Di 05-11-19 Thüringer List

Die CDU in Thüringen strebt ins Anti-Autoritäre: Von der CDU-Vorsitzenden und ihrem Vorstand will man sich Gespräche mit der AfD nicht untersagen lassen. So fordern mehrere Christdemokraten aus dem ostdeutschen Bundesland, „sich aktiv am Gesprächsprozess mit ALLEN demokratisch gewählten Parteien im Thüringer Landtag zu beteiligen“ (Hervorhebung im Original).

Gefunden in Garbor Steingarts Morning Briefing. Der wesentliche Punkt scheint Bolle nicht die gewählte Hervorhebung zu sein („allen“), sondern vielmehr die listige Unterscheidung zwischen der bisherigen Wendung „mit allen demokratischen Parteien“ und der neuen Fassung „mit allen demokratisch gewählten Parteien“. Über die Frage, ob die AfD eine „demokratische“ Partei ist, läßt sich trefflich und wohl bis zum jüngsten Tage streiten – zumindest aber so lange, bis das Bundesverfassungsgericht, und nur das Bundesverfassungsgericht und nicht etwa die Exekutive oder gar der „politische Gegner“, ein Machtwort spricht (Art. 21 II S. 2 GG). Daß die AfD aber eine „demokratische gewählte“ Partei ist, wird auch der überzeugteste „demokratische AfD-Hasser“ nicht leugnen können. Das Problem liegt natürlich tiefer: Wollen wir unter »Demokratie« schlicht und ergreifend eine Staatsorganisationsform verstehen – also einen Staat mit einer Volksvertretung, die die Regierung zumindest kontrollieren soll und sich regelmäßigen Wahlen zu stellen hat – oder wollen wir »Demokratie« auf die „Gemeinschaft der Guten“ einengen? Definiere »Die Guten«. In der politischen Auseinandersetzung hält sich natürlich jeder für „die Guten“. Was denn sonst? Verfassungsrechtler – oft sehr viel nüchterner als der jeweilige „politische Gegner“ – verstehen darunter im wesentlichen (und naturgemäß etwas vage) nicht mehr als die „Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten“, und das auch nur unter dem „Vorbehalt des Möglichen“ (BVerfG in ständiger Rechtsprechung). Deutlich konkreter wird die Verfassung in Art. 20 II GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen […] ausgeübt.“ Das zu ignorieren ist im Kern „undemokratisch“ bzw. geradezu verfassungsfeindlich – auch wenn man sich selber noch so sehr zu den „Guten“ zählen mag. So gesehen gebührt den Thüringer „Anti-Autoritären“ (Gabor Steingart) höchstes Lob für ihre List. Aber das ist ein anderes Kapitel.

So 03-11-19 Die Quadratur des Kreises

Die »Quadratur des Kreises« steht sprichwörtlich für ein unlösbares Problem – so ähnlich wie vielleicht „die Quellen des Nils suchen“ aus der Römerzeit (caput Nili quaerere) oder „einen Pudding an die Wand nageln“. Und? Handelt es sich hierbei in der Tat um ein „unlösbares Problem“ – oder liegt der Hase ganz woanders im Pfeffer?

Man nehme einen Kreis und mache sich bewußt, daß er über seinen Radius vollständig definiert ist: Ein gegebener Kreis kann sich von einem anderen Kreis allein über seinen Radius unterscheiden. Dann nehme man eben diesen Radius und multipliziere ihn mit einer ebenso handlichen wie eleganten Zahl wie der Wurzel aus Pi und schwupps – schon hat man die Seitenlänge des gesuchten Quadrates. Noch einfacher geht’s nicht.

Entfernt erinnert die Darstellung übrigens an eine auf das geometrisch unverzichtbare runtergebrochene Version von Leonardo da Vincis »Mensch«. Doch das nur am Rande.

Was hat es also mit der sprichwörtlichen Unlösbarkeit auf sich? Es sei nun mal, hört Bolle immer wieder, unmöglich, mit Zirkel und Lineal (also geometrisch) ein flächengleiches Quadrat zu konstruieren. Na und?, fragt Bolle. Ein Problem ist doch nicht schon deshalb „unmöglich“ zu lösen, weil es nicht mit jedem beliebigen Mittel zu lösen ist. So würde ja auch niemand auf die Idee kommen, einen Nagel mit einem Stück Emmentaler als Faustkeil-Ersatz in die Wand hauen zu wollen. Ist es deshalb „unmöglich“, einen Nagel in die Wand zu hauen? Natürlich nicht – zumindest solange man nicht versucht, damit einen Pudding an die Wand zu nageln. Was mit den Mitteln der Geometrie nicht geht, geht dann eben mit den Mitteln der Algebra. Wir erinnern uns: Kreativität ist die Kunst, nichtvorhandene Probleme zu ignorieren. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Fr 01-11-19 Klima-Souveränität

„Ich halte nichts von dieser Konsumdebatte, weil die Wurzel der Probleme woanders liegt. Der Konsument kann das Klima nicht retten. Das können nur Politik und Wirtschaft.“

Gefunden unter „Zitate“ in der Tagesspiegel Morgenlage. Wer hat’s gesagt? Sarah Wagenknecht – die nach Bolles Ansicht ja sehr oft sehr, sehr richtig liegt. Hier aber muß Bolle scharf widersprechen: Der Konsument ist an allem „schuld“ – und zwar immer. Wie das? Nun, in seiner Eigenschaft als Konsument entscheidet er, was „die Wirtschaft“ tut. Würde er plaste-verpacktes Gemüse im Regal liegen lassen, dann gäbe es binnen kürzester Zeit kein plaste-verpacktes Gemüse mehr. Würde er es affig finden, mit einem SUV durch die Gegend zu brettern, dann gäbe es keine SUVs. Würde er es geschmacklos finden, mal eben übers Wochenende nach Malle (oder sonstwo hin) zu düsen (und zurück, of course), dann gäbe es solche „Billig-Fliegerei“ nicht. Kurzum: Wo Nachfrage ist, da ist auch Angebot. In dieser Hinsicht ist auf den Kapitalismus Verlaß. Das gleiche gilt für Mädchenhandel, Drogenhandel, Waffenhandel und Organhandel.

