So 29-09-24 Die Qual der Wahl

So kann’s gehen …

Der Osten hat gewählt. Fast möchte man sagen: schon wieder. Letzten Sonntag duften wir die dritte Wahl binnen dreier Wochen (plus einem Tag) erleben. Dabei hat eine solche Häufung einiges für sich. Wie unter dem Brennglas erschließt sich dem Beobachter die Stimmung im Volke.

Und? Was ist passiert? Grob gesagt könnte man sagen: Ene mene Miste, es rappelt in der Kiste. Die FDP ist aus allen drei Parlamenten geflogen, die Grünen und die Linke aus immerhin zwei Parlamenten. Allein die Volkspartei SPD ist nirgends rausgeflogen. In zwei Parlamenten ist sie mit 6 bzw. 7 Prozent der 5%-Hürde allerdings bedenklich nahegekommen.

Was die Exekutive angeht – also das, was das Wahlvolk eigentlich interessiert: In allen drei Parlamenten wurden die bestehenden Regierungen abgewählt. Zwar hat sich die Polit-Prominenz nach Kräften bemüht, sich die Ergebnisse schönzusäuseln. Allein die Schockwellen reichten bis nach Berlin. Dort wurde im Rahmen der üblichen Ränkespiele dem Parteivorstand der Grünen ein Rücktritt – gewissermaßen für Volk und Vaterland, zumindest aber im Hinblick auf die Wahlen nächstes Jahr – verordnet, und der Vorstand der Jung-Grünen ist nicht nur zurück-, sondern gleich ganz aus der Partei ausgetreten. Kurzum: das große Flattern allerorten.

Dabei könnte alles so einfach sein. Wenn das Volk sich aus rein praktischen Gründen schon nicht selber regieren kann, dann sollte es wenigstens entscheiden können, wer es regieren soll, beziehungsweise zumindest, wer es nicht länger regieren soll.

Karl Popper hatte das seinerzeit wie folgt auf den Punkt gebracht: Sinn und Zweck einer Demokratie bestehe darin, daß es dem Volke als Souverän möglich sei, die Herrschenden gegebenenfalls „ohne Blutvergießen“ abwählen zu können.

Nun ist der Deutsche (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) an sich ja wirklich kein Revolutionär. So soll Lenin einmal gesagt haben: „Revolution in Deutschland? Das wird nie was. Bevor die Deutschen einen Bahnhof besetzen, lösen sie erst mal eine Bahnsteigkarte.“

Aber davon ab: Die Herrschenden bei Mißfallen ohne Blutvergießen auszutauschen ist in Deutschland – anders als etwa in den USA – ohnehin nicht möglich (vgl. dazu etwa Sa 10-12-22 Das zehnte Türchen …). Das einzige, was in Deutschland möglich ist, ist eine Verschiebung der Machtverhältnisse in der Legislative. Die Herrschenden werden dort gewählt bzw. (via Koalitionsverhandlungen) ausgekungelt.

Und diese Kungeleien können durchaus absurde Züge annehmen. Um bloß nicht das zu machen, was das Volk will, soll nun ebenso plötzlich wie nolens volens zusammenwachsen, was wohl wirklich nicht zusammengehört. Die seriöseren unter den politischen Beobachtern munkeln schon, daß die Zustände in Deutschland auf ein Zwei-Parteien-System hinauslaufen: Die Blockparteien beliebiger Couleur auf der einen Seite, die AfD auf der anderen.

Mit Hinblick auf drei Jahre – man möchte sagen – Ampelmurks sind durchaus Zweifel angebracht, ob das funktionieren kann und wird. Bolle jedenfalls hat da so seine Zweifel.

Dabei war Demokratie noch nie so wichtig wie heute. Schließlich wurde sie mit Fleiß als das Distinktionsmerkmal dieser Welt herausgeputzt: Demokratie einerseits, Despotie andererseits: Die Guten sind die Demokraten, die Bösen die Despoten.

Daraus folgt, wenn man es mit Begrifflichkeit und Logik nicht allzu genau nimmt, daß das, was Demokraten tun, per se gut ist, und das, was Despoten tun, per se schlecht und böse. Man könnte auch sagen: Die Bösen spalten, die Guten haken sich unter. Bolle meint: Zustände wie in Hollywood.

Und wehe, das Volk spielt nicht mit. Dann muß es natürlich verboten werden, of course. Zumindest aber weggebissen. Auf die Vorkommnisse bei der Konstituierung des Thüringer Landtages (nebst deren Zerrspiegelung in manchen Mainstream-Medien) wollen wir hier lieber nicht weiter eingehen.

Manchmal würde sich Bolle ja ein Mindestmaß an Common Sense wünschen – hier verstanden als grundsätzliches Einvernehmen auf der Meta-Ebene, also oberhalb der Objekt-Ebene (also dem, um das es im Einzelnen gerade gehen mag). Doch vergebens predigt Salomo …

Übrigens sind heute schon wieder Wahlen. Dieses mal in Österreich. Kickln wa ma … Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 22-09-24 Opinio et Reactio

Dem scheint das so zu sein …

Die Geschmäcker sind verschieden – und waren es wohl auch schon immer. De gustibus non est disputandum – Über Geschmack läßt sich nicht streiten. Das ist, wenn wir genauer hinschauen, spätestens seit Aristoteles (384–322 v. Chr.), also seit etwa zweieinhalbtausend Jahren klar. Das gleiche gilt für Meinungen, of course, da es sich hierbei ja nur um kognitive Geschmacksfragen handelt. Dabei wollen wir unter Meinung hier nur die mal eben hingehauene Ansicht, opinio, verstehen. Bolle unterscheidet das von doxa, einer durchdachten und wohlbegründeten Sicht auf die Dinge.

