Mi 17-02-21 Na, und denn — ?

Na, und denn — ?

Die Textstelle stammt aus Kurt Tucholskys bitter-süßem Gedicht »Danach«. Das ist auch schon wieder 90 Jahre her bzw. für alle, die kleine Zahlen und große Einheiten lieber haben, drei Generationen. Ja, passiert denn nie was wesentliches auf der Welt? Und so endet Tucholskys Gedicht auch recht nüchtern:

Der olle Mann denkt so zurück:
wat hat er nu von seinen Jlück?
Die Ehe war zum jrößten Teile
vabrühte Milch und Langeweile.
Und darum wird beim happy end
im Film jewöhnlich abjeblendt.

Vabrühte Milch und Langeweile. Herrlich. Bolle liebt es, wenn Dichter die Dinge auf den Punkt bringen. Zur Zeit tun wir so, als sei Corönchen – ein Begriff, der vielen nur als Determinativ-Kompositum und ohne Diminutiv, also ›Corona-Pandemie‹ über die Lippen gehen will – eine Ausgeburt des Leibhaftigen. Also nüscht wie weg – und zwar so schnell wie möglich.

Auch über den Weg zum „weg“ herrscht Einigkeit. Wir haben das an anderer Stelle einmal »Humans go Borg« genannt (vgl. Sa 09-01-21 Und? Wie geht’s weiter?). Na, und denn – ? Denn kieken wa ma. „Back to normal“ heißt die Devise. Which normal?, fragt sich Bolle. Aus den corönchenbedingten Staatsschulden wollen wir, wenn man den Verlautbarungen Glauben schenken darf,  mir nichts dir nichts mal eben „rauswachsen“. Na toll. Die Umwelt läßt grüßen – und Perspektive geht irgendwie anders.

Bolle hat es vor einiger Zeit unternommen, eine Liste zu erstellen mit allem, was uns seit längerem schon plagt, und ist dabei auf schlanke 19 Punkte gekommen. Auf zwei, drei Punkte mehr oder weniger kommt es hier nicht an. Das klingt im Grunde noch beherrschbar – geht aber wohl nicht ohne Plan. Hier Bolles abgespeckte Liste, gekleidet in drei grundlegende Fragen:

Erstens: Wie kann es sein, daß die Weltbevölkerung in toto so wenig kreislaufkritisch ist?  Die hervorstechendsten Punkte sind hier vor allem der Atommüll und, weit abgeschlagen, der Plaste-Müll. Zweitens: Wie kann es sein, daß die Weltbevölkerung in toto ernstlich glauben kann, daß dieser Planet Platz für 8 Milliarden Erdenbürger bietet? Und drittens: Wie können wir glauben, daß sich die zu lösenden Probleme auf dem Wege von Mehrheitsentscheidungen werden lösen lassen – wo uns doch die Nash-Gleichgewichte (übrigens ein weiterer Punkt auf Bolles Liste) regelrecht ins Gesicht springen? Wir werden darauf zurückkommen. Das aber ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Di 16-02-21 Von Systemen und Relevanz …

Von Systemen und Relevanz.

Bei unserem heutigen Beitrag soll es uns mehr um Kontemplation gehen und weniger ums Lesen. Bei der Textstelle handelt es sich um einen Schlager aus den frühen 1970er Jahren. Das ist fast 50 Jahre her. Wie kommt Bolle auf so was? Nun, einerseits hieß es in den Nachrichten, daß zur Zeit bestimmte Grenzen nur noch passiert werden dürfen, wenn das jeweilige Unterfangen „systemrelevant“ ist. Andererseits hatte Bolle mit einem halben Ohr in eine Rosenmontagsparty reingehört, in der unter anderem ein Puppenspieler seine Kunst zum besten gab. Der Rest war freie Assoziation.