Mehr noch: In seiner Eigenschaft als „Souverän“ entscheidet er, was die Politik tut: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus (Art. 20 II S. 1 GG) – ein Prinzip, das in Deutschland sogar mit „Ewigkeitsgarantie“ ausgestattet ist (Art. 79 III GG). Zwar funktioniert dieser Zusammenhang nicht ganz so flott und sehr viel indirekter als in der ökonomischen Sphäre – das Prinzip aber ist das gleiche. Warum überschlagen und überbieten sich denn zur Zeit alle Parteien (mit Ausnahme der AfD vielleicht) mit „Maßnahmen zum Klimaschutz“? Weil sie der Wähler, bildlich gesprochen, ansonsten im Regal liegen läßt. Umgekehrt: Vor 5 oder 10 oder gar 50 Jahren wäre eine solche Ausrichtung politisches Harakiri gewesen. Die Grünen werden wissen, was Bolle meint (5 Mark für einen Liter Benzin, Magdeburg 1998) oder „Veggie Day“ (2013) bzw., ganz allgemein, das Image als „Verbotspartei“. Von so was muß man sich erst mal wieder erholen.

Kurzum: Wir haben es sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik mit einer „Diktatur des Konsumenten“ zu tun dem kapitalistischen Gegenstück zur „Diktatur des Proletariates“. Was nun, sprach Zeus? Im Grunde sieht Bolle zwei polare Optionen: a) Wir bejubeln das als Ideal. In der ökonomischen Sphäre heißt das Zauberwort in der Tat „Konsumentensouveränität“ – und in der politischen Sphäre wollen wir uns „unsere“ Demokratie erst recht nicht nehmen lassen („Ewigkeitsgarantie“, siehe oben). Oder aber, b) wir räumen der Möglichkeit, daß das böse in die Hose gehen kann, wenn wir so weiter machen, eine ernstliche Chance ein. China läßt grüßen.

Ist das bitter? Aber Ja doch! Klingt ein wenig nach „Teufel und Beelzebub“. Formal gesehen haben wir es hier mit einem schlichten Nash-Gleichgewicht zu tun: Wenn jeder das tut, was für ihn hier und jetzt das beste ist, dann kommt auf mittlere und längere Sicht für niemanden das beste bei raus – ganz im Gegensatz zur herrschenden Meinung in den Wirtschafts- und Politikwissenschaften. Bolle meint: Könnte sein, daß das noch nicht ganz zuende gedacht wurde. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Mi 30-10-19 Wie kann das sein?

63% der Deutschen glauben, man müsse sehr aufpassen, wenn man seine Meinung öffentlich äußert.

Das ist der Aufmacher der ZEIT No 45 von heute. Das beste kommt dabei in der Kellerzeile: „Wie kann das sein?“ Bolle vermutet, daß die 37 restlichen Prozent entweder (1) gar keine Meinung haben – übrigens eine recht aparte Form von „Meinungsfreiheit“ –, (2) von Haus aus eher introvertierter Natur sind und ohnehin nie was sagen würden oder (3) sich in Chomsky’s „Korridor der erlaubten Meinungen“ sicher und geborgen fühlen (vgl. dazu auch »Fr 25-10-19 Besorgte Demokraten«). Genau so, liebe ZEIT, kann das sein. Im „Streitinterview“, einem neueren ZEIT-Format, gibt es auf Seite 12 folgendes zum Thema zu vernehmen:

„Sie haben eine Partei gegründet, die heute einen rechtsextremen Weg geht“

Die Aussage stammt von Katharina Fegebank, Wissenschaftssenatorin in Hamburg und Grüne, und richtet sich an ihren „Streitpartner“ Bernd Lucke, Gründer der AfD und gegenwärtig um den Wiedereintritt in die universitäre Umlaufbahn bemüht. Dabei wurden die ersten beiden Vorlesungsversuche von marodierenden Studenten niedergebrüllt und mußten abgebrochen werden. Bolle fragt sich: Was hat das alles mit „Meinungsfreiheit“ zu tun? Ein ordentlicher Professor an einer Hochschule sollte nicht meinen. Er sollte idealerweise wissen und dieses Wissen an seine Studenten weitergeben. Das ist der Job. Von daher ging es also weniger darum, was er weiß – und auch nicht darum, was er meint. Was dann? Es geht hier offenbar um das, was er seinerzeit, 2013, mit der Gründung der AfD getan hat. Früher nannte man so etwas „Lebensführungsschuld“. Verschärfend kommt hinzu, daß die gegenwärtige AfD mit der seinerzeit von Bernd Lucke gegründeten AfD außer dem Namen nicht mehr viel gemein hat. Das gleiche Muster kennen wir von der „SED / PDS / Die Linke“-Metamorphose. Immerhin hat es Die Linke mittlerweile geschafft, sich bei vielen – nicht allen – einen Platz innerhalb des zulässigen Meinungskorridores zu erobern. Eine ähnliche Metamorphose hatten seinerzeit übrigens auch die Grünen durchlaufen müssen – was der Sache eine gewisse Pikanterie verleiht. Kurzum: Solange wir es nicht fertigbringen, Wissen, Meinen, schlichtes Nicht-Wissen, Glauben und selbst schieres Tun auseinanderzuhalten, sieht es für die Sozialprognose dieser Gesellschaft nicht allzu günstig aus. Solange wir „Kampfbegriffe“ im Bestreben um mediale Aufmerksam so lange inflationieren, bis auch der sensibelste Zeitgenosse abgestumpft ist, solange wir jede Ablehnung (kognitiv) gleich zum „Hass“ (affektiv) hochjazzen und solange wir meinen, Fakt oder Fake stets sauber voneinander scheiden zu können – als läge die Wahrheit nicht allzu oft im Auge des Betrachters –  gilt selbiges. Aber das ist ein anderes Kapitel.