Betrachten wir unser Schildchen: Es beschreibt den Blick zweier Personen – hier Anton (A) und Bolle (B) – auf ein und dieselbe Sache, die wir hier Gegebenheit (X) genannt haben. Soweit sozusagen die nackten Fakten. Nehmen wir nun an, Anton fände die Gegebenheit „voll toll“, Bolle dagegen fände die gleiche Gegebenheit „ungut“.

Kann so etwas sein? Aber Ja doch. Es ist sogar der absolute Regelfall. So heißt es etwa in einem der Meinungsmacher-Blättchen dieser Tage: Seit Corona ist meine Schwester total abgedriftet, wir können gar nicht mehr über Politik reden. Dabei ist der Grund laut Blättchen schnell erkannt: Die Menschen im eigenen Umfeld haben sich „radikalisiert“. Selber liegt man natürlich völlig richtig mit seiner Opinio. Vielleicht aber haben sie sich gar nicht radikalisiert. Vielleicht sehen sie einfach nur wenig Nutzen und Frommen in einer Diskussion über Geschmacksfragen – und halten das, nicht ganz zu Unrecht, für reine Zeitverschwendung.

Schließlich läßt sich mit keiner Bolle bekannten Methode entscheiden, ob eine Gegebenheit X „voll toll“ ist oder eher „ungut“. Das hat Konsequenzen (Reactio). Auf der interpersonalen Ebene wird Anton Bolle (zumindest im Modell) aus rein konsistenztheoretischen Gründen „übel, übel“ finden – beziehungsweise zumindest nicht mögen und als Person (!) ablehnen.

In der Tat zeigt sich eine Tendenz, aggressive Argumentations-Attrappen geradezu zu kultivieren (falls man hier überhaupt von „Kultur“ sprechen kann).

Neben Radikalinski ist man nach dieser Ansicht schnell Sexist, Rassist, Stalinist – und was dergleichen Schubladen mehr sein mögen. Zunehmender Beliebtheit erfreut sich auch der Verfassungsfeind – als wäre die Verfassung dafür da, bestimmte Ansichten zu schützen und andere zu verfemen. Als wäre die Verfassung überhaupt dazu da, den Umgang der Bürger untereinander zu regeln.

Gleichwohl: Bei aller Unterschiedlichkeit der Ansichten – ein bißchen sozialer Kitt muß dann wohl doch sein, wenn eine Gesellschaft einigermaßen gedeihlich funktionieren soll.

Eine von ganz oben runtergejubelte Aufforderung, sich doch bitteschön unterzuhaken – als wären wir im Dauerfasching –  und die Dinge „gemeinschaftlich“ anzupacken, wird da sicherlich nicht allzu viel nützen. Das nämlich liegt einfach zu sehr über Kreuz mit elementarer Sozialpsychologie.

Bolle sieht zur Zeit nur einen einigermaßen erfolgversprechenden Weg. Statt jeden, der anderer Ansicht ist, als „übel, übel“ einzustufen, könnte man es mit Epiktets (ca. 50 bis ca. 138 v. Chr.) stoischer Haltung probieren: „Dem scheint das so zu sein“.

Das allerdings würde voraussetzen, daß die lieben Mitbürger überhaupt erst einmal wieder ernstlich die Möglichkeit ins Auge fassen, daß es zu ein und derselben Gegebenheit gleich mehrere mögliche Ansichten geben kann. Und hier sieht es im Moment wirklich nicht allzu gut aus. In seinem durchaus lesenswerten Buch ›Mensch, lern das und frag nicht‹ zeigt Hauke Arach anhand einer Untersuchung von Schulbüchern, wie den lieben Kleinen das Denken in Möglichkeiten systematisch ausgetrieben wird. Eine Wahrheit muß genügen! Mehr hält man ja im Kopp nicht aus! Bolle meint: Von das kommt das, und Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.

Im übrigen sind heute Wahlen im Osten – schon wieder. Auch dieses mal geht es offenbar um den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, Demokraten versus Verfassungsfeinde, Mitte gegen Extremisten. Das alles aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 11-08-24 Börsen-Crashli

Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; gelobet sei der Name des Herrn! (Hiob 1, 21)

In der vergangenen Woche war es so, daß ein veritabler Börsen-Crash durch den Blätterwald rauschte. Das mag dem Sommerloch geschuldet sein. Vielleicht aber liegt der Hase doch tiefer im Pfeffer.

So titelte etwa eine Zeitung, die große Stücke auf sich selber hält und dabei vor allem auf ihre Wirtschaftskompetenz: Angst an den Märkten – Das neue Gefühl der Anleger.

Abgesehen davon, daß Angst ein schlechter Ratgeber ist – vor allem, wenn man sich auf dem aalglatten Börsenparkett tummelt, hält Bolle es mit der Devise: Wenn Euch das hier zu heiß ist, dann bleibt doch bitteschön der Küche fern.

Auch wollen wir uns nicht mit Börsengeschäften beschweren – im Grunde nicht einmal im weiteren Sinne. Allein das Beispiel zeigt sehr schön, was passieren kann, wenn man als Schreiber auf der Ebene der nackten Fakten klebenbleibt. Aufschlußreich dazu ist nach wie vor Cervantes‘ Don Quixote 1605/1615 (vgl. dazu etwa Sa 16-01-21 Wirklich wahr?).

