seine Zäune zu streichen, statt die Ernte einzufahren.
  2. Die Reduktion von Kontingenz bzw. Transformation von Kontingenz in Realität. Die Wirklichkeit wird „wirklicher“, wenn sie sich nicht im Raum der Möglichkeiten verzettelt.

Soweit der Text. Wem das zu theoretisch war: Überlegt doch mal, wie sich Ausrichtung bzw. „Entschlossenheit“ heute ganz lebenspraktisch äußert: „Schnabel aufreißen“ heißt die Devise. Je lauter, desto besser. Wer schreit, hat Recht. Unglücklicherweise hat sich der Journalismus 2.0 offenbar dieser Deutung angeschlossen und verkauft dem Publikum Lautstärke als Ausweis von Engagement. Die Gediegeneren begnügen sich derweil damit, ihre Anliegen nach allen Regeln der Kunst zu institutionalisieren. Zwar dauert das länger – ist aber um so wirkungsvoller. Wer schließlich mehr über das „Liegestuhl“-Beispiel erfahren möchte – die Lektüre lohnt unbedingt, und sind auch nur knapp 10 Seiten –, der (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) möge das Bändchen erwerben oder bei uns anfragen. Das aber ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Sa 30-01-21 Denken nützt …

Denken nützt.

Heute konnten wir in den bildungsbürgerlichen Medien erfahren, daß Statistiker ermittelt haben, daß die sogenannte „Übersterblichkeit“ in Deutschland zur Zeit bei 5% liegt – daß zur Zeit also 5% mehr Leute sterben als sonst. Kiek ma eener an, meint Bolle und verweist auf unseren Beitrag von neulich, Mo 25-01-21 Live forever? Dort hatten wir locker überschlagen, daß in Deutschland regelmäßig und sowieso Jahr für Jahr 1 Mio Leute sterben – wobei gegenwärtig etwa 50.000 Corönchen zugerechnet werden. Nun ist es so, daß 50.000 geteilt durch 1 Mio zufälligerweise justamente 5% ergibt. Dafür braucht man weiß Gott keine Statistiker – und erst recht keine Mathematiker. Das kann jeder Taschenrechner.

Natürlich möchte Bolle mitnichten „arrogant“ rüberkommen. Aber ein wenig verwundert ist er schon, mit welcher Gründlichkeit – um nicht zu sagen: Scheingenauigkeit – seit Monaten neben den regulären Nachrichten in ungezählten „Extras“ und „Spezials“ über R-Werte, Inzidenzwerte, Verstorbene, „Genesene“ und weiß der Teufel was sonst noch auf die Einerstelle genau (!) berichtet wird. Besonders pikant findet Bolle den regelmäßigen Hinweis, daß es sich hierbei nur um Datenmüll handeln kann (so sagt das natürlich keener – aber genau darauf läuft es hinaus), unter anderem, weil „am Wochenende weniger Daten gemeldet“ würden. Bolle meint: Wie man aus Daten schwankungsbereinigte Trends ermittelt, ist den Statistikern seit mindestens 100 Jahren klar. Warum dann das Volk Tag für Tag sinnlos zumüllen? Weil es „gefühlt“ mehr zu berichten gibt? Weil es die Leute in „gefühlter“ Dauer-Alarmbereitschaft hält? Wenn das mal gutgeht auf die Dauer … Aber das ist dann doch vielleicht schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Fr 29-01-21 Humor und Haltung

Humor und Haltung.

Ich war zu meiner Zeit ziemlich berühmt. Manche haben sogar meine Bücher gelesen. Diese Mischung aus Humor und Haltung bringen vorzugsweise Briten auf den Punkt. Zum besten gegeben hat das Stephen Hawking in einer von der BBC frisch ausgestrahlten Version vom »Anhalter durch die Galaxis«. (Ja, ja – der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Schon klar …). Das war am 8. März 2018 – sechs Tage vor Hawking’s Tod, by the way. Was soll man da sagen? Kult meets Kult, vielleicht. Der »Anhalter« selbst konnte 2018 seinen 40. Geburtstag feiern. And still going strong. Selbst Bolles Studenten haben eine zumindest vage Vorstellung davon.

