
Letzte Woche (So 18-05-25 Die Grenzen des Unsäglichen) hatten wir am Rande erwähnt, was sich mit elaborierteren Formen von kreativem Konstruktivismus so alles anstellen läßt. Da gibt es praktisch nichts, was es nicht gibt. Das gilt im Großen wie im Kleinen. Hier ein Beispiel aus dem Klitzekleinen.
In einem Provinz-Gymnasium wurde ein Abitur-Motto gesucht. Wozu ein solches gut sein soll, weiß Bolle nicht zu sagen. Seinerzeit ist man auch ohne Motto gut zurechtgekommen. Aber lenken wir nicht ab. Unter den eingereichten Vorschlägen fanden sich die folgenden drei Steine des Anstoßes:
Abi Akbar – Explosiv durchs Abi
Abi macht frei
NSDABI – Verbrennt den Duden
Und schon war die Hölle los in der Provinz. Die Sprüche seien antisemitisch, rassistisch und diskriminierend. Was was sein soll – und vor allem auch, warum –, hat sich Bolle nicht wirklich erschließen wollen. Von den anderen Vorschlägen – es wird wohl hoffentlich welche gegeben haben – ist nichts bekannt. Auch ist nicht klar, ob ›Abi‹ als Element des Mottos möglicherweise vorgegeben war und damit einschlägige Wortspiele gesucht wurden – so wie zum Beispiel unser ›Abisurd‹ im Titel. Kurzum: Wir wissen wenig bis nichts. Nur, daß das alles furchtbar skandalös sein soll, wie das örtliche Lokalblatt nicht ohne gehörigen Grusel zu vermelden wußte.
Wie aber konnte es überhaupt zu dem Skandal kommen? Nun, offenbar hatte es eine Ausschreibung gegeben, bei der jeder (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) online einerseits anonym Themenvorschläge einreichen konnte und andererseits auch per like bewerten. Damit hätte alles sein Bewenden haben können. Man muß als Organisationsteam ja keine Vorschläge aufgreifen, die man uninspiriert findet, geschmacklos gar, oder die man für zu politisch hält. Aber Nein: Man rennt mit dem „Vorfall“ zum Schulleiter und petzt. Der hängt das ganze an die große Zeitungsglocke, schaltet die Polizei ein und überdies die ›Fachstelle für Demokratieförderung und phänomenübergreifende Extremismusprävention (DEXT)‹ und nimmt Kontakt zum ›Landesportal Hessen gegen Hetze‹ auf. Die wiederum haben einen heißen Draht zum LfV (Landesamt für Volkserziehung).
Und? Wie geht der kommende Abiturjahrgang damit um? Man befleißigt sich „brutalstmöglicher“ (Bolle featuring Roland Koch 2000) Distanzierung: Man lehne „ausdrücklich“ diese Personen und die vermittelten Botschaften ab – welche „Botschaften“, by the way? – und fordere, wiederum ausdrücklich, Konsequenzen. Man stelle sich „klar“ gegen … bla, bla, bla. Bolle meint: Braver geht nimmer.
Womöglich steckt denen ja das Schicksal der Sylter Sängerknaben (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) mit ihrer ›Döp-dö-dö-döp‹-Darbietung (nach dem 1999er Schlager von Gigi D’Agostino) vom Sommer letzten Jahres einschließlich der massiven medialen Verprangerung noch gehörig in den Knochen. Vielleicht ist es aber auch einfach nur das Bedürfnis, auf der vermeintlich richtigen Seite, wenn schon nicht der Geschichte, so doch zumindest der Gesellschaft zu stehen.
Was hat das mit unserem heutigen Schildchen zu tun? Unser Schildchen beschreibt den Weg von einem beliebigen Ausgangspunkt A hin zu einem nicht minder beliebigen Ziel Z – wie er jedem beliebigen Problemlösungszirkel (PLZ) zugrunde liegt (vgl. dazu etwa So 16-03-25 Pferd verkehrt und Ritterehre oder Der super-duper Masterplan). Weniger spezifisch könnte A auch für ein beliebiges Ansinnen oder eine beliebige Ambition stehen, und Z für einen beliebigen als wünschenswert angesehenen Zustand.
Nehmen wir an, der Weg an sich sei – etwa aufgrund gründlicher Vorbereitung – klar und eben. Wenn da nur die vielen Stop-Schilder nicht wären, die jedwede Bestrebung geradezu magisch in Richtung Orkus lenken – das Reich des Banalen und Dysfunktionalen: Darf man leider nicht tun – Darf man leider nicht sagen – Am besten nicht mal denken. Stop-Schilder, das wären zum Beispiel: „das spielt den falschen in die Hände“, das ist rechtsextrem, das ist diskriminierend, das ist antisemitisch, das ist frauen-, menschen- oder sonst-was-feindlich. Dabei werden der Schilder immer mehr – was an dem Geist der Zeiten liegen mag.
Das Problem an dieser Stelle: Die Kriterien sind so allgemein gehalten – man könnte sagen: derart wischi-waschi –, daß sich mit einer entsprechenden konstruktivistischen Phantasie praktisch alles darunter subsumieren ließe. Hier, pars pro toto, nur zwei Beispiele:
Ein Stop-Schild, das sich in gewissen Kreisen zunehmender Beliebtheit erfreut, ist „Haß ist keine Meinung“. Bolle bieder: „Definiere Haß.“ Hier muß man einfach nur alles, was einem nicht paßt, zur „Hate Speech“ erklären – eine Begründung erübrigt sich völlig – und schon steht das Schild.
Zweites Beispiel: In einer Umfrage hieß es: „Finden Sie, daß Juden zu viel Einfluß haben?“ Wehe, man hat Ja gesagt. Klarer Fall von Antisemitismus – wie es in der Presse hieß. Stop! Stop! Stop! Nehmen wir umgekehrt an, jemand meint, der Papst habe zu viel Einfluß. Ist er dann ein Antichrist …? Man möcht‘ es fast für möglich halten.
Natürlich lassen sich unter solchen Bedingungen, wenn sie überhandnehmen, weder Projekte verwirklichen noch Ideen formulieren oder gar diskutieren. In Bolles Kreisen spricht man – streng mathematisch – auch von ›Nebenbedingungen‹: Je mehr davon, desto Essig ist es mit einer Lösung. Und ebenso natürlich kann eine Gesellschaft unter solchen Bedingungen nicht gedeihen. Schon gar keine Gesellschaft, die sich selber gern als ›frei‹ ansieht. Eher wird sie sich in toto selber in den Orkus spülen. Bolle findet, letztlich ist das ooch egal. Schön anzusehen aber ist es gleichwohl nicht. Unversehens kommt ihm da der Goethe in den Sinn:
Und fragst du noch, warum dein Herz
Sich bang‘ in deinem Busen klemmt?
Warum ein unerklärter Schmerz
Dir alle Lebensregung hemmt?
Das Verhalten der angehenden Abiturienten jedenfalls ist für Bolle einfach nur ein schönes Beispiel für einen kläglichen Konformismus, wie ihn sich Heinrich Mann in seinem ›Der Untertan‹ (1918) damals schon nicht schöner hätte denken können. Die Vorstellung, daß solche Leute demnächst Politiker sein könnten und sich dabei berufen fühlen, die Geschicke des Landes zu lenken … Deprimierend. Umgekehrt erklärt das natürlich einiges, of course, wie ein Blick in die jüngste Zeitgeschichte eindrücklich nahelegt. Das aber ist dann doch schon wieder ein ganz anderes Kapitel.