Tatsachen, mein lieber Sancho,
sind die Feinde der Wahrheit.

Und Fakten – bei Cervantes hieß das noch schlicht Tatsachen – gibt es in diesem Metier nun mal reichlich. Die Börsenkurse stehen unumstößlich fest und lassen sich wohl auch nur recht schwierig „faken“. Werfen wir also einen Blick auf die nackten Fakten:

Voll der Börsen-Crash, eye!

Dabei müssen wir gar nicht allzu genau hinschauen, um das Wesentliche zu erfassen. Es reicht völlig, sich klarzumachen, wie sich der DAX grosso modo in den letzten 12 Monaten entwickelt hat. Tendenz: kommod steigend. Lag er vor einem Jahr noch bei knapp 16.000, hatte er um die Jahreswende einen Stand von knapp 17.000 erreicht, und in den letzten Wochen gut 18.000 (vgl. dazu die grünen Bälkchen). Kurzum: es ging – soweit das an der Börse möglich ist – mehr oder weniger stetig aufwärts.

Dann aber – in der vergangenen Woche nämlich – fiel der Kurs, wie unser Qualitätsblatt zu berichten weiß, auf den tiefsten Stand seit Mitte Februar (gestrichelte Linie). Bolle meint: Na und? Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; gelobet sei der Name des Herrn! Daß man mit einer solchen Einstellung an der Börse nicht wirklich reich werden kann, ist Bolle natürlich klar, of course. Doch das soll hier nicht unser Thema sein. Interessanter ist, daß Vergleiche wie „der tiefste bzw. der höchste Stand seit …“ recht wohlfeil zu haben sind. Das Internetz spuckt solche Daten auf Knopfdruck aus. Die muß man dann nur noch reinschreiben in die Zeitung. Man sollte sich dabei aber nicht ohne Not lächerlich machen. Wenn zum Beispiel jemand früh morgens vermelden würde: Booah! Ich bin so hungrig. Mein schlimmster Hunger seit vor dem Abendessen gestern – dann ist das nun mal lächerlich. Im günstigsten Falle ist es witzig.

Etwas anders liegen die Dinge, wenn unser Qualitätsblatt darauf hinweist, daß der Nikkei-Index seinen „größten Tagesverlust seit 1987“ erlebt hat. Hier reden wir von immerhin knapp 40 Jahren. Obwohl – auch das ist durchaus noch albern genug. Würde man sich als Journalist nämlich die Mühe machen, ein ganz klein wenig über den Tellerrand des Tages hinaus zu denken – statt gleich drauflos zu sensationalisieren, dann hätte man leicht ahnen können, daß die Ereignisse mit „Horrormeldung aus Japan“ oder einem „schwarzen Montag“ sogar doch eher reißerisch betitelt sind. Und in der Tat hatte sich das Börsenbarometer auch in Japan binnen weniger Tage wieder auf Normal eingepegelt. Soweit zum Börsen-Crashli.

Aber Journalismus kommt nun mal von le jour, der Tag, und da muß das womöglich so sein. Bolle indes, der sich mehr für Zusammenhänge interessiert als für Sensationen, hält das, und zwar wohl nicht ganz zu Unrecht, für einen Ausfluß des gemeinen A&O des Journalismus: Aufgeregtheit und Oberflächlichkeit. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 07-07-24 Böse Buben

Wir schaffen das! Denkste!

Nach dem vielleicht etwas haarigen Beitrag vom letzten Sonntag wollen wir uns heute wieder etwas leichterer Lektüre widmen. Immerhin ist sie inhaltlich verdrießlich genug.

Mittlerweile ist es fast ein Jahrzehnt her, daß die damalige Bundeskanzlerin 2015 ein ebenso fröhliches wie unsubstantuiertes ›Wir schaffen das!‹ als Losung unters Volk geworfen hatte. Deutschland sei ein starkes Land, habe schon so vieles geschafft – und werde wohl noch viel, viel mehr schaffen, und dergleichen mehr. Dabei hatte sie – das läßt sich nicht leugnen – erhebliche demoskopische Rückendeckung beim Volke. Das Fußball-Sommermärchen von 2006 war seinerseits erst knapp ein Jahrzehnt her. Man feierte mit Wohlbehagen das Gefühl, endlich und endgültig auf der Seite der Guten angekommen zu sein: heiter, weltoffen und allgemein ganz lieb. Was paßt da besser ins Bild als eine kräftige Prise Willkommenskultur?

Manche meinen ja, die Deutschen seien übertrieben begeisterungsfähig. Angelsachsen nennen das zuweilen gar hysterisch. Wie so oft wird sich auch hier ein Körnchen Wahrheit finden lassen. Bolle für sein Teil erklärt sich das ja schlicht mit Glühwürmchen-Emphasis: großes Herz, nicht ganz so großes Hirn, zuweilen.

Andere dagegen haben sehr frühzeitig dagegengehalten. Auf den Punkt gebracht hat es wohl Peter Scholl-Latour: Wer halb Kalkutta aufnehme, werde nicht etwa Kalkutta retten, sondern selber zu Kalkutta werden. Bolle meint, die Mischung macht’s, und paraphrasiert dabei gerne Paracelsus: Die Dosis – und nicht etwa die Substanz – entscheidet über Wohl und Wehe. Vgl. dazu auch Mo 28-12-20 Corönchen-Portiönchen oder die Geschichte vom warmherzigen Samariter (Mo 11-11-19 Proportionen).