Davon ab wirft sich hier mit Wucht eine Frage auf: Was ist eigentlich „systemrelevant“ bzw., klarer noch, was wird von einer Gesellschaft als systemrelevant angesehen? Noch klarer: Was bleibt eigentlich von einer Zivilisation, wenn die Lichter ausgegangen sind? Am ehesten ja wohl die Kultur. Können wir uns vorstellen, daß Roberto Blanco den Wasserträger von Mexiko besungen hätte? Oder vielleicht den Haareschneider von Mexiko? Oder gar den Altenpfleger von Mexiko? Möglich, aber unwahrscheinlich.

Wie gesagt: Ein Beitrag zum vielleicht ein wenig In-sich-gehen. Alles weitere wäre dann schon wieder ein anderes Kapitel.

Mo 15-02-21 Der Weisheit letzter Schluß …

Der Weisheit letzter Schluß.

Es sind doch immer wieder die Dichter, und nicht etwa Wissenschaftler, denen es gelingt, die Dinge auf den Punkt zu bringen – und das mit einer prophetischen Perspektive von mehreren Jahrhunderten, oder auch noch sehr viel mehr. Die Fertigstellung des Faust II datiert auf 1831. Das war nur wenige Jahre nach den sogenannten Befreiungskriegen gegen den doch etwas übermütig gewordenen kleinen Korsen, der, nach zunächst beachtlichen Erfolgen mit dem erklärten Ziel, Europa zu „einen“, 1812 in Rußland hatte lernen müssen, was es heißt, ein wirklich großes Land erobern zu wollen. Ähnliches, doch das nur am Rande, mußten auch andere Feldherren, und seien es die größten, immer wieder erleben. Die Parallelen ziehen sich bis in die Gegenwart. Hatten wir schon erwähnt, daß sich Bolle, im Kern souverän, wie er nun mal ist, das Recht herausnimmt, alles, wirklich alles mit allem zu vergleichen? Gegebenenfalls auch Äpfel mit Birnen – wohl wissend, daß sie nicht gleich sind? Doch nun Ende Exkurs. Nur ein Jahr später schon, 1813, mußte der kleine Korse, der Lektionen zweiter Teil, in der sogenannten Völkerschlacht bei Leipzig leidvoll lernen, daß auch kleinere „Flickenteppiche“ wie etwa Europa nicht ganz leicht zu erobern sind, wenn sich alle, wirklich alle anderen – im wesentlichen also Preußen, Russen, Habsburger und auch die Briten –, einig sind, wenn auch nicht im erwünschten Sinne geeint. Wiederum nur zwei Jahre später, 1815, nach einer Rekonvaleszenzphase auf der Insel Elba, mußte er dann sein ganz persönliches Waterloo erfahren und wurde von den Briten, safety first, bis auf weiteres auf St. Helena in Sicherungsverwahrung genommen. Ende Gelände. Schluß mit Einiges Europa.

Was hat das mit uns zu tun? Von solcher Weisheit letztem Schluß sind wir heute, in doch eher friedensbewegten Zeiten, zumindest in Europa, weit, weit entfernt. Freiheit? Steht so in der Verfassung (Art. 2 GG). Leben? Das zu schützen ist Aufgabe der Regierung (ebenfalls Art. 2 GG). Und wehe, sie macht ihren Job nicht ordentlich – etwa weil sie zu spät oder zu wenig Impfstoff bestellt oder, mangels besserer Möglichkeiten, gar die Kommunikation per Fax erledigt. Wie haben wir’s so herrlich weit gebracht. Einerseits kann man das ja durchaus als zivilisatorischen Fortschritt durchgehen lassen. Wer will sich schon, wie Goethe das nennt, „täglich“ mit der Grande Armée her­umschlagen müssen? Versteht man ja. Aber wie so oft im Leben hat auch das seinen Preis. Für je selbstverständlicher Freiheit und auch Leben erachtet werden, desto mehr sinkt die Bereitschaft, sie „täglich zu erobern“ – und damit, nach Goethe, der eigene Verdienst daran. Und damit, das läßt sich nun mal nicht vermeiden, wird das ganze hohl und schal. Willkommen in der Gegenwart. Schöne, heile Welt (analog Huxley 1932 – noch so ein Prophet, by the way). Das aber ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

So 14-02-21 Corönchen-Proportiönchen

Rechenschieber reicht. Allemal.