Wie aber erlangt man eine solche Popularität? Und vor allem: Wie bringt man Leute dazu, sogar die Bücher zu lesen, die man schreibt? Hawking selbst soll im Vorwort seiner »Kurzen Geschichte der Zeit« angemerkt haben, daß ihn sein Verleger gewarnt habe: Jede Formel im Buch würde die Leserschaft glatt halbieren. Das muß vor 1988 gewesen sein. Allerdings hätte Hawking das wissen können. Schon 1951, also über 30 Jahre zuvor, hatte ein nicht weniger prominenter Kollege aus der OxCam-Connection, Bertrand Russell, in einer kleinen Ansprache zu »The Use of Books« die Befürchtung geäußert, daß zu viele Formeln wirklich zu viele abschrecken. Dabei ging es allerdings ausgerechnet um die »Principia Mathematica« (Russell / Whitehead 1910-1913). Aber Russell ahnte schon, was fehlt: Zu wenig „moral uplift“, also moralische Erbauung, im Standardwerk der Mathematik.

Und?, fragt sich Bolle. Was hat das mit mir zu tun? „Terror, Ficken, Hitler“ (so das Känguru in Marc-Uwe Klings einschlägigen Chroniken) einschließlich entsprechender Inhalte kann’s dann wohl ja auch nicht sein.

Das führt uns zu der Gretchenfrage für heute. Lesen Leute überhaupt noch? Oder sind sie vollauf damit beschäftigt, ihre Emails zu checken, Follower zu beglücken oder selber brav zu „folgen“ – oder auch nur die nächsthöhere Stufe in irgendeinem Daddel-Ding zu erklimmen? Das aber ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Do 28-01-21 Sozialisation. Wird schon? Oder Hohn?

Bolles Definition von Sozialisation.

Zugegeben: Eine regelrechte Definition im aristotelischen Sinne, von wegen „omni definitio fit per genus proximum et differentiam specificam“, ist das natürlich nicht. Bolle mag sie trotzdem. Bleiben wir also dabei – und suchen wir uns einen cartesianischen Ausgangspunkt. Clare et distincte, eben. Den zu finden ist allerdings gar nicht allzu schwer.

Erstens: Man kann es, egal was man tut, auf gesamtgesellschaftlicher Ebene unmöglich allen recht machen – es sei denn, alle sind per se der gleichen Meinung bzw. haben eine ähnliche Vorstellung davon, was eine „gute“ Gesellschaft ausmacht. Davon allerdings können wir weiß Gott nicht ausgehen.

Zweitens: Je „homogener“ eine Gesellschaft, desto wahrscheinlicher ist es, daß die Vorstellungen von einer „guten“ Gesellschaft einigermaßen deckungsgleich und damit politisch handhabbar sind. Sowohl die Werte als auch das Verhalten und nicht zuletzt auch das Erscheinen bilden sich – und zwar von Kindertagen an – in der Auseinandersetzung mit den jeweils Anderen. Niemand, wirklich niemand, entwickelt sein Weltbild out of thin air.

Drittens: In einer „heterogenen“ Gesellschaft ist das grundsätzlich anders. Hier treffen nicht selten Leute, die die Verfassung sprichwörtlich unterm Arm tragen, auf Leute, die – nur zum Beispiel – die Sharia für verbindlich halten. Dürfen die das? Aber Ja doch. Jeder mag nach seiner Façon glücklich werden – das hat der Alte Fritz vor über 250 Jahren schon so gesehen. Allein: Eine gelingende Sozialisation – i.S.v. „Du wirst so wie die Leute um Dich herum“ – ist auf diese Weise nicht möglich. Warum nicht? Weil „Die Leute um Dich herum“ einfach nicht mehr definiert sind.

Daraus folgt, viertens: Je heterogener eine Gesellschaft aufgestellt ist, desto heftiger wird sich ein Teil der Gesellschaft in ihrer Freiheit eingeschränkt bzw. in ihren Werten (i.S.v. ›allgemeines Für-richtig-halten‹) verraten fühlen.

Damit stellt sich die Frage, wie eine „Mehrheitsgesellschaft“ mit so etwas umgehen soll. Die naheliegendste Möglichkeit wäre eine Art von Werte-Relativismus („Macht doch, was Ihr wollt“). Eine charmante Idee – nur läßt sich darauf kaum eine Gesellschafts- und schon gar nicht eine Rechtsordnung aufbauen. Demnach haben wir es hier also mit einer „Null-Lösung“ zu tun: fein – aber nicht funktional.

