Di 05-01-21 Gleichzeitig zeitgleichig?

Gleichzeitige Zeitgleichigkeit?

Hier ein kleiner Beitrag zum allgegenwärtigen sprachlichen Sondermüll. Eine einzelne Quelle zu isolieren macht an dieser Stelle wenig Sinn. Die Konfusion hat mittlerweile „viral“ – wie es neudeutsch so schön heißt – um sich gegriffen. Fassen wir uns kurz.

»Gleichzeitigkeit« bedeutet, daß zwei Ereignisse zum gleichen Zeitpunkt stattfinden oder stattgefunden haben. »Zeitgleichigkeit« dagegen bedeutet, daß zwei Ereignisse den gleichen Zeitraum – das ist der Abstand zwischen zwei Zeitpunkten – in Anspruch genommen haben. Wenn also zum Beispiel zwei Sportler eine Minute zeitversetzt starten und dabei exaktemente die gleiche Zeit brauchen, um ins Ziel zu kommen, dann ist das zeitgleich. Allerdings kommen sie dabei nicht gleichzeitig ins Ziel – sondern eben eine Minute zeitversetzt. Kämen sie gleichzeitig ins Ziel, dann wäre der später gestartete Sportler eine Minute schneller gewesen – und eben nicht „zeitgleich“. Nun könnte man sagen: Haben wir denn sonst keine Probleme? Oder, sachlicher: Sprache entwickelt sich eben. Was Bolle indes Sorgen macht, ist der Unterschied zwischen „anders und anders“ (Variabilität) einerseits und „präziser vs. schlampiger“ (Qualität) andererseits. Wenn es nun aber auf der formalen Ebene überhaupt einen Unterschied macht, der einen Unterschied macht (Gregory Bateson 1985), dann ist es der zwischen Variabilität und Qualität: „anders“ geht, wenn’s denn sein muß, noch in Ordnung – „let them have their fun“ –, „schlampiger“ mitnichten. Und wenn etwas auf der inhaltlichen Ebene einen Unterschied macht, der einen Unterschied macht, dann ist es der zwischen Zeitpunkten und Zeiträumen. Wir sollten das tunlichst nicht konfundieren. Und falls doch, dann sollten wir uns zumindest nicht wundern, wenn das aufgeschlossenere Schichten nicht mehr so recht ernst nehmen können und werden. Alors, journaille de la Patrie. Ihr habt diesen Unsinn in die Welt gesetzt und „viral“ gemacht. Zeit für eine „Wende“ – noch so ein Wortwitz, übrigens. Bolle indes meint das ganz im kanonischen Sinne: 180 Grad zurück marsch, marsch! In seiner Peinlichkeit nämlich steht jeder – ähnlich wie im Tode – ganz für sich allein. Aber das ist dann schon wieder ein anderes Kapitel.

So 03-01-21 Step by step …

Step by step …

Heute wollen wir uns in aller Kürze einem britischen Klassiker zuwenden. Das Sprichwort ist so was von klassisch, daß man es heute nicht mal mehr bei Google finden kann –  wenn wir von einem einzigen vereinzelten Eintrag, der überdies zu nichts weiter führt, einmal absehen wollen. Wie kann das sein? Wir wissen es nicht.

In der Entwurfsfassung des Art. 2 I GG heißt es sinngemäß: Jeder kann tun und lassen, was er will, solange er die Rechte anderer nicht verletzt …  Das klingt doch wirklich freiheitlich. „Die Rechte anderer …“ – da liegt natürlich der Hase im Pfeffer. Wenn man nämlich eines der „Rechte anderer“, namentlich das Recht auf Leben (Art. 2 II GG), über alles stellt und jede mögliche Gefährdung (nicht etwa Verletzung), und sei sie noch so abstrakt und noch so mittelbar, absolut setzt, dann sieht es mit dem Recht, zu tun und zu lassen, was man will, denknotwendig ziemlich finster aus. Kurzum: Das Grundrecht läuft hohl.