Bekanntlich hält Bolle ja nicht viel davon, wie das Kaninchen auf die Zahlenschlange zu starren – vor allem dann nicht, wenn sich die Schlange auf die Einerstelle genau aufplustert. Als ob Schlangen sich aufplustern könnten. Halten wir also einen Moment inne und werfen einen Blick auf die Proportionen. Bis heute sind, wenn man den Zahlen glauben mag, 64.990 Leute an Corönchen gestorben. Vor einem Monat, am 14. Januar, waren es 45.209. Demnach sind in den letzten 31 Tagen 19.781 Leute „an oder mit“ Corönchen gestorben. Das klingt auf den ersten Blick nach richtig viel – bedeutet pro Tag aber „nur“ 638. Nun ist es so, daß in Deutschland 82,8 Mio Leute leben, die im Schnitt (sagen wir) 82,8 Jahre leben. Das bedeutet, daß pro Jahr 1 Mio Leute sterben – so oder so. Conditio humana, eben. Pro Tag sind das 2.740. Wenn wir die Zahlen ins Verhältnis setzen, dann würde das bedeuten, daß zur Zeit fast ein Viertel aller Todesfälle (638 geteilt durch 2.740 = 23%) auf das Corönchen-Konto gehen. Bolle meint: Möglich, aber unplausibel. Selbst wenn wir davon ausgehen, daß die Corönchen-Toten samt und sonders zusätzlich sterben – wovon wir nach allem, was wir wissen, aber nicht ausgehen können – dann wären wir immer noch bei knapp einem Fünftel (638 geteilt durch die Summe aus 2.740 und 638 = 19%). Bolle hält auch das für noch nicht sonderlich überzeugend.

Eher deutet alles darauf hin, daß Corönchen weniger die Ursache der Todesfälle ist (egal ob „mit“ oder „an“) als vielmehr der Auslöser (neudeutsch: Trigger). Das wiederum könnte bedeuten, daß Corönchen in der Tat eher ein sozialpsychologisches Problem ist und weniger ein virologisches. Das aber ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Sa 13-02-21 Immer feste druff!

Immer feste druff.

Daß wir zwei Tage in Folge auf Friedrich von Schiller zurückgreifen, ist eher Zufall. Unser heutiges Zitat soll illustrieren, daß Vorfälle wie der folgende durchaus nicht neu sind – wenn auch die Häufigkeit besorgniserregend zunimmt. Was ist passiert? Yoshiro Mori, der Chef des Organisationskomitees der Olympischen Sommerspiele, die demnächst mit einem Jahr Verspätung in Tokyo stattfinden sollen, wurde gefeuert. Natürlich nicht wirklich gefeuert, of course. Japaner sind höflich – und so hat man sich auf einen „Rücktritt“ verständigt. Hintergrund: Ein einziger Satz. Yoshiro Mori hatte am Rande angemerkt, daß Sitzungen mit hoher Frauenbeteiligung sich oft unangenehm in die Länge zögen. Warum? Weil Frauen nun mal einen zeitaufwendigeren Kommunikationsstil pflegten. Man könnte auch sagen: Ein Mann, ein Wort. Eine Frau, ein Wörterbuch. Skandal! Voll die sexistische Entgleisung!

Kann man das so sehen? Natürlich. Muß man das so sehen? Natürlich nicht. Bolle meint: Entweder war das eine schlichte Meinungsäußerung. Dann ist sie durch Art. 5 I GG (bzw. das japanische Äquivalent dazu) gedeckt – falls wir die Angelegenheit überhaupt so hoch hängen wollen. Oder es war eine Tatsachenbehauptung. In diesem Falle wäre es einer Überprüfung zugänglich. Wozu gibt es Sitzungsprotokolle? Falls man sich geirrt haben sollte, nimmt man die Behauptung eben mit einem Ausdruck des Bedauerns zurück – und gut isset.