So 27-10-19 Tag der Befreiung

Es gibt Dinge, die kriegt man erst mit, wenn man seinen Kalender einrichtet. Bei Durchsicht der Feiertage 2020 ist Bolle aufgefallen, daß es in Berlin am Freitag, dem 8. Mai, einen „Tag der Befreiung“ als offiziellen, gesetzlichen Feiertag geben soll. Neben dem „Weltfrauentag“ am 8. März – der nächstes Jahr allerdings leider auf einen Sonntag fällt und damit zum Feiern verlorengeht – legt der Berliner Senat also eine erstaunliche Kreativität im Ersinnen zusätzlicher Feiertage an den Tag. Das ist aber auch nur gerecht: Schließlich gilt Berlin seit jeher – ganz im Gegensatz zu Bayern etwa – als „Schlußlicht“ in puncto Feierlaune. Das leuchtet im Kern natürlich auch ein. Berlin ist im wesentlichen protestantisch – und überdies, zumindest im weiteren Sinne (fragt Friedrich II), auch preußisch. Da wird nun mal eher gearbeitet oder gekämpft als gefeiert. Wer mehr wissen will, möge bei Max Weber und seiner „Protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus“ nachschlagen.

Im übrigen wird das Feierlaune-Engagement des Berliner Senats doch ein wenig eingetrübt, da der „Tag der Befreiung“ nur ein einmaliger Feiertag sein soll. Ein einmaliger Feiertag aber ist – da ist sich Bolle formal sicher – kein Feiertag im definierten Sinne. Aber geschenkt.

Wirklich Sorgen macht Bolle das folgende, formale Problem: Wenn der 8. Mai der „Tag der Befreiung“ sein soll, dann bedeutet das rein logisch, daß die „Befreiten“ – wer auch immer das sein mag, die Berliner oder die Deutschen an sich – vorher eben nicht „frei“ gewesen sein können. Wenn sie aber nicht frei waren, dann heißt das, daß sie für ihr Tun auch nicht verantwortlich gemacht werden können. Das liegt nun mal im Wesen der Freiheit. Also entweder a) die Berliner wurden befreit – dann kann man ihnen nichts weiter vorwerfen – oder b) man besteht darauf, ihnen ihr Tun vorzuwerfen: dann bedeutet der 8. Mai aber nichts weiter als die Niederschlagung derangierter Bestrebungen. Damals übrigens war – rein sprachlich und weniger inhaltlich gesehen – eher von „entartet“ die Rede. Doch das nur am Rande. Auf den boole’schen Punkt gebracht ergeben sich demnach genau zwei Möglichkeiten: a) unschuldig und befreit oder b) schuldig und besiegt. There is no alternative („TINA“ in Maggie Thatcher’s Manier – übrigens das Unwort des Jahres 2010) – bzw., in klassischer Diktion: Tertium non datur. Bolle ist immer wieder fasziniert, wieviel Klarheit und Wahrheit doch in althergebrachter formaler Logik zu stecken vermag. Dumm nur, daß sich von IT-Fachleuten abgesehen kaum noch einer mit so etwas auskennt – geschweige denn, es anzuwenden weiß. Jetzt fehlt nur noch, daß jemand auf die Idee kommt, einen „Tag der Niederlage“ auszurufen – als kalendarisches „Mahnmal der Schande“, gewissermaßen. Mit so was will Bolle aber lieber rein jar nüscht zu tun ham. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Fr 25-10-19 Besorgte Demokraten

Thüringens CDU- und SPD-Kandidaten werben im Wahlkampf mit Ex- Verfassungsschutzchef Maaßen und Bestseller-Populist Thilo Sarrazin. Doch denen geht es weniger um ihre Parteien als um ihre eigenen Anliegen.

Gefunden auf Spiegel-Online im Vorspann-Text zu einem Beitrag mit dem Titel: »Sie sind doch nur besorgt« – möglicherweise angelehnt an „Die wollen doch nur spielen“. Zunächst meint der Autor, den Lesern ein wenig „Feature Crap“ um die tatsächlich oder zumindest vermeintlich intellektuellen Ohren hauen zu müssen. Bolle nennt den Spiegel, nebst seiner Derivate wie Spiegel Online und vor allem auch Bento, ja gerne und in Reminiszens an alte, bessere Zeiten, das „Sturmgeschütz der Ochlokratie“. So heißt es dort:

Thilo Sarrazin hat auf der Bühne ein paar Herzen gefunden. Es sind SPD-rote Fruchtgummis in Herzform, die hier, bei einer Lesung mit Sarrazin im thüringischen Pößneck, zusammen mit Flyern und SPD-Fliegenklatschen verteilt werden.

„Fruchtgummi in Herzform“ und „SPD-Fliegenklatschen“. Kiek ma eener an. Kann das noch als „Berichterstattung“ durchgehen – oder nimmt der Autor hier nur sein Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 5 I Satz 1 GG wahr? Indes: Was haben „Fruchtgummis in Herzform“ und „SPD-Fliegenklatschen“ mit „Meinung“ zu tun? Das sind harte Fakten – wenn auch völlig sinnentleert und irrelevant. Feature, eben. Bolle meint: Geht’s noch? Weiterhin erfahren wir:

Die Thüringer Spitzenkandidaten Wolfgang Tiefensee, SPD, und Mike Mohring, CDU, distanzierten sich von den Auftritten ihrer streitbaren Parteikollegen – das scheint diese aber kaum zu kümmern.