So kann es kommen, daß folgendes passiert: Junge Leute feiern in der Bretagne eine Silvesterparty – unter weniger widrigen Umständen das normalste der Welt – und finden sich nach Ansicht einer Sprecherin des französischen Innenministeriums unversehens und allen Ernstes in der Kategorie „Straftäter“ wieder. Warum? „Weil sie die Regeln mißachten“. In entspannteren Zeiten mußte man, falls Bolle sich recht erinnert, sehr viel schwerere Geschütze auffahren als nur eine Silvesterparty zu feiern, um als „Straftäter“ zu enden. Aber genau so funktioniert „step by step“. Und keiner hat’s gemerkt. Auch versteht Bolle nicht, wieso unter diesen Umständen zum Beispiel Autofahren immer noch erlaubt sein soll. So richtig einleuchtend findet er das nicht. Aber das ist wohl ein anderes Kapitel.

So 27-12-20 Oh Zeiten, oh Sitten!

Vossische Zeitung vom 28. Juni 1914, am Vorabend des 1. Weltkrieges.

Hier das in den Medienwissenschaften immer wieder gerne herangezogene, geradezu „klassische“ Beispiel dafür, wie man es nicht machen soll. Für diejenigen unter uns, die sich mit Frakturschrift schwertun, hier zunächst die Übertragung in Antiqua:

Sarajewo, 28. Juni (Telegramm unseres Korrespondenten). Als der Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin, die Herzogin von Hohenberg, sich heute vormittag zum Empfange in das hiesige Rathaus begaben, wurde gegen das erzherzogliche Automobil eine Bombe geschleudert, die jedoch explodierte, als das Automobil des Thronfolgers die Stelle bereits passiert hatte. In dem darauffolgenden Wagen wurden der Major Graf Boos-Waldeck von der Militärkanzlei des Thronfolgers und Oberstleutnant Merizzi, der Personaladjudant des Landeshauptmanns von Bosnien, erheblich verwundet. Sechs Personen aus dem Publikum wurden schwer verletzt. Die Bombe war von einem Typographen namens Cabrinowitsch geschleudert worden. Der Täter wurde sofort verhaftet. Nach dem festlichen Empfang im Rathause setzte das Thronfolgerpaar die Rundfahrt durch die Straßen der Stadt fort. Unweit des Regierungsgebäudes schoß ein Gymnasiast der achten Klasse (Primaner) namens Princip aus Grabow aus einem Browning mehrere Schüsse gegen das Thronfolgerpaar ab. Der Erzherzog wurde im Gesicht, die Herzogin im Unterleib getroffen. Beide verschieden, kurz nachdem sie in den Regierungskonak gebracht worden waren, an den erlittenen Wunden. Auch der zweite Attentäter wurde verhaftet. Die erbitterte Menge hat die beiden Attentäter nahezu gelyncht.

Was war passiert? Das österreichische Thronfolgerpaar wurde erschossen. Das ist die Nachricht. Wider alle Regeln der Kunst erfährt man das beiläufig gegen Ende des Beitrages.

Was hat das mit uns zu tun? Nun — in diesen Weihnachtstagen, die ja eigentlich besinnlicher Natur sein sollten, hat die Presse augenscheinlich nichts besseres zu tun, als von einem „Wohnmobil“ zu berichten, das in Nashville, Tennessee, als Autobombe benutzt wurde. Was bitteschön, hat das mit „Wohnmobil“ zu tun? Oder damit, daß Nashville auch „Music City“ genannt wird? Hier die Nachricht, wie Bolle sie sich wünschen würde:

In Nashville, Tennessee, ist am Morgen des 25. Dezember eine Autobombe explodiert. Dabei haben die Täter Vorkehrungen getroffen, daß möglichst niemand zu Schaden kommt. Neben erheblichem Sachschaden ist weiter nichts passiert. Das Motiv ist noch unklar. Das FBI ermittelt.

Das wär’s gewesen. Ende der Durchsage. Frohe Weihnachten – und den Menschen auf Erden ein Wohlgefallen. Könnte es nicht sein, daß die Lust an der Sensation die Liebe zur Sachlichkeit bei weitem übersteigt? Aber das ist wohl schon wieder ein anderes Kapitel.

Fr 25-12-20 Breaking News

Breaking news …

Da guckt man nachmittags zur mentalen Einstimmung auf den Heiligen Abend gemütlich eine Weihnachtskomödie (hier: Weihnachten … ohne mich mein Schatz // D 2011 // mit Henry Hübchen und Jutta Speidel) – und dann so was. Mitten in der laufenden Sendung kriecht ein Text durchs Bild, um, wie hier im Beispiel, Belanglosigkeiten zu verkünden. „Monster-Meteor kollidiert in zwei Stunden mit der Erde“ würde Bolle ja noch halbwegs einleuchten. Obwohl: wissend, daß zwei Stunden später der Erde letztes Stündlein schlagen wird, würde Bolle gleichwohl getrost den Film zu Ende gucken wollen. Was denn sonst? Beten vielleicht? Also wieder nichts mit „breaking news“.