Aber so? Aufschrei der Straße – wobei sich die Straße 2.0 praktischerweise in den sozialen Medien befindet, man also nicht mal vor die Tür gehen muß, um sich gründlich zu empören. Demos 2.0 nennt Bolle das. Darauf folgt blitzeschnelle die massenmediale Verstärkung des Aufschreies. Skandal, Skandal! Dazu kommt regelmäßig immer gleich die Verhängung der Höchststrafe. Zwar hat niemand gefordert, daß Yoshiro Mori Harakiri (bzw. Seppuku) begehen soll – wir leben schließlich in vergleichsweise zivilisierten Zeiten. Aber die umstandslose Entfernung aus Amt und Würden ist heute eben die Höchststrafe 2.0.

Demokratische Legitimation des Demos 2.0? Fehlanzeige. Rechtsstaatliche Verhältnismäßigkeitsprüfung? Fehlanzeige. Abwägung Problemlösung (die Spiele wollen organisiert sein) vs. Pflege der Befindlichkeiten (Mimimi)? Fehlanzeige. Schon Aristoteles (384–322 v. Chr.) war übrigens klar, daß man es mit der Demokratie – sehr zum Schaden des Gemeinwesens, übrigens – durchaus auch übertreiben kann, und hat dabei ausdrücklich zwischen Politeia und Demokratie als zwei polaren Ausprägungen der Herrschaft der Vielen unterschieden. Aber das ist ja erst zweieinhalb tausend Jahre her – und wäre im übrigen auch schon wieder ein anderes Kapitel.

Fr 12-02-21 Sich binden — oder schnell verschwinden?

Sich binden — oder schnell verschwinden?

Hier haben wir eine der vielen bekannten Stellen aus Schillers »Lied von der Glocke«. Dazu hat Bolle vor zwei Wochen schon in einer Qualitätszeitung unter der Rubrik »Unsere Empfehlung des Tages« was interessantes aufgeschnappt. In dem Bericht ging es um zwei Mädels (no offence, of course), die sich darüber beklagten, daß in ihren Leben „immer wieder ihre persönlichen Grenzen überschritten“ wurden. Im vorliegenden Fall hatten beide „freiwillig Sex“, wollten ihn sogar „unbedingt“. Dann aber, on second thought sozusagen, fiel ihnen ein, daß sie „im Nachhinein hätten Nein sagen wollen“. Bolle meint: No means now. Im Nachhinein wollen oder nicht-wollen gildet nicht – auch dann nicht, wenn man es wohltönend als „Grenzen ziehen“ deklariert. Während es also Ende des 18. Jahrhunderts noch darum ging, langfristige, in Schillers Worten „ewig“ währende Entscheidungen gründlich zu bedenken, scheint das heutzutage im Zeichen verminderter Frustrationstoleranz selbst für one night stands zu gelten.

Eigentlich könnte uns das mißglückte Liebesleben zweier enttäuschter Twens völlig egal sein. Allerdings sieht Bolle zwei mögliche, durch und durch unerfreuliche Weiterungen. Erstens könnten die beiden auf die Idee kommen, sich nachträglich sexuell belästigt oder gar vergewaltigt zu fühlen. Das zeitgenössische Strafrecht käme ihnen dabei durchaus entgegen. Schlecht  für die Männer, wenn’s hart auf hart kommt – aber vielleicht noch hinnehmbar: No risk, no fun. Was Bolle aber wirklich bedenklich stimmt: Wie steht es mit dem nachträglichen „Lieber-doch-nicht-wollen“, wenn die beiden, statt in die Kiste zu springen, im Rahmen ihrer staatsbürgerlichen Pflichten an irgendeiner Wahlurne ihre Stimme abgegeben hätten? Kann Demokratie denn Zufall sein – so wie Liebe Sünde? Das aber, da sind wir uns mit Bolle einig, ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Do 11-02-21 Hehre Helden — durch und durch …

Hehre Helden — durch und durch.

Wie wir gestern bei der Lektüre von Gabor Steingarts Morning-Briefing erfahren konnten, feierte „der wahrscheinlich größte Volksdichter unseres Landes“ seinen Geburtstag. Sagen wir so: Er hätte (seinen 123. Geburtstag übrigens) womöglich gefeiert, wenn er nicht seit bereits 65 Jahren tot wäre. Tot sein aber drückt doch mächtig auf die Feierlaune. Von solchen Restriktionen – vor denen auch die meisten Helden nicht gefeit sind – einmal abgesehen, wurde er als „Volksdichter“ gewürdigt, gar als „einer der fleißigsten Menschen, die der Literaturbetrieb hierzulande hervorgebracht hat“.