Hier und heute wird man sich fragen dürfen – oder gar fragen müssen: Wem ist ein höheres Maß an prognostischer Kompetenz – verstanden als die Fähigkeit bzw. das kognitive Vermögen, die wesentlichen Konsequenzen seiner Entscheidungen nebst allfälliger Nebenwirkungen zu überblicken – zuzugestehen? Der Alt-Kanzlerin oder dem weitgereisten alten weisen Mann?

Von krassen Entgleisungen wie Messerstechereien und Gruppenvergewaltigungen einmal abgesehen zeigen sich die „Nebenwirkungen“ auch im Kleineren: Wer in bislang ungekannt schneller Folge mehrere Einbrüche oder regelrechte Raubdelikte in seiner unmittelbaren Nachbarschaft bzw. Bekanntschaft erleben mußte, wird den üblichen Tilgungen bzw. Beschwichtigungen des Journalismus 2.0 nur noch wenig Glauben zu schenken geneigt sein.

Sind also alle Zugereisten Verbrecher? Natürlich nicht. Wenn aber von, sagen wir, 1 Mio Leuten, die hier wirklich nichts zu suchen haben, nur winzige 1% zu den bösen Buben (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) zählen, dann sind das immerhin 10.000. Und wenn die nur 1 mal pro Woche unangenehm auffallen, dann macht das eine halbe Million schwere Straftaten pro Jahr. Mehr als genug, könnte man meinen. Womit wir wieder bei Paracelsus wären. Und irgendwann fallen die Leute halt vom Glauben ab. In der Presse heißt es dann: Sie radikalisieren sich – nur weil sie nicht willens sind, diejenigen, die diese Entwicklung nicht nur protegieren, sondern nachgerade klasse finden („Ich freu‘ mich drauf“), mit ihrer Stimme auch noch demokratische Legitimität zu verleihen, und dabei nicht träge genug, einfach zu Hause zu bleiben.

Damit aber entfernen wir uns von der prognostischen Kompetenz, die sich ja auf Prognosen und damit auf die Zukunft bezieht. Hier haben wir es schon mit einem veritablen Mangel an schierer Urteilsfähigkeit zu tun. Aber wie Bolle das zuweilen auszudrücken pflegt: Das Weltbild stirbt zuletzt. Damit meint er natürlich Welt III, of course.

Zunächst aber wird das, was einer wahrnimmt, nach Kräften ignoriert und idealisiert, was das Zeug hält. Erst wenn‘s gar nicht mehr geht, folgen die üblichen langen Gesichter: „Das haben wir nicht gewußt“ beziehungsweise, perfider noch, „Das haben wir nicht wissen können“. Bolle meint: hättet ihr wohl. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 23-06-24 Vertrauenskrise? Schaffenskrise!

Ranking.

Um unsere Europa-Wahlen langsam, aber sicher ausklingen zu lassen, hier ein vorläufig letzter Schweif ins Thema. Diese Woche untertitelte eine Qualitätszeitung: Die Deutschen haben kaum noch Vertrauen in die Ampelregierung. Das „kaum“ übrigens hält Bolle für einen regelrechten Euphemismus. Doch das nur am Rande. Interessanter ist das Vertrauen an sich.

Technisch gesehen handelt es sich bei ›Vertrauen‹ um ein Element aus Welt III (vgl. dazu So 26-05-24 Das bessere Argument): Mangels besserer Möglichkeiten modelliert man sich ein Bild – in diesem Falle von der Regierung. Ob das halbwegs stimmt? Wer weiß. Allein das Bedürfnis nach Orientierung als Motiv jedweder Modellierung können wir sicher unterstellen. Schließlich handelt es sich dabei um eines der kognitiven Grundbedürfnisse. Auch können wir davon ausgehen, daß ein einmal modelliertes Bild zur Selbststabilisierung neigt: Informationen, die nicht ins Bild passen, werden entweder gar nicht erst wahrgenommen – oder weltbildstützend gedeutet bzw. umgedeutet.

Eine tatsächliche Weltbild-Änderung dagegen braucht entsprechend Zeit. Zumindest geschieht sie nicht über Nacht: Das Wahlvolk ist träge. Bolle fühlt sich hier an ein Bonmot erinnert, das verschiedensten Autoren zugeschrieben wird. Vermutlich handelt es sich dabei einfach nur um eine schlichte Volksweisheit:

Man kann alle Leute für einige Zeit, und einige Leute für alle Zeit an der Nase herumführen – aber nicht alle Leute für alle Zeit.

Unsere Qualitätszeitung jedenfalls fragt: Wer also stellt das Vertrauen in das System wieder her, dem die Deutschen Freiheit, Demokratie und Wohlstand verdanken?

Dahinter steckt zunächst einmal die Grundannahme, daß „das System“ im Kern ja wohl gut ist – und schon von daher bewahrenswert. Zweitens, und zwar versteckter, steckt dahinter die Idee, daß man so etwas wie ›Vertrauen‹ einfach nur „wiederherstellen“ muß – und schon wird alles wieder gut.

Bolle vermutet allerdings eher eine veritable Schaffenskrise. Schaffenskrise statt Vertrauenskrise. Das Problem wäre demnach weniger, daß dem Volke (empfängerseitig) sein Vertrauen flöten geht. Das Problem wäre eher, daß der Regierung (senderseitig) nicht genug einfällt, um das Volk von sich und ihren Vorhaben zu überzeugen.