Also, was soll das? Soll das jetzt romantische Ironie sein? Brecht’scher Verfremdungseffekt?  Oder derangiert hier Turbo-Journalismus zum Selbstzweck? Bolles Gegengift: Journalisten aller Länder, entschleunigt Euch. Die Nachrichten laufen Euch nicht weg. Die Zuschauer wahrscheinlich auch nicht. Aber das ist schon wieder ein anderes Kapitel.

Di 22-12-20 Das zweiundzwanzigste Türchen …

Hier das 22. virtuelle Türchen …

So, das mußte noch raus. Weniger, weil bald Weihnachten ist, sondern eher, weil das alte Jahr zuende geht. Und nächstes Jahr soll ja schließlich alles besser werden. Dabei wäre es wohl nicht der schlechteste Ansatz, wenn sich die schreibende Zunft wieder deutlicher bewußt machen würde, daß sie letztlich „irgendwas mit Medien“ zu tun hat. Ein »Medium« aber sollte schon von der Wortbedeutung her ein ›Vermittler, in der Mitte stehendes‹ sein. In der Mitte zwischen was? Dem, was ist, und dem, der es erfahren möchte. Rudolf Augstein hat das seinerzeit zeitlos klassisch gefaßt: „Schreiben, was ist.“ Punctum. Das ist indessen lange her. Medium sein heißt nicht, dem Leser bzw. Zuhörer oder Zuschauer (jeweils beider- bzw. allerlei Geschlechts, of course) die eigene geschätzte Befindlichkeit zu vermitteln. Kurzum: »vermitteln« ist ein Teekesselchen der tückischen Art. Es steht für (1) ›rüberbringen, was in der Welt los ist‹, oder aber (2) ›rüberbringen, was mit mir los ist‹. Beides hat – bei höchster Verwechslungsgefahr – wenig miteinander zu tun. Nachdem das geklärt ist, noch ein Letztes: „Schreiben, was ist“ bedeutet nicht: „Alles schreiben, was ist“. Es besteht keine Notwendigkeit, jeden Pupser, den einer, etwa auf Twitter, abläßt, massenmedial zu verstärken. In Bolles Jurastudium nannte man das treffend „Weglaß-Technik“: Der Bedeutung von Banalitäten wird man als Vermittler am besten dadurch gerecht, daß man sie gar nicht erst erwähnt. Aber das ist schon „höhere Schule“ und damit auch ein anderes Kapitel.

Mo 09-11-20 Seid umschlungen Millionen!

Seid umschlungen Millionen!

Bevor wir loslegen: Wo auf dieser Skala würden Sie „1 Mio“ einzeichnen? Probieren Sie es in erster Näherung „gefühlt“ bzw. „spontan“. Rechnen kann jeder. Na ja – fast (no offence). Warum ist „gefühlt“ wichtig? Weil die Meinungsmacher dieser Welt offenbar auch nicht anders vorgehen – wie das folgende Beispiel, einmal mehr, illustrieren mag.

Die Zinspolitik der EZB hat Auswirkungen auf die Rentner im Land. Laut Regierungsbericht muss die Deutsche Rentenversicherung bis 2022 rund 230 Millionen Euro an Negativzinsen zahlen. Die Kollegen vom Hauptstadt-Team wissen mehr. Ihre ausführlichen Informationen finden Sie unter […].

Gefunden in Garbor Steingarts heutigem Morning-Briefing. Bolle hat nachgerechnet: 230 Mio bei 20 Mio Rentnern macht 11,50 Euro pro Rentner. Verteilt auf 3 Jahre („bis 2022“, gemeint ist bei solchen Angaben meist „einschließlich“) macht das 3,80 Euro pro Rentner pro Jahr bzw. stattliche 32 Cent (!) pro Rentner pro Monat. Zugegeben: Die Renten sind deprimierend dürftig. Aber 32 Cent als erwähnenswerte „Auswirkungen“ zu bezeichnen scheint Bolle dann doch ein wenig überzogen. Kann das noch als „Facts“ durchgehen? Oder haben wir es nicht doch eher schon mit „Fakes“ zu tun? Bolle tippt auf letzteres.