Warum auch? Weil „Streit“ um alles in der Welt vermieden werden muß? Wo bleibt denn da das Ideal des „streitbaren Demokraten“? Die für Bolle naheliegendste Erklärung hat kein geringerer als Noam Chomsky beigesteuert: Der meinte neulich, daß Gesellschaften – und durchaus nicht nur Diktaturen oder sonstige „Unrechtsregime“ – dazu neigen, einen „Meinungskorridor“ zu definieren, innerhalb dessen – aber eben nur innerhalb dessen – jeder seine Meinung frei äußern darf. Aber wehe, wehe, wehe man übertritt die „rote Linie“. Dann gibt es richtig auf die Mütze – und zwar im Namen „unserer“ Demokratie. Frisch und frech übersetzt könnte man sagen: (1) Jeder darf seine Meinung frei äußern. (2) Aber wer sagt denn, daß man jede Meinung frei äußern darf? So richtig einleuchten will Bolle das alles nicht – obwohl er zugeben muß, daß wir diesen Punkt schon längst erreicht haben. So lautet denn auch der Kernvorwurf:

Bei ihren Besuchen in Thüringen erwecken sie ohnehin eher den Eindruck, als ginge es ihnen weniger um ein gutes Abschneiden ihrer Parteien als um ihre eigenen Anliegen.

Kiek ma eener an. Seit wann ist es denn demokratisch verwerflich, sich um seine „eigenen Anliegen“ zu kümmern? Ist das nicht der Kern des Kapitalismus – und damit des Fundamentes unserer Gesellschaftsordnung? Vergleiche dazu etwa Adam Smith’s „invisible hand“ und viele weitere Mißbrauchsopfer der ökonomischen Theorie. Im übrigen: welche „Anliegen“ sollen das sein? Bei dem „Bestseller-Populisten“ Thilo Sarrazin (siehe oben) womöglich der Absatz seiner Bücher – also Wahlkampf als Promotion Tour. Bei Herrn Maaßen ist ein vergleichbares Motiv bislang nicht zu erkennen. Wenden wir uns also wieder der „bright side of life“ zu:

„Heute ist man ja schon Rechtspopulist, wenn man pünktlich zur Arbeit kommt“, sagt Rechtsanwalt Christian Sitter aus Gotha, Gründungsmitglied und Vorsitzender der Thüringer WerteUnion.

Das ist wirklich mal eine amüsante Perle im Beitrag. Dem Autor sei Dank. Das Problem dahinter ist allerdings durchaus gravierend: Hat es die schreibende Zunft doch wirklich fertiggebracht, ihre eigenen „Kampfbegriffe“ derart zu inflationieren, daß solche Sprüche möglich werden – und dabei auch noch witzig sind. Wir erinnern uns an eines dieser zuweilen äußerst lebensweisen chinesischen Sprichwörter: Der Scherz ist oft das Loch, durch das die Wahrheit pfeift. Weiterhin erfahren wir:

Ressentiments und Fremdenfeindlichkeit werden hier salonfähig ausgetauscht […].

Bolle zum Beispiel hat überhaupt nichts gegen „Ressentiments und Fremdenfeindlichkeit“. Er ist da völlig liberal. Im übrigen scheint ihm ein Begriff wie »Salonfähigkeit« nur ein Synonym für die oben erwähnte „rote Linie“ zu sein. Wer Dinge „salonfähig“ macht, verschiebt also im Kern die rote Linie, deren Übertretung umstandslos zum Ausschluß aus dem Kreis der „aufrechten Demokraten“ führen soll. Hier liegt – das kann man nicht leugnen – Gefahr im Verzug. Wehret den Anfängen! Entsprechend heißt es in dem Beitrag auch:

Doch das Publikum scheint bereits über weiterführende Konsequenzen aus ihren Worten nachzudenken – wie etwa über eine Koalition mit der AfD.

Was soll denn das schon wieder? Eine Partei, die „rein demokratisch“, also in (1) allgemeiner, (2) unmittelbarer, (3) freier, (4) gleicher und (5) geheimer Wahl (Art. 38 I GG) die meisten oder vielleicht zumindest die zweitmeisten Stimmen ihres Souveräns, also „des ganzen Volkes“ (a.a.O.), bekommt, an der Regierung zu beteiligen? Das geht wirklich gar nicht. Wozu schließlich haben wir im Kreise der „aufrechten Demokraten“ rote Linien? Andererseits – und das macht Bolle wirklich Sorgen – wird das nur so lange funktionieren, wie es für „Alle außer die da“-Koalitionen noch reicht (vgl. dazu Fr 04-10-19 Klimabremse). Kieken wa ma, was am Sonntag passiert. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Mi 23-10-19 Rente mit 70

Reaktion auf Forderung nach Rente mit 69: Der CDU-Wirtschaftsrat begrüßte die Forderung der Bundesbank, das Renteneintrittsalter bis zum Jahr 2070 auf mehr als 69 Jahre zu erhöhen: Man müsse das Verhältnis von Erwerbstätigen zu Rentnern durch längere Lebensarbeitszeit halbwegs im Lot halten.