Ein Held der Literatur, also. Und? Wie steht’s um den privaten Helden? Auf der einen Seite haben wir da seine kaum verhohlene Stalin-Verehrung. Auf der anderen Seite aber wissen wir zum Beispiel auch von seiner Forderung, daß die Hälfte des Preisgeldes für den »Stalinpreis für Frieden und Verständigung zwischen den Völkern« auf ein Konto in der Schweiz (!) überwiesen werden sollte. Im wirklich privaten Bereich könnte man vielleicht sagen: Brecht war schwer gewöhnungsbedürftig. Und? Ist das jetzt schlimm? Tut das dem Heldentum Abbruch? Hier liegt die Antwort voll und ganz im Auge des Betrachters.

Ähnliches gibt es, nur zum Beispiel, von Michael Jackson zu berichten: Ein Held der Musik – im privaten Leben in den Augen mancher aber voll der Kinderschänder.

Betreten wir die politische Bühne und nehmen wir, nur zum Beispiel, George Washington, den 1. Präsidenten der Vereinigten Staaten (1789–1797). Der Mann war Sklavenhalter! Oder nehmen wir Thomas Jefferson, den 3. Präsidenten der Vereinigten Staaten (1801-1809). Der Mann hatte glatt ’ne halbe Armee an Sklaven – 600 an der Zahl. Alles Panne-Helden im Privaten?

Oder nehmen wir einen weiteren Jubilar, keinen geringeren als Martin Luther, der 1517 seine 95 Thesen rausgehauen hat, und 1520 seine 30 Thesen zur Freiheit eines Christenmenschen. Das alles nur, um kurz darauf (1525) »Wider die Mördischen und Reubischen Rotten der Bawren« zu wettern und damit den grauseligen Tod von zehntausenden von Bauern auszulösen. Oder, wiederum nur wenig später (1543), zur Versklavung oder zumindest Vertreibung der Juden aufzurufen. Nach neueren Forschungsergebnissen soll das allerdings kein „Rassismus“ und auch kein „Antisemitismus“ gewesen sein, sondern lediglich Spiegel seiner „antijudaistischen Theologie“. Bolle meint: Na, dann geht’s ja.

Oder nehmen wir Pippi Langstrumpf – die in jüngerer Zeit von interessierten Kreisen geradezu zur Emanzipations-Ikone hochgejubelt wurde – dabei aber ihren eigenen Vater „Negerkönig“ genannt hat, und sich damit privat klar als „Rassistin“ geoutet hat. Nun ist Pippi eine literarische Figur. Anders als Astrid Lindgren – die sich zeitlebens geweigert hat, einer Umfirmierung – etwa zum „Südseekönig“ – zuzustimmen. Als ob es in der Südsee „Neger“ gäbe. Doch das nur am Rande. Erst ihre Erben konnten nach zähen Verhandlungen (und wohl auch angesichts drohender Verluste aus den Lizenzeinnahmen) vom Zeitgeist weichgeklopft und veranlaßt werden, einer entsprechenden Umfirmierung zuzustimmen. Wer ist hier wahrhaft heldenhaft? Die aufrechte Autorin? Oder ihre ertragsgeneigten Epigonen? Auch das liegt wohl, wie immer, vornehmlich im Auge des Betrachters.

Kurzum: Haben wir es hier mit Huldigung des hehren Heldentums zu tun? Oder nicht doch eher mit genuinem Geschichts-Gegacker? Anders gefaßt: Stimmt da mit dem Heldentum an sich was nicht? Oder liegt das Problem nicht doch eher bei den Helden-Huldigern, die sich – ein wenig naiv vielleicht, aber bitteschön – hehre Helden höchster Huld wünschen? Das aber ist dann doch schon wieder ein anderes Kapitel.