Zugegeben: Die Idee, man müsse dem Volk das eigene Tun nur gut genug erklären, und alles würde gut, hat sich in gewissen Kreisen ziemlich breitgemacht. Angefangen hat das wohl 2015 mit Merkels seinerzeit frisch eingerichtetem „Nudging“-Team. Dabei ist Nudging – wörtlich anstupsen – nur ein freundlicher klingendes Wort für regierungsseitig angestoßene gezielte Manipulation. Erklärtes Ziel dabei ist natürlich, das Glück der Bürger zu steigern, of course.  Bolle meint gleichwohl: Thanks, I’m fine.

In der Lutherbibel 1912 heißt es übrigens wörtlich: Also werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein (Matth. 20, 16). Allerdings nicht ohne hinzuzufügen: Denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt. Daß sich so mancher (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) zu hohen und höchsten Taten zumindest berufen fühlt, liest man täglich in der Zeitung. Ob dieses Gefühl, in welcher Weise auf immer, allerdings auch nur halbwegs hinreichend substantuiert ist, wird man schwer bezweifeln dürfen. Beim gegenwärtigen Zustand des Journalismus 2.0 muß man dazu allerdings schon schwer zwischen den Zeilen lesen – oder andere Quellen hinzuziehen. Darf man das denn? Aber Ja doch. Immerhin heißt es in Art. 5 I GG, daß jedermann das Recht habe, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Bolle sieht da allerdings noch mächtig Spielraum, was das „allgemein zugänglich“ angeht. Schließlich arbeitet man schon seit einiger Zeit – nicht zuletzt auf EU-Ebene – mit Fleiß daran, die Grenzen des Säglichen in einem als demokratie-kompatibel erachteten Rahmen zu halten – Verfassung hin oder her. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 16-06-24 Ein Hauch von Hollywood

Entrückt zerpflückt …

Nachdem wir letzten Sonntag auf das Wahlspektakel eingegangen waren, kann es nicht schaden, einen Blick auf das Ergebnis zu werfen. Erst wurde gewählt, dann wurde gezählt – und schließlich gab es lange Gesichter.

Unser Schildchen heute bezieht sich übrigens auf Josua Eiseleins ›Sprichwörter und Sinnreden‹ (1840). Dort heißt es: Mancher auf Stelzen ist für die Sache dennoch zu kurz (vgl. dazu Sa 02-01-21 Hype und Hybris).

Bolle meint, das läßt sich noch toppen. Für eine Sache „zu kurz“ zu sein, läßt sich ja durchaus noch sachlich verstehen: Einer (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) kann es einfach nicht. Das allein dürfte mächtig am Selbstwertgefühl kratzen. Ein kluger Mensch würde es mit Jesus Sirach halten und nicht nach dem streben, was nun mal zu hoch für ihn ist. Weniger kluge Leute – oder Leute, die gerade keine katholische Bibel zur Hand haben – reagieren anders: sie entrücken.

Was ist der Unterschied? Entrückt zu sein, heißt nicht nur, daß man für die Sache zu kurz ist – daß man es also schlichtweg nicht kann. Zudem schwebt der Geist des Entrückten in höheren Sphären und glaubt ganz dolle daran, daß doch alles seine Richtigkeit habe mit den Bestrebungen. Allein das Volk könne dem noch nicht ganz folgen. Folglich müsse man ihm die Dinge besser erklären, man müsse „die Menschen draußen im Lande“ mitnehmen in die Schöne Neue entrückt-verzückte Welt. Die Talkshows sind voll von derlei.

Übertrieben? Leider wohl nicht. Vor knapp einem viertel Jahrhundert war die Polit-Prominenz auf die grandiose Idee verfallen, die EU binnen zehn Jahren zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Passiert ist seitdem wenig – wenn überhaupt. Bolle war seinerzeit allein das „binnen zehn Jahren“ süß-säuerlich aufgestoßen. In dem Zeitraum kriegen die üblicherweise nicht mal eine Kita geplant und gebaut.

Bolle muß da immer an Churchill denken, der seinerzeit gemeint haben soll: Wie toll auch immer Deine Pläne sein mögen. Gelegentlich solltest Du einen Blick auf die Ergebnisse werfen.

Das allerdings geht sehr viel leichter, wenn man seiner Sache nicht allzu entrückt ist. Ansonsten bleibt wohl nur die Flucht ins Manichäische: Es gibt die Guten – zu denen man selbst selbstredend gehört. Und es gibt die Bösen, die einfach nicht hören wollen, was die Guten sagen, und die nicht folgen wollen, wenn die Guten munter voranpreschen. Dazwischen gibt es wenig – beziehungsweise rein gar nichts. Bolle findet in der Tat, das hat was von Hollywood.