Was Bolle wirklich ein wenig bekümmert: Wir haben es hier mit „gefühlten Fakes“ zu tun. Es ist ja (hoffentlich) wohl nicht so, daß „die Kollegen vom Hauptstadt-Team“ solche Meldungen raushauen, um ihre Leserschaft zu veräppeln. Ein Begriff wie „Lügenpresse“ wäre demnach also durchaus unangebracht. Lügen kann man nur absichtlich bzw., fachsprachlich ausgedrückt, vorsätzlich. Bolle schlägt daher den Begriff „Hypno-Presse“ vor. Die dahinterliegende „Finderegel“ (vornehm: „Heuristik“) stellt sich Bolle in etwa wie folgt vor: (1) Negativzinsen: doof, weil paßt nicht ins kapitalistische Weltbild. (2) Rentner: schützenswert (bzw. neudeutsch seit Corönchen: „vulnerable Gruppe“). Und schon wird im Rahmen eines kognitiven Überschwanges aus der „Zinspolitik der EZB“ ein Angriff – zumindest aber „Auswirkungen“ – auf „die Rentner im Land“. Daß das ganze rechnerisch nicht haltbar ist, spielt dabei „gefühlt“ keine Rolle.

Was tun, sprach Zeus? Vielleicht sollte man, wenn man sich schon zum Meinungsmacher berufen fühlt, gelegentlich mehr nachdenken oder gar nachrechnen – und nicht jedem kognitiven Überschwange erliegen. Damit wäre schon viel erreicht, meint Bolle.

Abschließend noch die Auflösung unseres „gefühlten“ Rätsels von oben: Eine Million ist ein Tausendstel von 1 Milliarde. Damit liegt die Million auf der Skala praktisch an der gleichen Stelle wie die Null. Der Abstand zur Null beträgt weniger als die Strichstärke eines sehr feinen Schreibwerkzeuges (die dünnste Strichstärke nach ISO 9175 beträgt 0,13 mm). Wer hätte das gedacht? Kurzum: Bolle kann sich die einschlägige Textstelle allenfalls mit einer „Mio / Mrd“-Konfusion erklären. Im übrigen zieht sich Bolle ab heute in seine agnostische Weihnachtsmupfel zurück und meditiert. Aber das ist ein anderes Kapitel.

So 06-09-20 Laber Rhabarber

Deutlich denken.

›Labern‹ heißt laut Kluges Etymologischem Wörterbuch ›dummes Zeug reden‹. ›Rhabarber‹ wiederum leitet sich ab von gr. bárbaros ›fremdländisch‹. Darf man Menschen, oder auch nur Pflanzen, als „Barbaren“ bezeichnen, nur weil sie ursprünglich nicht von hier sind? Oder ist das schon „Rassismus“ bzw. zumindest Fremdenfeindlichkeit? Und das von den Griechen – der Wiege der europäischen Kultur. Bolle meint: Geht’s noch? Aber das ist ein anderes Kapitel. Hier und heute soll es uns um zeitgenössische Formen von Sprachmüll gehen – das Gender-Sprech. Im wesentlichen taucht es in gleich vier Varianten auf: (1) der Doppelnennung, (2) dem Binnen-I nebst seiner Derivate, (3) der Verlaufsform sowie neuerdings (4) dem Hack-Sprech.

Bei der Doppelnennung finden sich die Laberer und Labererinnen, die Bürger und Bürgerinnen, die Verschwörungstheoretiker und -theoretikerinnen und auch die Kunden und Kundinnen. Allerdings ist hier noch eine Steigerung möglich, wie zum Beispiel die Kundenkarte und die Kundinnenkarte. Alles schon dagewesen.

Beim Binnen-I – das ist fast schon klassisch – haben wir es mit LabererInnen bzw. Laberer*innen oder auch Laberer_innen und vielem mehr zu tun.