Mi 10-02-21 Breaking News: Es schneit!

Helden 2.0.

Bolle, ist das nicht etwas unfair? Regelrechte „Breaking News“ waren das ja dann doch nicht. – Hätte aber nicht viel gefehlt. Immerhin war das auf vielen Kanälen, die sich selber als völlig seriös durchgehen lassen würden, die Hauptnachricht. Wir haben Winter. Und es schneit. Na toll! Irre interessant. Wenn wir jetzt mitten im Juli wären und ähnliche Schneeverhältnisse hätten: Das wäre eine Nachricht. So aber haben wir es hier schlicht und ergreifend mit „Null-News“ zu tun: Nachrichten, die keine sind.

Aber darum geht es auch gar nicht. Worum dann? Bolle sieht in der Berichterstattung eine Spielart der immer mehr um sich greifenden Helden-Verherrlichung. Wobei Helden auch nicht mehr das sind, was sie mal waren. Während sich ein klassischer Held damit hervorgetan hat, seinen Widersachern – Drachen zum Beispiel oder gern auch gegnerischen Truppen – den Kopf abzuschlagen, sind die heutigen Helden 2.0 durch und durch Menschenfreund. Hier wird niemandem der Kopf abgeschlagen. Im Gegenteil: Helden 2.0 zeichnen sich dadurch aus, daß sie „retten“, wo immer es irgendwie was zu retten gibt. Beispiel: Irgendein Dummkopf fährt bei widrigen Verkehrsverhältnissen mitten ins Schneetreiben auf der Autobahn. Keine Sorge: der Retter naht und befreit mit schwerem Gerät und, wenn die Presse naht, noch schwererer Geste die hilflosen (mit Verlaub) Hirnis aus ihrer mißlichen Lage – in die sie sich allerdings aus freien Stücken überhaupt erst hineinmanövriert haben. Immerhin: Damit kann man ganze Vorabend-Sendungen füllen. Wer so was für gewöhnlich nicht gucken mag wird dann eben auf die Hauptnachrichten verwiesen: Same procedure as everywhere.

Aber natürlich muß es nicht immer ein Schneetreiben sein. Tummelplätze für Helden 2.0 finden sich allerorten. Da erklärt zum Beispiel ein ehemaliges It-Girl (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course), dem es aktuell an Aufmerksamkeit zu gebrechen scheint, welch schwere Kindheit es seinerzeit doch gehabt habe – vor gefühlt hundert Jahren, also. Statt aber einfach zu sagen: „Shut up, baby, Du bist mit Deinem Heldenmut locker ’n paar Jahrzehnte zu spät dran. Der Drache ist längst tot. Komm damit klar. Im übrigen gibt es in zivilisierten Gesellschaften aus sehr, sehr guten Gründen so was wie Verjährung“ – erfahren wir, wie mutig, ja wie „heldenhaft“ es doch sei, nach so vielen Jahrzehnten endlich die sprichwörtliche Scheiße wieder aufzuwühlen. Bolle meint: Wahre Helden handeln jetzt – und nicht aus der sicheren Deckung mehrerer vergangener Jahrzehnte heraus. Man könnte auch sagen: Manche der modernen Helden 2.0 ziehen sich ihre Drachen aus dem Hut wie sonst nur der Magier die Kaninchen.

Kurzum: Es ist nicht alles Held, was glänzt – bzw. auch nur versucht, den eigenen Glanz nachträglich ein wenig aufzupolieren. Aber wenn’s doch so im TV kommt? Nun, das sagt mehr über das TV aus als über den Heldenmut der Helden. Im übrigen wäre das dann auch schon wieder ein anderes Kapitel.

Di 09-02-21 Wenn Corönchen kapitalistisch wäre …

Wintergarten. Besten Dank an Mü für die Zusendung.