Die anthropologisch bzw. sogar biologisch seit Jahrmillionen eingeführten „Konflikt-Bereinigungsstrategien“  sind Unterwerfung, Vertreibung und schließlich auch Vernichtung – in dieser Reihenfolge (Schwarz’sche Konfliktlösungsstufen). Guckt Ihr denn nie Tierfilme? Oder glaubt Ihr etwa, das sei nicht vergleichbar und homo sapiens stünde über den Dingen? In diesem Falle würde Bolle Darwin gerne herzlich grüßen lassen.

Kurzum: daß in einer Gesellschaft verschiedene Werte vorherrschen, ist unabänderlich. Dabei gilt: Je heterogener, desto verschiedener. Einfach laufen lassen ist dabei keine Option – jedenfalls nicht auf längere Sicht. Für die drei restlichen Optionen brauchen wir dringend – um in der Tierreich-Analogie zu bleiben – so eine Art Beißhemmung. Nicht alles, was technokratisch „zielführend“ scheint, ist humanistisch auch vertretbar und könnte – um auf Darwin zurückzukommen – einen evolutionären Rückschritt um einige Millionen Jahre bedeuten. Es sei denn, wir finden eine sophistischere Definition von Evolution. Das aber ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Auch und vor allem die Frage, was das alles mit dem 76. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz zu tun haben soll, ist so was von ein anderes Kapitel, daß wir an dieser Stelle unmöglich darauf eingehen können.

Mi 27-01-21 Wahn und Wirklichkeit

Wahn und Wirklichkeit in der Dreigroschenoper.

„Wahn“ – das ist den meisten nicht klar – ist ein uraltes Wort. Der Ursprung läßt sich zurückverfolgen bis ins Althochdeutsche und darüber hinaus ins Germanische, Gotische und Altnordische. Und überall bedeutet es das gleiche – nämlich ›Hoffnung, Erwartung‹. Man könnte auch sagen: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Die semantische Nähe zu „Wahnsinn“ dagegen ist vergleichsweise jung. Um vermeidbaren Konfusionen vorzubeugen, sollten wir uns besser auf „Wunsch und Wirklichkeit“ verständigen.

Die Wirklichkeit taucht regelmäßig im Singular auf – auch wenn die Perspektiven darauf höchst vielfältig sein mögen. Der Wünsche dagegen gibt es furchtbar viele. Auf den Brecht’schen Punkt gebracht: Wer plant, muß wählen. Damit ist zwar noch lange nicht gesagt, daß der Plan dann auch „geht“. Aber immerhin: It’s a start. Aber wählen – man könnte auch sagen: entscheiden – ist beileibe nicht jedermanns Sache. Und das ist karrieretechnisch ja auch durchaus klug. Wenn einer sagt: Dieses will ich, jenes nicht – dann hat er, namentlich in einer pluralistischen und massenmedial gesteuerten Gesellschaft, sofort alle am Hals, die exaktemente das Gegenteil wollen. Und wenn sich – rückblickend betrachtet – mehr oder weniger „nachweisen“ läßt, daß das ursprünglich Gewollte in eine Sackgasse geführt hat oder zumindest schwere „Nebenwirkungen“ mit sich gebracht hat, dann steht’s schlecht um die weitere Karriere. Folglich produziert „das System“ scharenweise Leute, die sich vernünftigerweise immer schön bedeckt halten. Einer Problemlösung, die den Namen verdient, kommt das allerdings  weniger zugute. So ist das nun mal bei Nash-Gleichgewichten. Sei’s drum.

Was hat das alles mit Corönchen zu tun? Corönchen – das scheint Bolle das Gute daran – wird uns zwingen, unsere vielfältigen Wünsche mit der einen Wirklichkeit abzugleichen. Im Zweifel gewinnt die Wirklichkeit – egal, was wir für wünschenswert halten. Im Moment sieht es ganz danach aus, als würden die „Markt-Taliban“ – die die letzten Jahrzehnte absolut die Oberhand hatten –  ein wenig in die Defensive geraten. Und das ist wohl auch gut so – andererseits dann aber doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Di 26-01-21 Live forever, again

Relative Corönchen-Anfälligkeit nach Lebensalter.