Besonders hübsch ist die grammatikalisch durch nichts gerechtfertigte Verlaufsform (Partizip Präsens): Hier werden aus Laberern und Labererinnen die Labernden. Immerhin ist das sprachlich schon mal ein wenig abgespeckt. Gleichwohl bleiben Bedenken: Die Labernden liegen in der Gosse und kotzen. Also kotzen die Labernden. Oder, um die Verlaufsform zu wahren: Die Labernden sind Kotzende. Oder verhält es sich womöglich genau umgekehrt? Die Kotzenden sind Labernde? Schwierig, beim Kotzen zu Labern. Für etwaige Studierende gilt nichts anderes. Auch studieren gestaltet sich beim kotzen schwierig. Allein die „Bürgernden“ müssen hier leider draußen bleiben. Bolle fragt sich: Warum darf man labernd sein, studierend, und auch kotzend – aber nicht bürgernd? Bei Lichte betrachtet ist das wirklich zurücksetzend und ungerecht. Aber auch das ist ein anderes Kapitel.

Die jüngste Entwicklung im Reigen ist das Hack-Sprech. Hack-Sprech ist die vordergründig gelungene akustische Visualisierung des Binnen-I’s: Die Laberer (Sprechpause …) innen. Die Kund (Sprechpause …) innenkarte. Oder muß es gar heißen: Die Kunden (Sprechpause …) innenkarte? Der Gebrauch von Hack-Sprech bedarf (im Vergleich zu seinem Vorbild aus der Schriftsprache, dem Binnen-I) vermutlich eines noch deutlich höheren Maßes an Chuzpe und auch Sprachverwirrung, so man es seinen Zuhörern zuzumuten gedenkt. Kann das noch als Sprachentwicklung durchgehen? Oder ist das, wie Bolle meint, einfach nur noch gaga?

Babylon (Gen 11, 1-9) – nomen est omen, by the way – war da jedenfalls ’ne Lachnummer gegen. Wie heißt es in der Bibel? „Wohlauf, lasset uns herniederfahren und ihre Sprache daselbst verwirren, daß keiner des anderen Sprache verstehe!“ (Gen 11, 7). Mag sein, daß es dem Herrn (vermutlich beiderlei Geschlechts) seinerzeit an Phantasie oder doch zumindest an Entschlossenheit gemangelt hat. Wozu sich verschiedenste Sprachen ausdenken, wenn man den gleichen Effekt – gründliche Sprachverwirrung, auf daß „keiner des anderen Sprache verstehe“ – mit nur einer einzigen Sprache ebenso gut erreichen kann?

Hat das ganze wenigstens einen guten Kern? Gibt es ein nachvollziehbares Motiv? Natürlich, das schon. Offenbar sollen die Leser bzw. die Zuhörer (beiderlei Geschlechts) spätestens in jedem zweiten oder dritten Satz darauf hingewiesen werden, daß es auch Frauen gibt auf der Welt. Oder muß es heißen: die Lesenden bzw. die Zuhörenden, oder, oder (siehe oben)? Wenn das das Motiv sein soll, so ist es zumindest gut gemeint – wenn auch etwas trivial. Schon in der Bibel heißt es nämlich, und zwar ziemlich gleich am Anfang: „Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib.“ (Gen 1, 27).

Kurzum: Es gibt, wie die Bibel das nennt, „Weiber“. Das wissen wir – und falls nicht, wäre ohnehin Hopfen und Malz verloren. In dem Fall dürfte auch die penetranteste Wiederholung wenig Wirkung zeigen. Auch wußten wir das schon immer – zumindest die bibelfesten unter uns. Unnötig also, das in jedem zweiten oder dritten Satz ausdrücklich zu erwähnen – zumal es doch oft sehr zu Lasten der eigentlichen Inhalte geht. In der Nachrichtentechnik nennt man so etwas übrigens „Rauschen“ (Daten ohne Informationsgehalt). Technikern gilt Rauschen sehr zu recht als äußerst störend und gehört nach Kräften minimiert bzw. idealerweise abgeschafft. Anders formuliert: Wenn das technische Rauschen so mancher Nachrichtensendung oder Talk-Show ebenso hoch wäre wie das inhaltliche Rauschen: Kein Mensch würde sich das antun wollen. Tatsächlich verhält es sich eher umgekehrt: Trotz brillanter technischer Übertragungsqualität (Null Rauschen) finden sich immer weniger, die sich das inhaltliche Rauschen weiterhin antun wollen. Unter Bolles Studenten (beiderlei Geschlechts) jedenfalls findet sich kaum noch einer. Dann doch lieber Rezo auf YouTube.