Bolle ist verwirrt. Da hämmert man uns – zumindest im Westen – jahrzehntelang ein, daß der Markt die geniale Antwort der klassischen Ökonomen auf die allgegenwärtige Knappheit sei.  Manche gehen dabei sogar so weit zu erklären, daß „der Markt“ in der Tat jegliche Knappheit beseitigt – und zwar restlos. Und das nicht etwa erst in ferner Zukunft – wie man sich das in östlicheren Gefilden des Landes von fortgesetzter Planübererfüllung erhofft hatte – sondern hier und heute, jeden Tag. Die Logik geht in etwa wie folgt: (1) Begrenzte Produktionskapazitäten stoßen auf potentiell unbegrenzte materielle Bedürfnisse. (2) Folglich kann nicht jeder (beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) alles haben, was er gerne hätte. (3) Demnach brauchen wir einen Verteilungsmechanismus, der regelt, wer welche „knappen Güter“ kriegt und wer leer ausgehen muß. Die Lösung der klassischen Ökonomen ist ebenso verblüffend einfach wie naiv: „Der Markt“ – präziser gesagt: die Freie Marksteuerung, vulgo „der Kapitalismus“ – setzt die Preise solange hoch, bis einem Großteil der Nachfrager die Freude an der Nachfrage vergeht. Wenn also einer gerne einen schicken Lamborghini hätte – oder auch nur eine „bezahlbare“ Wohnung da, wo seine Eltern und Großeltern schon gewohnt haben – dann läßt sich seine „Haben-wollen-Intensität“ ganz einfach an seiner Bereitschaft messen, den Kaufpreis bzw. die Monatsmiete auf den Tisch zu blättern. Und wer nicht will, der hat offenbar schon. Und falls einer doch mehr Bedürfnisse haben sollte als er sich leisten kann: Nun – es steht jedermann frei, sich anzustrengen und seine Einkünfte entsprechend zu steigern. It’s a free country after all. Die Logik ist in der Tat bestechend – kommt dabei aber, wie gesagt, nicht ohne ein gerüttelt Maß an Naivität bzw. gar Lebensferne aus. Und doch ist genau das die auf den Kern runtergebrochene kapitalistische Markt-Logik. Komplizierter ist es an dieser Stelle wirklich nicht.

Was hat das alles mit Corönchen zu tun? Nun, wenn Corönchen konsequent kapitalistisch wäre, dann würden diejenigen das kriegen, was sie unbedingt haben wollen – in diesem Falle also den „rettenden Impfstoff“ – die bereit sind, die meiste Knete auf den Tisch zu blättern. Ihre überdurchschnittliche „Zahlungsbereitschaft“ ist nach dieser Logik nämlich nichts anderes als der Spiegel des überdurchschnittlichen „Nutzens“, den das Vakzin bei ihnen zu stiften vermag. Bilderbuch-Ökonomen sprechen hier auch gerne von „optimaler Ressourcen-Allokation“ – und in gewisser Weise haben sie sogar Recht.

Kurzum: Die kapitalistische Logik befreit uns von allen Nöten. Wer (am meisten) zahlt, hat Recht. Wer nicht bereit ist, (am meisten) zu zahlen, dem scheint die Sache nicht so wichtig zu sein. Und wer zwar bereit wäre, aber schlechterdings nicht in der Lage ist, (am meisten) zu zahlen, der mag sich demnächst halt mehr anstrengen und folglich auch mehr verdienen. Dann wird das schon.

Wenn wir dieser „kapitalistischen“ Logik nicht folgen wollen – und offenbar sind sich die Entscheidungsträger im Lande in diesem Punkt zur Zeit einig – dann brauchen wir einen anderen Mechanismus, der (übermäßige) Nachfrage mit (dem sehr viel knapperen) Angebot in Einklang bringt. Einen solchen Mechanismus gibt es in der Tat: Wir nennen es »Triage«: triager bedeutet in der militärischen Fachsprache ›auswählen‹ – und zwar wiederum nach einer Optimierungsregel – hier also den bestmöglichen Nutzen (möglichst viele „retten“) bei realisierbarem Aufwand (die Zahl der Rettungssanitäter ist regelmäßig begrenzt) zu erzielen.