Nach unserem Beitrag von gestern (Mo 25-01-21 Live forever?) haben uns einige Rückmeldungen erreicht: Der wundersame Rückgang bei den über 90-jährigen könne ja wohl nur daran liegen, daß es von denen nicht mehr allzu viele gebe. Besten Dank dafür. Bolle – wie geht man mit so etwas um? Kein Problem – wir rechnen die Verteilung der verschiedenen Altersgruppen einfach raus. Gesagt, getan. Damit ergibt sich eine neue Graphik – die das Gemeinte allerdings nur noch unterstreicht.

In den Psaltern 90, 10 heißt es: Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.

Das aber ist – man kann es kaum anders sagen – die conditio humana auf den Punkt gebracht. Kommen wir damit klar. Sagen wir so: Die Wahrscheinlichkeit, das nächste Jahr (oder die nächsten Jahre – darauf kommt es nicht an) zu überleben, sinkt mit zunehmendem Lebensalter. Und nichts anderes spiegelt sich in unserer Corönchen-Anfälligkeits-Statistik: Je älter, desto anfälliger fürs Ableben. Kann man unter diesen Umständen sagen, daß Corönchen ursächlich ist – oder ist es einfach nur auslösend? Ein Trigger, auf neudeutsch. Bolle vermutet letzteres.

Das aber legt einmal mehr nahe, daß Corönchen eher ein psychologisches Problem auf der Ebene „letzte Fragen“ ist und weniger ein medizinisches. Wir haben es hier und überhaupt mit einer Population zu tun, die mit ihren dringend anzuratenden agnostisch-kontemplativen Exerzitien schwer ins Hintertreffen geraten ist. Bedauerlich – aber auf die Schnelle kaum zu ändern. Philister – alles Philister. Das aber ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Mo 25-01-21 Live forever?

Relativer Exitus nach Lebensalter.

Manche Dinge werden Bolle erst so richtig klar, wenn er eine Graphik vor Augen hat. Wenn die Angaben nicht lügen – wovon wir mangels besseren Wissens einmal ausgehen wollen – dann kann man Corönchen eigentlich nur als ›Rentnerproblem‹ einstufen. Nach entsprechender Datenverdichtung ergibt sich nämlich, daß 92,7% der Dahingeschiedenen auf Rentner entfallen. Das sind fast alle. Natürlich gönnt Bolle allen und jedem (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) ein möglichst langes und auch möglichst erfülltes Leben. Indes: Macht bei dieser Datenlage die feine Unterscheidung zwischen „an Corönchen“ und „mit Corönchen“ überhaupt noch irgendeinen Sinn? Oder ist Corönchen nur ein, zugegeben: auffälliger, Auslöser für den finalen Exit, der uns Menschen als sterblichen Wesen nun einmal bestimmt ist? Ist nicht jede andere denkbare Sichtweise im Kern frevelhaft, hybrid – oder gar gottlos?

Bevor wir hysterisch werden – hier die frohe Botschaft. Aus der Tatsache, daß 92,7% der Dahingeschiedenen Rentner sind, folgt nicht, daß furchtbar viele Rentner dahingeschieden sind. Noch liegt die Sterblichkeit insgesamt bei lediglich 0,6‰. Das ist so gut wie Null. Nun könnte man dagegenhalten und argumentieren, daß sie damit absolut gesehen bei über 50.000 liegt – und das seien 50.000 zuviel. Wiederum umgekehrt sollten wir uns aber auch klarmachen, daß in einem Land mit einer Wohnbevölkerung von etwa 80 Millionen und einer Lebenserwartung von in etwa 80 Jahren natürlicher- bzw. auch statistischerweise ohnehin 1 Mio Einwohner pro Jahr das Zeitliche segnen. Das, so meint zumindest Bolle, relativiert die 50.000 doch sehr. Könnte es nicht vielleicht sein, daß wir es hier weniger mit einem medizinischen Problem und nicht doch eher mit einer Form von anthropozentrischem Totalitarismus zu tun haben? Frei nach dem Motto: Let’s live forever. Fuck the rest of all. Das aber ist dann doch schon wieder ein definitiv anderes Kapitel.