Aber bleiben wir konstruktiv: Wenn wir schon nicht darauf verzichten können oder wollen, den Leser oder gar den Hörer völlig themenunabhängig penetrant darauf hinzuweisen, daß es auch Frauen gibt auf der Welt, dann würde es völlig ausreichen, gelegentlich (und nicht etwa in jedem zweiten oder dritten Satz) ein „beiderlei Geschlechts“ einzustreuen – tunlichst in Klammern. Also in etwa: „Die Studenten (beiderlei Geschlechts) liegen in der Gosse und kotzen. Also kotzen die Studenten gerade.“ So macht das Sinn, zumindest mehr Sinn – und sollte eigentlich auch die genderbewegten bzw. die weniger bibelfesten unter uns zufriedenstellen. Auch wäre damit Schluß mit der immer noch üblichen und durch nichts zu rechtfertigenden permanenten Zurücksetzung von Frauen. Regelmäßig werden sie nämlich erst an zweiter Stelle erwähnt („Laberer und Labererinnen“, statt umgekehrt). Bolle findet das voll ungerecht. Schließlich würde der Vorschlag auch für die gesprochene Sprache taugen. Statt „beiderlei Geschlechts“ in Klammern könnte man gelegentlich (!) „beiderlei Geschlechts“ in sozusagen „akustische Klammern“ setzen – etwa mit tonloser, tieferer, meinetwegen auch mit bedeutungsschwanger gesenkter Stimme. Gerne, je nach Zielgruppe, auch mit ironischem Unterton (beiderlei Geschlechts, of course …). Auf keinen Fall aber sollten wir hier übertreiben. Übertreibung nämlich ruiniert die schönste Rhetorik. Und das wäre doch schade – falls man wirklich was zu sagen hat. Halten wir es mit Cato dem Älteren, der sein ceterum censeo stets wohldosiert plaziert hat – nämlich so, daß aus den Zuhörenden keine Kotzenden wurden. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Fr 04-09-20 Die Recken des Rechtsstaates

Leonardo.

Fall Nawalny befeuert Debatte über Gaspipeline Nord Stream 2

So die Schlagzeile der Welt von heute. Endlich kommen wir der Sache näher. Bolle fragt sich schon seit Wochen: Wo bitte ist das Motiv? Wen oder was haben wir am Start?

Zunächst einmal Herrn Nawalny – einen eher unbedeutenden Provinz-Oppositionellen, der in Deutschland wohl ohne weiteres an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern würde, und den hier keiner kennen würde, wenn er von der hiesigen Presse nicht hartnäckig als aufrechter Putin-Antipode hochgejazzt würde.

Dann, zum zweiten, North-Stream-Zwo – eine fast fertiggestellte Gasleitung, die Europa von umweltschädlichem amerikanischem Fracking-Gas unabhängiger machen würde und von der EU einhellig begrüßt wird.

Einhellig begrüßt? Von der gesamten EU? Natürlich nicht. Das wäre ungefähr so wahrscheinlich wie eine nackte Jungfrau im winterlichen Sommerbad bei Vollmond im Regen. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Soll man solche Leute vergiften? Natürlich nicht.

Die interessantere Frage, die sich jeder Kommissar in jedem Tatort stellen würde: Cui bono? Wem nützt es? Hat Rußland oder – wie es hierzulande ja meist umschrieben wird – „Putin“ irgendein nachvollziehbares Motiv, den Mann zu vergiften? Eben nicht.

Wer dann? Das sei der Vorstellungskraft des geneigten Lesers anheimgestellt. Bolle hält sich da raus. Putin jedenfalls kommt für ihn eher nicht in die engere Wahl.

In einer kanonisierten Konfusionsmatrix – und genau darum geht es hier – gibt es immer genau zwei Dimensionen: (1) Jemand hält etwas für wahr (true) – oder eben nicht (false). (2) Etwas ist tatsächlich wahr (pos) – oder eben nicht (neg). Daraus ergeben sich genau vier Kombinationsmöglichkeiten: true/pos, true/neg, false/pos sowie false/neg. Bei zwei dieser vier Möglichkeiten, true/pos und false/neg, paßt die Einschätzung zu den Gegebenheiten – ist also konsistent. In den anderen beiden Fällen, true/neg bzw. false/pos, ist das nicht der Fall – die Einschätzung ist also fehlerhaft. Dabei können wir eine true/neg-Einschätzung ohne weiteres mit „Verschwörungsopfer“ umschreiben – jemand glaubt etwas (true), das definitiv nicht der Fall ist (neg). Den umgekehrten Fall – jemand glaubt etwas nicht, obwohl es definitiv der Fall ist (false/pos), wollen wir fortan mit „Verblödungsopfer“ umschreiben.