So liest sich das heute in der Tagesspiegel Morgenlage. „Man müsse“. Hört, hört! Bolle meint: Wenn ich den Renten-Text gestern [siehe dort] richtig verstanden habe, spielt das „Verhältnis von Erwerbstätigen zu Rentnern“ überhaupt keine Rolle. Im übrigen liege das „natürliche“ Verhältnis offenbar bei 1 zu 1 bzw., wenn wir die Erwerbstätigen auf die Gesamtbevölkerung beziehen, bei 1 Erwerbstätigen auf 3 Einwohner (einschließlich aller Kinder und Jugendlichen). Das entspricht einer Erwerbstätigenquote von gerade mal 33%. Zur Zeit liegen wir bei rund 50%. Vielen – vor allem der EU-Bürokratie – ist selbst das noch viel zu wenig. „Ja dann wird wieder in die Hände gespuckt / Wir steigern das Bruttosozialprodukt.“ Das war 1982. Bolle fragt sich, ob Geier Sturzflug damals geahnt hat, daß die seinerzeit schon zweifelhafte Idee einer „industriellen Reservearmee“ noch einmal eine solche Renaissance erleben würde. Je mehr Leute auf den Arbeitsmarkt drücken, desto niedriger fallen die Löhne aus. So geht nun mal Marktwirtschaft (vgl. dazu auch »Do 10-10-19 Märkte und Zünfte«). Das heißt aber nicht, daß diese Leute dann auch was sinnvolles tun würden. Jedes Produktionssystem – egal ob im Sozialismus oder im Kapitalismus – kennt so etwas wie „Absorptionsresistenz“. Wieviel Arbeit gebraucht – und damit potentiell nachgefragt – wird, entscheiden die realwirtschaftlichen Bedingungen – und nicht etwa der Markt. Stellen Sie sich vor, Sie seien Bäckermeister oder -meisterin. Würden Sie jemanden einstellen, den Sie gar nicht brauchen – nur weil er billig zu haben ist? Natürlich nicht! Falls doch, würden Sie dafür, wenn Sie können, jemand anderen rausschmeißen. Ein zusätzlicher Arbeitsplatz wäre damit also nicht entstanden: Absorptionsresistenz, eben. Das Prinzip gilt, soweit wir sehen können, ganz allgemein – und ist seit Mitscherlich bestens erforscht. Oder würden Sie Ihre Lieblings-Zimmerpflanze mit Dünger zubomben, nur weil er gerade wohlfeil im Angebot ist? Natürlich nicht! Kurzum: Die Nachfrage nach „Produktionsfaktoren“, egal ob Arbeitskraft oder Düngemitteln, wird vom Systemverhalten bestimmt – und nicht vom Markt. Kenner sprechen hier ganz zutreffend von „abgeleiteter Nachfrage“ – von der sich alle Produzenten leiten lassen. Was denn sonst? Mag ja sein, daß Sie als Konsument (!) mehr Tomaten kaufen, weil sie gerade „im Angebot“ sind. Als Restaurantbesitzer und damit als Produzent (!) aber werden Sie genau so viele Tomaten kaufen, wie Sie für den Betrieb Ihres Restaurants benötigen. Das ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht – der sich allerdings und gleichwohl noch nicht allgemein herumgesprochen hat. Auch nicht in der Ökonomen-Zunft. Kurzum: Je mehr Leute auf einen Arbeitsmarkt drücken, der keine zusätzliche Arbeitskraft braucht, desto mehr knicken die Löhne ein. Zusätzliche Arbeit entsteht dabei mitnichten. Folglich macht es auch keinen Sinn, „das Verhältnis von Erwerbstätigen zu Rentnern durch längere Lebensarbeitszeit halbwegs im Lot“ halten zu wollen, wie es im Originalbetrag (siehe oben) so schön heißt.

Aber ist es denn nicht auch wahr, was ein bekannter Baumarkt sehr erfolgreich zu seinem Werbeslogan erhoben hat: „Es gibt immer was zu tun?“ Natürlich. Es gibt immer was zu tun. Wir könnten zum Beispiel mehr Lehrer brauchen, mehr Sheriffs vielleicht, mehr Krankenpfleger und, vor allem in Berlin, auch mehr Bus- und Bahnfahrer. Allein: Solchen „Luxus“ kann oder will sich die Gesellschaft offenbar nicht leisten. Im Grunde ist es ja nicht allzu kompliziert: (1) Menschen haben praktisch unendlich viel Bedürfnisse. (2) Daraus folgt praktisch unendlicher Bedarf. (3) Daraus folgt aber mitnichten praktisch unendliche Nachfrage. Warum nicht? Weil erst Bedarf, der mit Kaufkraft ausgestattet ist – also der Fähigkeit und der Bereitschaft – eben diesen Bedarf (bzw. diese Bedürfnisse) zu bedienen, zu tatsächlicher Nachfrage und damit auch zu tatsächlicher Arbeitsnachfrage führt. Bolle meint: Hier gibt es wohl noch einiges zu tun. Recht hat er! Und in der Tat regt sich auch, geradezu reflexhaft, Widerstand. An gleicher Stelle lesen wir:

Dagegen kritisierte der Vizechef der Christlich Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), Christian Bäumler, den Vorschlag als Angriff auf den Zusammenhalt der Gesellschaft. Viele Arbeitnehmer erreichten schon heute das gesetzliche Renteneintrittsalter nicht und seien daher finanziell auf Hartz IV angewiesen. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil warnte davor, Menschen zu zwingen, bis 70 zu arbeiten, um eine vernünftige Rente zu bekommen. FDP-Fraktionsvize Michael Theurer lobte den Bundesbank-Vorstoß als wichtigen Impuls in der Debatte um Generationengerechtigkeit.