Und so ist es nur natürlich, wenn sich die Guten unverbrüchlich gut finden, von den Bösen aufs Übelste bedroht und sie, falls nötig, „mit der ganzen Härte des Rechtsstaates“ zu bekämpfen trachten. Daß aber das Volk der Souverän ist – und nicht etwa die Guten im Lande – kann dabei leicht in Vergessenheit geraten. Das zeigt sich übrigens nicht zuletzt in so verräterischen Wendungen wie „unsere Demokratie“. Here’s a flash: Das ist mitnichten Eure Demokratie. Die Demokratie gehört – falls überhaupt irgendwem – dem Volk. Und was das Volk damit macht, ist ganz und gar nicht Euer Bier. Ihr seid Diener des Volkes – und keine Häuptlinge. Das hat schon Friedrich Zwo so gesehen. Und so steht es übrigens auch in der Verfassung (Art. 20 II S. 1 GG), sogar mit „Ewigkeitsgarantie“ (Art. 79 III GG). Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 02-06-24 Stramm auf Linie

Wahrlich ich sage Euch …

Heute können wir festhalten, daß der Wonnemonat Mai schon wieder zuende ist. Wir haben Juni. Das scheint – zumindest der üblichen Übereinkunft entsprechend – wahr zu sein. Allerdings handelt es sich hierbei auch um nichts Weltbewegendes. Heute ist halt der 2. Juni. So what?

Die Wahrheit, die ganze Wahrheit, und nichts als die Wahrheit – wie es bei Zeugenvernehmungen mitunter heißt, ist deutlich schwieriger zu fassen. Theoretisch streng genommen gar nicht (vgl. dazu unseren Beitrag von letzter Woche: So 26-05-24 Das bessere Argument). Was natürlich den Journalismus 2.0 – und hier in allererster Linie die sogenannten Faktenchecker – nicht davon abhält, sich selbst für im Inbegriff der reinen Wahrheit zu wähnen. Schließlich, so heißt es dann etwa, habe eine Studie selbiges ergeben. Ohne greifbare Studie tut es durchaus auch ein „Experte“, der im Gewande des Wissenschaftlers seine Meinung – mehr ist es meist nicht – als unumstößliches Faktum zum Besten gibt.

Wie wir ja wissen, gibt es immer vier Möglichkeiten. Man hält etwas für wahr – und die meisten anderen tun das auch (A1). Sozialpsychologisch unproblematisch. Ebenso verhält es sich mit B2. Interessant sind allein die Fälle A2 (Verschwörungsopfer) und B1 (Verblödungsopfer). Woher – das ist hier die Frage – nehmen die Linientreuen, also die A1-ler, ihre Zuversicht, daß sie im Vollbesitz der reinen Wahrheit sind und jeder, der die Dinge anders sieht, folglich (!) ein Verschwörungsopfer sein muß? Soviel Chuzpe muß man erst mal aufbringen. Bolle vermutet, daß das was mit kognitiver Kapazität zu tun hat. Aktuell etwa zeigt sich – langsam, aber immer sicherer –, daß so ziemlich alles, was uns während der Corönchen-Hysterie als reine Wahrheit aufgetischt wurde, sich als alles andere als wahr erwiesen hat. Die angeblichen Verschwörungsopfer hatten – leider kann man das kaum anders sagen – durch die Bank Recht.

Daraus könnte man was lernen. Könnte. Tut man aber nicht. Zur Zeit werden uns stramm linientreu die nächsten ultimativen Wahrheiten aufgetischt. Und jeder, der das nicht glauben mag, ist ein Verschwörungsopfer, of course.

Im Grunde könnten – beziehungsweise sollten sogar – an dieser Stelle irgendwann mal Lernprozesse einsetzen. Tun sie aber nicht. Das übrigens ist ein Punkt, der sehr für Bolles ›Mangelnde kognitive Kapazität‹-Theorem spricht.

Übrigens scheint es so zu sein, daß die Leute, die so verbissen an ihrem Zipfelchen Wahrheit hängen – beziehungsweise dem, was sie dafür halten –, genau die gleichen Leute sind, die völlig humorabstinent durchs Leben laufen. Beides nämlich scheint eine gewisse mentale Offenheit vorauszusetzen, die einem in diesem Universum leicht flötengehen kann. Um das zu erläutern, müßten wir unser Wirklich-Wahr-Schema allerdings auf 9 Felder erweitern (vgl. dazu etwa Fr 10-12-21 Das zehnte Türchen …). Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

So 26-05-24 Das bessere Argument

Die Welt in nuce

Man hat es wirklich nicht leicht. Aber umgekehrt kann es furchtbar leicht passieren, daß es, tout au contraire, einen hat. Wie nicht zuletzt in unserer kleinen Veranschaulichung der ganz grundsätzlichen Gegebenheiten einer Welt in nuce (im Nußschälchen, sozusagen) zu sehen ist.

Bei Welt I handelt es sich, in Wittgensteins Worten, um „alles, was der Fall ist“ – also wirklich einfach alles. Damit ist Welt I ebenso vollständig wie undurchsichtig. Eine black box also im besten Sinne des Wortes. Man kann handelnd auf sie einwirken und man kann, in Welt II, ihre Reaktionen wahrnehmen. Man kann aber nicht reingucken – und damit niemals wirklich wissen, wie es um sie steht. Im übrigen würde einem, wenn man es doch könnte, vermutlich unversehens der Schädel platzen.

Bei Welt III handelt es sich um das Weltbild, das einer (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) mit sich durchs Leben trägt und das sein Handeln, also seinen Umgang mit der Welt, bestimmt. Das Ziel ist dabei regelmäßig eine Zustandsverbesserung bzw. zumindest die Vermeidung einer Verschlechterung. Ökonomen nennen derlei Nutzen- bzw. Gewinnmaximierung, Max Weber nennt es Gesinnungs- bzw. Verantwortungsethik, wieder andere nennen es neuerdings Self-Optimization, und so weiter, und so fort.