Beiden Mechanismen – Marktsteuerung und Triage – liegt also ein Optimierungskalkül zugrunde. Der Unterschied: Während sich bei der Marktsteuerung die „Abgehängten“ sozusagen „selber triagieren“, muß bei der eigentlichen Triage ein Arzt, ein Pfleger, ein Sanitäter, oder wer auch immer, die Entscheidung treffen. Und das tut weh – vor allem, wenn man solche Entscheidungen (buchstäblich „auf Leben und Tod“) nicht zu treffen gewohnt ist.

Das war’s dann aber auch schon. Dumm nur, wenn man dabei auf potentiell „Abgehängte“ trifft, die von all dem nichts wissen wollen, und in völliger Ignoranz der Mangellage ihr individuelles Recht auf Weiterexistenz lautstark einfordern – und dabei womöglich auch noch massenmediale Unterstützung erfahren. Auf diese Weise geraten wir aber unversehens in die Abteilung „unlösbare Probleme“. Mit unlösbaren Problemen soll man sich aber möglichst nicht weiter befassen. Im übrigen wäre das dann auch schon wieder ein anderes Kapitel.

Mo 08-02-21 Die arrogante Ignoranz der Mächtigen …

Lili Marleen — still going strong.

»Ignoranz« leitet sich ab von lat. ignorare ›nicht wissen, nicht wissen wollen‹. Ein Phänomen, das unter den Mächtigen dieser Welt weit verbreitet ist. Und das leuchtet ja auch ein. Je mehr einer weiß, oder gar wissen will, desto mehr lähmt das die Entscheidungsfindung. Gelehrtenrepubliken jeglicher Art (von Friedrich Gottlieb Klopstock 1774 bis Arno Schmidt 1957) gelten nach wie vor als utopisch und vor allem als dysfunktional. Praktikabler scheint Bolle da das klassische Macher-Motto: Avanti dilettanti. Vulgo: wird schon – kieken wa ma. Kurzum: übertriebene Reflektion stört die Macher nur beim Machen. Untertriebene Reflektion dagegen führt oft zum Verlust jeglichen Gefühles für das Suject – und lockt damit potentiell den „Volkszorn“ an wie die Motten das Licht. Damit wären wir bei Arroganz. Das immer gleiche Ende vom Lied: à la lanterne. Nicht, daß Bolle das befürworten würde: Bolle gönnt allen ein langes, glückliches und erfülltes Leben (vgl. dazu auch Do 04-02-21 Höret auf den Herrn …). Auch muß man heute keinen mehr aufhängen oder sonstwie vom Leben zum Tode befördern.  Erstens wäre das – zumindest zur Zeit – sowieso voll verfassungswidrig (Art. 102 GG: Die Todesstrafe ist abgeschafft) – und zweitens reicht es in aller Regel ja völlig aus, jemandem zum Beispiel die Scheckkarte zu sperren. Gleichwohl: der Krug geht zum Brunnen, bis er bricht. Immer, immer wieder …

Was hat das mit uns zu tun? Bolle hat gestern erst erfahren, daß die Spätis (auswärts: Kioske, Büdchen, etc. pp.) in manchen Bezirken in Berlin sonntags nicht mehr sollen öffnen dürfen – und fragt sich, wem zum Teufel das denn possibly nützen soll? Den Späti-Betreibern sicherlich nicht. Der verpeilten Kundschaft vielleicht – auf das sie lernen möge, sich sonnabends schon mit dem Wochenend-Bedarf einzudecken? Möglich, aber unwahrscheinlich. Was dann? Wir wissen es nicht. Auch wird die Maßnahme nicht einmal mit Corönchen begründet – das wäre auch zu albern. Vielmehr wurde hier das Berliner Ladenöffnungsgesetz von 2006 aus irgendeiner Schublade hervorgekramt – ein Gesetz, von dem bislang niemand, wirklich niemand in der Stadt jemals irgendwas gehört hat.

Aber vielleicht ist Corönchen ja in der Tat nur die Hintergrundfolie für ein Spiel namens „Kieken wa ma, was geht“ – bevor das Volk richtig schlechte Laune kriegt. Wie gesagt: Der Krug geht zum Brunnen, bis er bricht. Aber das ist dann letztlich doch schon wieder ein anderes Kapitel.