„Angriff auf den Zusammenhalt der Gesellschaft“. Starker Tobak. „Menschen zu zwingen, bis 70 zu arbeiten, um eine vernünftige Rente zu bekommen“. Bolle meint: Definiere „vernünftige Rente“. Alles über Hartz-IV-Niveau? Aber immerhin handelt es sich hierbei um einen „wichtigen Impuls in der Debatte um Generationengerechtigkeit“. Das klingt gut. Das klingt staatstragend. Gemeint ist aber wohl: Wir sollten die Rentner nicht zu sehr mästen. Das könnten uns die Jüngeren übelnehmen. Was dabei übersehen wird: Auch die Jüngeren werden demnächst Rentner sein. Bolle meint: Von einem staatstragenden Politiker könnte man durchaus erwarten, daß er das gelegentlich mal klarstellt, statt die einen gegen die anderen aufzuwiegeln – von wegen „Generationengerechtigkeit“. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Di 22-10-19 Rente mit 69

Bundesbank fordert Rente mit 69

Mit dieser Überschrift hat die »Süddeutsche Zeitung« heute aufgemacht – und »Die Welt« sekundiert: „Die Rente ist sicher – aber nicht mehr allzu lange“. Der arme Norbert Blüm: Da ist ihm 1986 ein flotter Spruch rausgerutscht, der ihn wohl definitiv überleben wird. Ähnlich kraß wie Fukuyamas „Ende der Geschichte“ (1992). Aber das ist ein anderes Kapitel. Immerhin: 1986 liegt mittlerweile eine Generation zurück (Bolle rechnet konventionell mit 30 Jahren pro Generation). Solange hat sich die Rente schon mal gehalten – wenn wir von den ganzen schleichenden Einschnitten einmal absehen wollen. Zwar existiert die Rente noch. Allerdings zeigt sie schwer komatöse Züge.

Was sagt die Wissenschaft? „Ein gegebenes Problem läßt sich schwerlich mit derselben Denke lösen, durch die es überhaupt erst entstanden ist.“ So in etwa soll Albert Einstein das „Metaproblem“ einmal auf den Punkt gebracht haben.

Betrachten wir zunächst das grundlegende Problem:

Die Rente wurde Ende des 19. Jahrhunderts – „klassisches Modell“ – von Bismarck mit 15 Jahren Aufwachsen und Ausbildung, 50 Jahren Erwerbstätigkeit nebst Einzahlung in die Rentenkasse und schließlich 5 Jahren Rentenbezug konzipiert. Danach war man absehbar tot und damit nicht weiter „bedürftig“. Wenn wir von Zinsen und ähnlichem Schnickschnack einmal absehen wollen, dann bedeutet das, daß ein Erwerbstätiger im Laufe seines Erwerbslebens 10% seiner Bezüge hat zurücklegen müssen, damit die Rechnung aufgeht. Heute sieht das Bild – „aktualisiertes Modell“ – ganz anders aus: Heute können wir – modelltechnisch vereinfacht – von 30 Jahren Aufwachsen und Ausbildung ausgehen, 30 Jahren Erwerbstätigkeit nebst Einzahlung in die Rentenkasse und weiteren 30 Jahren erwarteten Rentenbezugs. Das aber bedeutet, daß 50% der Bezüge zurückgelegt werden müßten, damit die Rechnung aufgeht. Bolle kennt niemanden, der das tut. Auch kennt er niemanden, der dazu überhaupt in der Lage wäre. Was tun, sprach Zeus? Was hat die „alte Denke“ uns nicht alles versucht einzureden. Wir bräuchten zusätzlich eine Betriebsrente – also ob wir davon ausgehen könnten, daß unser Betrieb, wenn wir Rente beziehen wollen, noch willens und in der Lage sein wird, uns weiterhin durchzufüttern. Da ist eine saubere, rechtlich völlig einwandfreie Insolvenz nebst Neueröffnung unter frischem Namen sehr viel naheliegender. Auch bräuchten wir eine „kapitalgedeckte“ Altersvorsorge. „Kapital“ klingt immer gut. Gemeint ist natürlich nur: Wir müssen mehr fürs Alter zurücklegen – möglichst verzinst. Aber erstens kann man sich auf eine Verzinsung nicht wirklich verlassen – und auf einen möglichen Wertauftrieb von Wertpapieren ebenso wenig. Und zweitens schließlich, siehe oben, sprengen die 50% der rechnerisch notwendigen Rücklage die Möglichkeiten der meisten bei weitem. Ein dritter beliebter Vortrag der „alten Denke“: Wir brauchen ganz viel Zuwanderung – auf daß diese Leute dann „unsere“ Rente bezahlen. Als gäbe es kein Äquivalenzprinzip: Im Grundsatz kriegt jeder das wieder raus, was er selber eingezahlt hat. Zuwanderer arbeiten im Ergebnis also für ihre eigene Rente – und nicht etwa für „unsere“. Das also wird so nicht funktionieren. Allerdings ist dieser Ansatz trefflich geeignet, das Problem „ganz nach Demokratensitte“ weiter in die Zukunft zu verschieben: Après nous le déluge (nach uns die Sintflut) – wie Madame de Pompadour das nach der verheerenden Niederlage bei Roßbach gegen Friedrichs Truppen (1757) einmal mit entwaffnender Offenheit formuliert haben soll, um sich nicht die Partylaune verderben zu lassen.