Ob nun jemand mit seiner Einschätzung richtig liegt, true/pos bzw. false/neg, oder ob seine Einschätzung fehlerhaft ist, true/neg bzw. false/pos, läßt sich naturgemäß erst dann und nur dann entscheiden, wenn wir die objektive Wahrheit kennen. Bis dahin bleiben alle Möglichkeiten offen: Man kann mit seiner Einschätzung richtig liegen (Konsistenz), man kann aber auch ein Verschwörungsopfer sein bzw. – und diese Möglichkeit wollen wir nicht unterschätzen – ein Verblödungsopfer.

Interessant an dieser Stelle ist allein die Verve und Beharrlichkeit, mit der potentielle Verblödungsopfer diese (rein statistisch nicht von der Hand zu weisende) Möglichkeit von sich weisen – und zwar so sehr, daß es bislang anscheinend nicht einmal einen Begriff dafür gab. Oder halten sich die Meinungsmacher für unfehlbar? Das stünde ihnen nach allem nicht gut zu Gesicht. Aber auch das ist ein anderes Kapitel.

Bei aller Liebe zur Aufarbeitung: Wenn Geheimdienste ihre Finger im Spiel haben, ist es mit der Feststellung der objektiven Wahrheit, pos bzw. neg (als Voraussetzung für eine qualifizierte Einordnung im Wahrheitsraum, siehe oben), so eine Sache. Genau genommen ist es ein Ding der Unmöglichkeit. Geheimdienste arbeiten nun mal vorzugsweise im Geheimen – und alles andere als „transparent“. Man mag das beklagen – ändern können wird man es nicht.

Wir sind also auf den Ausgangspunkt zurückgeworfen: Wer hatte (1) die Fähigkeit zur Tat, (2) die Gelegenheit zur Tat, (3) ein Motiv für die Tat? Bei (1) und (2) kommt jeder Geheimdienst jedes halbwegs entwickelten Landes infrage. Verschwörungsopfer, wer’s glaubt? Oder Verblödungsopfer, wer’s nicht glauben mag? Auch hier gilt: Wir wissen es nicht.

Um so erstaunlicher das allgemeine Putin-Bashing, von der Kanzlerin über die übliche Politprominenz, die „Qualitäts-Medien“ bis hin in die hinterste Redaktionsstube. Selbst die NATO fühlt sich gefordert. Rechtsstaatlichen „Mindest-Standards“ dürfte das eher nicht genügen. Im Gegenteil: Hier wird munter drauflos gedroschen: Behauptung statt Beleg oder gar Beweis – bis hin zu der geradezu abenteuerlichen Idee, daß der mutmaßliche Täter, Putin, „kooperieren“ und doch bitteschön seine Unschuld beweisen möge. Prädikat: Gruselig, Ihr Recken des Rechtsstaates. Werft lieber mal einen Blick in das StGB und die StPO. Die sind zwar hier nicht einschlägig – erhellen aber gleichwohl die rechtsstaatlichen Grundsätze.

Daß sich Geheimdienste überhaupt hin und wieder veranlaßt sehen, einzelne Personen aus dem Weg zu räumen (zu „liquidieren“, wie es im internen Jargon vornehm heißt) mag man beklagen – will es doch so rein gar nicht in such a wonderful world (Satchmo) passen. Trösten wir uns mit Mr. Spock: Logic clearly dictates that the needs of the many outweigh the needs of the few. Was aber unter dem „Wohl der vielen“ zu verstehen ist, entscheiden wiederum die Geheimdienste – bzw. deren Regierungen. Auch hat das nichts mit „bösen Russen“ zu tun. So soll es zum Beispiel einen amerikanischen Friedensnobelpreisträger (!) geben, der dem vermuteten Wohl der vielen einige Tausend „wenige“ geopfert hat, indem er ihnen fleißig Drohnen aufs Dach geworfen hat. Und wir reden hier nicht von einem Einzelfall. Die Welt ist nun mal schlecht und mitunter ungerecht. Aber auch das ist ein anderes Kapitel.