Wie kommt die Welt III zustande? Nun, im Grunde ist sie das Destillat aller jemals wahrgenommenen und in erwünscht (W+) bzw. unerwünscht (W) eingeteilten und bewerteten Sinneseindrücke in Welt II. Welt III ist also das Ergebnis einer Modellierung und verläuft obendrein überwiegend unbewußt. Gleichwohl neigen die meisten Leute dazu zu meinen, die Welt sei nun mal so – nur weil sie sie sich so ausgedacht haben.

Nehmen wir – weil es dieser Tage naheliegt – die Wahlen zum EU-Parlament. Die einen halten die EU für einen dysfunktionalen Hirnfurz, der von Anfang an nie hat funktionieren können, tatsächlich noch nie funktioniert hat und auch zukünftig niemals funktionieren wird. Andere wiederum halten, tout au contraire, die EU für eine hochwohllöbliche Angelegenheit, die es nach Kräften zu stärken gelte.

Da beide Positionen nur schwerlich in Einklang zu bringen sind, befehden sich die Vertreter beider Lager bis aufs sprichwörtliche Messer und sprechen einander wechselweise den nötigen Verstand ab beziehungsweise zumindest die Fähigkeit, derlei überhaupt beurteilen zu können.

Und? Wer hat Recht? Die Antwort ist ebenso schlicht wie ergreifend: Wir wissen es nicht. Bei Geschichte im Allgemeinen und der EU im Besonderen handelt es sich um einen Such- und Finde-Prozeß mit völlig offenem Ausgang. Was funktioniert, hat Recht. Was nicht funktioniert, mendelt sich aus – und sei es noch so moralisch hochstehend. Letzteres wiederum würden manche als „Sozialdarwinismus“ weit von sich weisen wollen. Auch hier also wieder: Welt III in voller Aktion.

Was die Leute allerdings nicht davon abhält, sich auf die Suche nach dem „besseren Argument“ zu begeben – als ob man jemanden, der nun mal in einer alternativen Welt III lebt, ausgerechnet mit Argumenten eines Besseren belehren oder gar bekehren könnte.

Neulich etwa hat eines dieser Faktenchecker-Portale – das sind Leute, die meinen, daß man die Wahrheit ausrechnen und erkennen kann, wenn einem nur genügend Fakten vorliegen – eine KI gefragt, ob ein gegebenes Land eine „Diktatur“ sei. Die Antwort der KI: das hänge von der Definition ab. Da war natürlich die Empörung groß. Man gibt sich alle Mühe und zimmert sich in seiner Welt III die Vorstellung zurecht, daß besagtes Land selbstverständlich eine Diktatur sei und bittet dann eine KI – wohl eher teils der Form, teils der Bestätigung halber – um entsprechende Rückmeldung. Und dann sowas. Das hänge von der Definition ab. Da muß man sich ja verärgert fühlen. Alternativ könnte man allerdings noch auf die Idee kommen, daß man selbst sich möglicherweise eine allzu schlicht gestrickte Welt III zusammengezimmert hat. Das aber wäre dann doch wohl viel zu schmerzlich. Also besser auf der KI rumhacken. Das fühlt sich zumindest besser an.

Bolle fühlt sich hier übrigens entfernt an Alan Turing erinnert, der seinerzeit meinte: Eine wirklich intelligente Maschine ist eine Maschine, die zu dem Schluß kommt, daß Menschen nicht denken können (vgl. dazu Fr 22-01-21 Vom Wollen und Verwirklichen). Furchtbar lange wird das kaum noch dauern können, bis es soweit ist. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Di 13-12-22 Das dreizehnte Türchen …

Dussel und Denken.

Wir wollten es heute und möglichst auch in den kommenden Tagen ja etwas gemütlicher angehen lassen. Schließlich ist bald Weihnachten.

Kürzlich erst (vgl. Sa 10-12-22 Das zehnte Türchen …) haben wir darauf hingewiesen, daß bei unklarem Denken schwerlich mit klarem Durchblick und erst recht nicht mit folgerichtigem Handeln zu rechnen ist. Dabei ist ›Dusseldenk‹ natürlich ein Widerspruch in sich – aber irgendwie muß man die wahrgenommene Wirklichkeit ja begrifflich fassen. Insofern ist das leider unvermeidlich. Auch könnte der Begriff auf manchen (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) leicht abwertend wirken. Aber auch das läßt sich nicht ändern. Immerhin hat Bolle sich alle Mühe gegeben, das Phänomen sprachlich so freundlich und so gefällig wie möglich zu fassen. Als stilistische Vorlage mußte dabei übrigens Orwells ›Doppeldenk‹ herhalten – die ältere deutsche Übersetzung von ›doublethink‹. Später wurde daraus ja bekanntlich ›Zwiedenk‹ – was für unsere Zwecke aber rein gar keine Rolle spielt, da es uns hier um eine rein sprachliche Anlehnung gehen soll.