Die „Forderung“ der Bundesbank bedeutet also nichts weiter als den Erwerbstätigkeitsbalken (siehe oben) ein wenig zu verlängern und den Rentenbezugsbalken dafür ein wenig zu verkürzen. „Alte Denke“ eben – und dabei naturgemäß nicht sonderlich inspiriert. Also: „Game over“, oder was? Der letzte macht das Licht aus? Wir wollen an dieser Stelle nicht hysterisch werden. Das Rentenproblem ist lösbar – zumindest mathematisch. Dabei gilt: Was mathematisch funktioniert, könnte auch im richtigen Leben funktionieren. Ob sich indes die Dinge entsprechend wenden, hängt entscheidend an den jeweiligen Entscheidern – bzw. letztlich an deren „Auftraggebern“, mithin also dem Souverän. Und? Wer ist der Souverän? Das sind irgendwie wir alle. „Wir sind das Volk“ – kennen wa ja. Die Lösung greift allerdings etwas weiter als hier auf die Schnelle darstellbar ist. Daher verweisen wir auf die beigefügte PDF. Zugegeben: keine ganz leichte Kost – aber auch nicht völlig unverdaulich. Einen Versuch ist es wohl allemal wert. Ein halbes Stündchen Zeit sollte man sich dafür aber schon nehmen. Verglichen mit der seit 1986 währenden Dauer-Irritation (siehe oben) scheint uns das aber ein vertretbarer Aufwand zu sein. Falls Sie Fragen haben: Nutzen Sie unsere Kommentarfunktion. Wir werden antworten – versprochen. Viel Spaß bei der Lektüre!

Fr 18-10-19 Markt und „Gerechtigkeit“

Forscher halten Klimapaket für sozial ungerecht: Das Klimapaket der Regierung benachteiligt einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zufolge Haushalte mit niedrigem Einkommen. Demnach trifft der geplante Preis auf den CO2-Ausstoß im Verkehrs- und Gebäudebereich die Ärmeren stärker als die Reichen. Auf Haushalte mit niedrigerem Einkommen komme zum Teil eine Belastung in Höhe von mehr als einem Prozent ihres Nettoeinkommens zu. Das oberste Zehntel der Haushalte habe hingegen nur eine Mehrbelastung von durchschnittlich 0,4 Prozent seines Nettoeinkommens zu erwarten.

Gefunden in der Tagesspiegel Morgenlage. 1 Prozent des Nettoeinkommens? Das wären bei 1.000 Euro ja saftige 10 Euro. So teuer wie ein kleines Steak. Bolle fragt sich: „Geht’s noch, ihr Fruchtzwerge?“ Auch fragt er sich, wieso man für eine solche Einsicht überhaupt „Forscher“ braucht. Dafür braucht man maximal Papier und Bleistift – wenn überhaupt. Je geringer das Einkommen, desto heftiger schlägt eine Preiserhöhung relativ gesehen (also bezogen auf eben dieses Einkommen) zu Buche. Für diese Erkenntnis braucht man keine Mikroökonomie – man braucht allenfalls einen Dreisatz. Interessanter ist das dahinterliegende grundsätzliche Problem: Freie Marktsteuerung – hier also die Festlegung der Güterpreise durch „den Markt“ – ist nun mal per se „sozial ungerecht“ – zumindest dann, wenn man unter „Gerechtigkeit“ verstehen will, daß alle den gleichen, egalitären, gar „demokratischen“ Zugang zu Gütern haben sollen. Marktsteuerung funktioniert im Kern wie folgt: Wer etwas haben will – hier im Beispiel also Energie – und bereit und in der Lage ist, den aufgerufenen Preis zu bezahlen, kriegt seine Energie. Die anderen gehen „ungerechterweise“ leer aus. Das ist nicht immer schön – aber so geht nun mal Marktwirtschaft.

Was wäre die „sozial gerechte“, „egalitäre“, gar „demokratische“ Alternative? Easy. Energie auf Bezugsschein. Bolle meint: Hat es alles schon mal gegeben. Wobei natürlich klar sein sollte, daß ein „reicher“ Haushalt mit einer 20-Zimmer-Villa kein größeres Anrecht auf Bezugsscheine haben würde als ein Hartz-IV-Empfänger mit seiner 30-Quadratmeter-Bude.

Kurzum: Die wohltönenden Begriffe („sozial gerecht“, „demokratisch“, „egalitär“ – vielleicht sogar, let’s go crazy, „inklusiv“) wollen so rein gar nicht zur „Logik des Marktes“ passen. Bolle meint: Fein, daß das mal jemand merkt. Neben dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung hat das offenbar auch Paul Collier gemerkt – und gleich in ein einschlägiges Werk umgesetzt. Im Handelsblatt Morning Briefing lesen wir:

[…] wenn sich in der westlichen Gesellschaft ein Leitbild erledigt hat, dann ist es mit Sicherheit das von Jeremy Bentham. Der britische Philosoph predigte das größte Glück der größten Zahl. Doch die reine Theorie des maximalen Nutzens für jeden Einzelnen hat auch eine Menge der Probleme mitbegünstigt, die wir derzeit haben. Liberalismus ist nicht alles, es komme angesichts des verschärften Kapitalismus mehr als früher auf den sozialen Zusammenhalt an, auf die gemeinsamen Werte einer Gesellschaft, schreibt Paul Collier. Für sein aktuelles Werk „Sozialer Kapitalismus!“ erhält der Ökonomieprofessor aus Oxford den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis 2019 […]

Wir wollen hier nicht auf Bentham’s „größtem Glück der größten Zahl“ rumhacken. Das Konzept war schon seinerzeit mathematisch unterbelichtet. Und was mathematisch nicht funktioniert, kann auch „im richtigen Leben“ nicht funktionieren – also weder im Sozialismus und nicht einmal im Kapitalismus.

Ein ganz analoges Problem hat übrigens vor Wochen schon Markus Dettmer geplagt. Auf Spiegel Online hat er am 07-08-19 getitelt: »Wer Fleisch höher besteuert, stellt die soziale Frage«. „Ne Nummer kleiner ging’s wohl nicht“, meint Bolle. Dettmers Argumentation läuft auf folgendes hinaus: „Ob arm, ob reich – an der Fleischtheke sind alle gleich.“ Das ist egalitär, das ist demokratisch, das ist inklusiv. Im Kern also – und in Anlehnung an das Demokratieprinzip „one man, one vote“: „One man, one Wurscht.“ Damit aber wären wir bei der Bezugsschein-Lösung. Bolle hat keine Ahnung, ob Herr Dettmer das zuende gedacht hat.

Kurzum: Es verdichten sich die Anzeichen, daß die in der westlichen Zivilisation über alles geschätzten „Grundwerte“ Demokratie und Freie Marktwirtschaft sowas von über Kreuz liegen, daß man langsam wirklich mal dazu übergehen sollte, sich hierzu ein paar vertiefte Gedanken zu machen. Wir bleiben am Ball. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Do 17-10-19 Homöopathie

Ein Basis-Grüner aus Berlin hat beantragt, den Krankenkassen die Kostenerstattung für das alternative Heilverfahren zu untersagen. Die Globuli-Behandlung sei – wir sagen das jetzt mal mit unseren Worten – reiner Hokuspokus.

Gefunden in der Tagesspiegel Morgenlage. Mit dem „alternativen Heilverfahren“ ist die Homöopathie gemeint. Unser „Basis-Grüner“ führt aus:

Die Grünen hingegen seien eine Partei, die wissenschaftliche Fakten hoch hielten. Also: Schluss mit den Kassenzuschüssen in zweistelliger Millionenhöhe.

Was können wir uns unter „wissenschaftlichen Fakten“ vorstellen? Erstens die Kenntnis von Tatsachen (zum Beispiel „Leute haben eine Leber“ oder „Es gibt Ethanol“) sowie Wissen um Zusammenhänge (zum Beispiel „Wenn eine Leber mit zu viel Ethanol in Kontakt kommt, dann tut ihr das nicht gut“). Beides halten wir für gegeben, wenn hinreichend viele Fachleute die Tatsache oder den Zusammenhang für zutreffend halten. So etwas nennt man vorsichtigerweise „intersubjektiver Konsens“ bzw., weniger vorsichtig, „Objektivität“. Daß sich alle Fachleute völlig einig sind, kommt dabei eigentlich nie vor – nicht einmal beim Klimawandel. Das Gegenstück zu einem wissenschaftlichen Zusammenhang nennen wir seit alters her „Magie“ – oder, deutlich herablassender, eben auch „Hokuspokus“: Wir stellen fest, daß es einen Zusammenhang gibt, können ihn uns aber nicht erklären. Wissenschaftlich gesehen gibt es an dieser Stelle genau 4 Fallkonstellationen:

(#1) Etwas funktioniert – und wir wissen warum. Damit fühlen wir uns am wohlsten, weil es sowohl unser Orientierungsbedürfnis als auch unser Bedürfnis nach Situationskontrolle befriedigt.

(#2) Etwas funktioniert – und wir wissen nicht warum. Hier scheiden sich die Geister. Während a) die einen sagen „Hauptsache, es funktioniert“, treibt das b) andere, also Leute mit ausgeprägterem Orientierungsbedürfnis, schier in den Wahnsinn.

(#3) Etwas funktioniert nicht – und wir wissen warum. Das ist zwar nicht schön – aber wenigstens ist unser Orientierungsbedürfnis befriedigt. Mit etwas Glück und Können läßt sich dieser Zustand nach (#1) überführen. Das nennt man dann „Problemlösung“. Techniker und Handwerker („applied sciences“) machen so etwas jeden Tag.

(#4) Etwas funktioniert nicht – und wir wissen nicht warum. Das ist der unerquicklichste aller Zustände: Er beleidigt sowohl das Orientierungsbedürfnis als auch das Bedürfnis nach Situationskontrolle.

Nun läßt sich unser „Basis-Grüner“ ohne Umschweife und wissenschaftlich sauber der Kategorie #2 b) zuordnen. Was tun, sprach Zeus? Hier ergeben sich im wesentlichen genau 3 Möglichkeiten:

a) Rausfinden, warum es funktioniert. Das wäre eine Überführung nach (#1). Allerdings ist das meist nicht ganz einfach zu bewerkstelligen – schon gar nicht für einen Politiker.

b) Leugnen, daß es funktioniert. Das aber wäre, weil kontrafaktisch, im Kern unwissenschaftlich.

c) Hinnehmen, daß die Fallkonstellation (#2) existiert. Das wäre eine Überführung von #2 b) nach #2 a).

In seiner Not hat sich unser „Basis-Grüner“ offenbar für die Variante b) entschieden und damit für die „unwissenschaftlichste“ aller Möglichkeiten. Kiek ma eener an! Nun ist es so, daß Leute mit ausgeprägtem Orientierungsbedürfnis nicht nur jede Form von „Magie“ ablehnen müssen – so etwas würde sie, wie oben formuliert, schier in den Wahnsinn treiben. Überdies müssen sie – nach dem Motto „alle sollen gleich sein wollen“ – das bescheidenere und wissenschaftlich saubere Konzept intersubjektiven Konsenses geringschätzen und statt dessen das Panier „objektiver Wahrheit“ hochhalten. Dabei merken solche Leute offenbar nicht einmal, daß sie damit schon wieder den Boden der „Wissenschaftlichkeit“ verlassen.

Kurzum: Unser Basis-Grüner verhält sich in zweifacher Hinsicht „unwissenschaftlich“ – und das ausgerechnet im Namen der Wissenschaften. Der Tagesspiegel nennt das übrigens, und zwar völlig zutreffend, einen „Glaubenskrieg“. Bolle meint: Geht’s noch? Aber das ist ein anderes Kapitel.