Nun beginnt unklares Denken regelmäßig mit unklaren bzw. gar nicht erst vorhandenen Definitionen. Hier ein Beispiel aus dem richtigen Leben: Neulich erst hat ein durchaus prominenter und auch an Lebensjahren gereifter Ex-Minister in einer der Polit-Plaudertaschenrunden folgendes zum Besten gegeben: „Die gehen nicht mehr zur Wahl, die wählen AfD – die wollen unsere Demokratie zerstören.“ So etwas geht natürlich nur mit Dusseldenk – denn erstens steht es dem Souverän frei, ob er überhaupt wählen will. Zweitens steht es ihm frei, was er wählen will. So viel Souveränität muß sein. Und drittens schließlich ist so etwas wie „unsere Demokratie“ ein Widerspruch in sich. Eine Demokratie, die man mit einem Possessivpronomen („unsere“) fassen kann, kann keine Demokratie im definierten Sinne sein – allenfalls im Sinne von ›Herrschaft der Guten‹. Das allerdings wäre albern. Hätte er gesagt: „Die wollen unsere Regierung abwählen“ („zerstören“ ist wohl ein zu hartes Wort dafür): Keine Einwände. Hat er aber nicht gesagt – und, wie’s scheint, offenbar auch nicht gemeint.

Und? Was machen die anderen Plaudertaschen? Nicken beifällig in die Runde. Aufrechte Demokraten unter sich. Und dann wundern sich die Leute, daß das Publikum abschalten und lieber Weihnachtslieder hören oder gar singen mag. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.

Sa 10-12-22 Das zehnte Türchen …

Kurzdialog: — Bolle ist doof! — Definiere ›doof‹.

Hier also – wie vorgestern schon erahnt und gestern regulär angekündigt, der erste Teil unserer kleinen Trias ›Demokratie/Rechtsstaat/Verfassungsstaat‹.

›Demokratie‹ gehört – man kann das wohl kaum anders sagen – linguistisch gesehen zur Gruppe der meliorativen Blähwörter: Klingt gut bzw. soll gut klingen, ist dabei aber wenig trennscharf. In Bolles Kreisen spricht man auch von „Wünsch-Dir-was“-Wörtern. Die systematische Verwendung solcher Begriffe nennt man ›Waber-Laber‹. Dabei ist derartiger Sprachgebrauch gar nicht mal so selten: Prominente Beispiele wären etwa ›Leistung‹ (als Grundbegriff der „Leistungsgesellschaft“) oder auch ›Wettbewerbsfähigkeit‹ (als Grundbegriff wirtschaftspolitischer Ausrichtung).

Damit eignet es sich als Begriff hervorragend zur Errichtung quasi-staatsreligiöser Systeme. Wenn man der kontemporären Polit-Prominenz oder auch weiten Teilen der Presse so zuhört, könnte man meinen, ›Demokratie‹ sei so etwas wie die ›Herrschaft der Guten‹ (vgl. dazu auch So 06-12-20 Das sechste Türchen — Nikolausi …). So krass darf man das natürlich nicht sagen, of course – auch wenn „gefühlt“ genau das gemeint ist: Israel als einzige Demokratie im Nahen Osten, Indien als größte Demokratie in Fernost, etc. bla bla – immer im Gegensatz zu den weniger Guten.

Was aber meinen wir inhaltlich, wenn wir von ›Demokratie‹ reden? Ganz wörtlich die Herrschaft des Volkes, of course. Dabei gilt es als zulässig, wenn das Volk zumindest mittelbar herrscht, indem es seine Herrscher alle Jubeljahre einmal wählen geht.  Diese Lesart hat übrigens auch Popper überzeugt – der die Vorzüge einer Demokratie ganz bescheiden darin sieht, daß es möglich ist, die Herrschenden bei Mißfallen „ohne Blutvergießen“ abwählen zu können.

Dumm nur, daß nach dieser Definition Deutschland eben keine Demokratie wäre. In Deutschland kann man nur seine Legislative wählen – die dann wiederum aus ihren Reihen eine Regierung bildet. In den USA zum Beispiel ist das anders. Da wird der Präsident (fast) direkt vom Volk gewählt, und zwar jeweils zeitversetzt – so daß es nicht selten vorkommt, daß Regierung und Parlament verschiedenen Lagern entstammen. In Deutschland dagegen kann man seine Regierung nur abwählen, indem man zunächst andere Parteien in die Legislative wählt. Was die dann damit machen – von Koalitionsbildungen bis hin zur Bestimmung des Regierungschefs – steht weitestgehend in den Sternen.

Was ist dann der Inhalt? Das Zauberwort heißt ›Partizipation‹. Gib den Leuten um Dich herum – egal, ob wir hier von einem Staatswesen reden, einem Unternehmen oder auch nur einer Familie – das Gefühl, daß sie auch was zu sagen haben, und schon werden sie Dir sehr viel williger folgen. Das Gefühl reicht völlig – wirklich zu sagen haben müssen sie nichts. In Bolles Kreisen sind das elementare sozialpsychologische Einsichten. Die Frage ist: kann man auf ein so windiges und so leicht zu durchschauendes Konzept eine ganze Staatsreligion aufbauen? Die Antwort: man kann, wie’s scheint. Auf der „gefühlten“ Ebene liegt die intellektuelle Latte nun mal nicht allzu hoch. Dazu ein Kurzdialog zwischen den drei Königen aus dem Morgenlande – wie ihn Lilli Bravo aufs Feinste auf den Punkt gebracht hat:

Der erste König: „Ein fliegendes Kind im Nachthemd möchte, daß wir dem Baby einer Jungfrau Geschenke bringen.“ — Der zweite: „Crazy! Ich bin dabei!“ — Der dritte: „Klingt plausibel.“

Wie wir unschwer erkennen können – zumal jetzt zur Weihnachtszeit der Christenmenschen, stehen auch andere große Ideen kognitiv auf eher tönernen Füßen. Darauf also kommt es offenbar nicht an. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.